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Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können

von Julia Friedrichs

ISBN 9783827014269
Verlag: Berlin Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.03.2021
Preis: € 22,70
Kurzbeschreibung des Verlags:

»Ihr werdet es einmal schlechter haben!«
Die Generation nach den Babyboomern ist die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihre Eltern mehrheitlich nicht wirtschaftlich übertreffen wird. Obwohl die Wirtschaft ein Jahrzehnt lang wuchs, besitzt die Mehrheit in diesem Land kaum Kapital, kein Vermögen. Doch sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten ist schwieriger geworden, insbesondere für die, die heute unter 45 sind. Die Hälfte von ihnen fürchtet, im Alter arm zu sein. Was sind die Ursachen für diesen großen gesellschaftlichen Umbruch, wann fing es an? Julia Friedrichs spricht mit Wissenschaftlern, Experten und Politikern. Vor allem aber begleitet sie Menschen, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, Tag für Tag ins Büro gehen und merken, dass es doch nicht reicht. Sie sind die ungehörte Hälfte des Landes. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte.

FALTER-Rezension
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr

Es gibt so eine Geschichte, die immer wieder erzählt wird, die so versimpelt ist, dass sie richtiggehend falsch ist, und diese Geschichte geht so: Früher gab es eine homogene industrielle Arbeiterklasse, die war einst entrechtet, setzte aber dann faire Löhne, gute Arbeitsbedingungen durch, schaffte den Aufstieg, erwarb Wohlstand, aber irgendwann ging es dann mit ihr bergab. Löhne sanken, Belegschaften schrumpften, Produktionsstandorte wurden verlagert und heute gibt es „die Arbeiterklasse“ nur mehr in Spurenelementen.

Doch die arbeitenden Klassen waren nie so homogen und sie sind nicht verschwunden, sie haben nur ihr Gesicht verändert. „Die working class sieht anders aus als vor hundert Jahren, aber noch immer gilt: Es sind Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben“, schreibt Julia Friedrichs in ihrem Buch „Working Class“. Die Autorin hat mit den verschiedenen Protagonisten dieser Klasse gesprochen, mit Menschen, „für die es keinen Namen gibt“, wie Friedrichs sie nennt. Arbeiterklasse klingt irgendwie falsch nach Fabrik und Fließband, „class populaire“ sagen die Franzosen. Die „einfachen Leute“ eben.

Die Angst der Menschen

Friedrichs, vielfach preisgekrönte Reporterin und Buchautorin (in „Wir Erben“ hat sie etwa die andere Seite des ökonomischen Spektrums porträtiert), bleibt beim Begriff „Working Class“. Working Class, das sind jene, die die Arbeiten verrichten, die wir alle brauchen, von den Pflegern und Pflegerinnen über die Leute am Bau, die im Putzdienst, die Pädagogen mit kleinem Einkommen und prekären Verträgen, das „Dienstleistungsproletariat“. „Gut drei Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 2000 Euro brutto im Monat, obwohl sie Vollzeit arbeiten, zehn Millionen bekommen weniger als zwölf Euro die Stunde“, schreibt sie.

Einer von Friedrichs Protagonisten ist Sait, der seit fast 20 Jahren im Dienste einer ausgegliederten Putzfirma die Berliner U-Bahn-Stationen schrubbt. In den ­80er-Jahren konnte man von so einem Job gut leben, das weiß er von seinem Vater, der als ungelernter Lkw-Fahrer in Deutschland begann, aber „jetzt ist die Gewerkschaft so klein“ – er zeigt zwei Zentimeter zwischen Daumen und Zeigefinger. „Früher waren die Firmen so klein“ – „Und warum ist das so?“ – „Weil die Menschen Angst haben. Wir sind froh, dass wir Arbeit haben.“ 10,56 Euro brutto erhält er die Stunde. Davon soll er seine Frau und seine beiden Kinder erhalten.

Oder Christian. Er hat eine Lehre in einer kleinen Firma gemacht, Bürojob. Eine Zeitlang ging es auf der Leiter noch hinauf, dann blieb er hängen, überarbeitete sich, hatte einen Zusammenbruch, jetzt wurde er endgültig aus der Firma gemobbt. Rüdiger, der als Verkäufer und Kundenbetreuer bei Karstadt anfing, als Warenhäuser noch eine fixe Lebensstellung bedeuteten, ging es nicht viel anders. Aber auch Alexandra und ihr Partner strampeln täglich gegen den Abstieg, obwohl sie Musikschullehrer mit akademischem Abschluss sind. Sie arbeiten auf Honorarbasis, müssen Stunde um Stunde zusammensammeln, damit sich die Raten fürs sowieso nicht besonders teure Eigenheim mit Ach und Krach ausgehen.

Sie alle sind Alleingelassene. Nicht nur, weil sie die Erfahrung machen, dass sie auf sich gestellt sind und man sich auf Solidarität nicht verlassen kann. Ihre Weltdeutungen und ihre Werte und die Kritik, die sie an den Umständen üben, sie stützen sich auf kein kollektives Erleben mehr. Wer die Unbehaustheit und die Verwundungen der heutigen arbeitenden Klassen verstehen will, auch die Respektlosigkeiten, denen die Protagonisten ausgesetzt sind, sollte dieses Buch lesen.

Robert Misik in Falter 20/2021 vom 21.05.2021 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 19, 2021 1:20:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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