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3. Dezember 2019
Seit Beginn der europäischen Integration ist das Versprechen von Frieden und Wohlstand fixer Bestandteil jeder EU-politischen Sonntagsrede. Während zu Beginn die verstärkte Zusammenarbeit an sich im Mittelpunkt gestanden ist, spielt spätestens seit Anfang der 1990er die konkrete Ausrichtung der EU-Politik eine immer größere Rolle. Um das sonntägliche Versprechen von nachhaltigem Wohlstand und Wohlergehen für alle auch umzusetzen, muss der politische Prozess „unter der Woche“ – insbesondere das sogenannte Europäische Semester – konsequent ausgerichtet werden.
Neues Jahrzehnt, neuer Schwung?
Es sind knapp formulierte Sätze in den für die Grundausrichtung der EU-Politik mittelfristig relevanten politischen Leitlinien der designierten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die durchaus aufhorchen lassen. „Ich will, dass Europa noch mehr erreicht, wenn es um soziale Gerechtigkeit und Wohlstand geht. Denn unsere Union fußt auf diesem Gründungsversprechen.“ Der Abschnitt mit der Überschrift „Eine Wirtschaft, deren Rechnung für die Menschen aufgeht“ enthält zudem das politische Versprechen, „das Europäische Semester entsprechend den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung neu aus[zu]richten“ – ein Ziel, das beispielsweise bereits von der „Unabhängigen Kommission für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt“ vorgeschlagen wurde.
Und es sind ambitioniert klingende Sätze in den Ende Oktober vom EU-Rat beschlossenen Schlussfolgerungen zur „Ökonomie des Wohlergehens“, deren Ansagen teils verblüffen. Entgegen der bisherigen ökonomischen Ausrichtung des Rats, der den Fokus in der wirtschaftspolitischen Steuerung in der Praxis primär auf verengte Konzepte von Wettbewerbsfähigkeit und Reduzierung öffentlicher Ausgaben legte, sollen nun etwa „die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt der Politik und der Entscheidungsfindung“ gestellt werden. „Durch die Ökonomie des Wohlergehens wird der in den Verträgen und in der Grundrechtecharta der Europäischen Union verankerte Daseinszweck der Union in den Mittelpunkt gerückt“, heißt es in dem EU-Dokument darüber hinaus. Und in dem Reflexionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“ nimmt die Kommission für die EU in Anspruch, „eine der treibenden Kräfte hinter der Agenda 2030 der Vereinten Nationen“ gewesen zu sein – in deren Rahmen die „Sustainable Development Goals“ (SDGs) entwickelt wurden – und „sich uneingeschränkt zu ihrer Umsetzung verpflichtet“ zu haben.
Es sind Sätze, die symbolische Bedeutung erlangen könnten. Entweder dahingehend, dass sie sich in das Portfolio wohlklingender, doch wenig handlungsleitender Sätze einer deklaratorischen Sprache unverbindlicher EU-Dokumente einreihen. In diesem Fall – wenn künftige politische Entwicklungen diese Aussagen hohl oder gar zynisch klingen lassen – würden sie die Widersprüche der EU-Politik erhöhen und deren Glaubwürdigkeit untergraben. Oder aber diese Sätze werden tonangebend für die politische Agenda. Dann nämlich, wenn aktuelle gesellschaftliche Debatten und Mobilisierung – von Demonstrationen gegen mangelnde Maßnahmen zum Schutz unserer klimatischen Lebensgrundlage bis hin zu Studien über und Protesten gegen massive soziale Ungleichheiten – die Analysen und Ziele der EU-Politik tatsächlich verändern. Dies setzt voraus, Orientierungspunkte zu skizzieren, konkrete Vorschläge zu formulieren und Hindernisse klar zu benennen.
Zaghafte Schritte eines „sozialen Europas“ im Schatten neoliberaler Wirtschaftspolitik
Die Losung eines „sozialen Europas“ wurde zwar immer wieder mit der Ankündigung verbunden, die soziale Dimension der europäischen Politik zu stärken. In diesem Zusammenhang erweiterten über die Jahre mehrere arbeitsrechtliche Mindeststandards den EU-Rechtsbestand, so auch einzelne sozialpolitische Initiativen nach der Proklamation der (rechtlich unverbindlichen) europäischen Säule sozialer Rechte im November 2017.
Bestimmt wird die gesamthafte politische Ausrichtung der EU aber nach wie vor von den Leitzielen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und „schwarze Null“, die tief in der politischen Steuerungsarchitektur der EU sowie im Bewusstsein ihrer Akteure verankert sind. Wesentliche Weichenstellungen in diese Richtung wurden Anfang der 1990er zum einen mit der Einigung auf eine Wirtschafts- und Währungsunion getroffen. Diese enthielt bereits erste Elemente de heutigen Steuerungsrahmens mit dem Fokus auf die Wirtschaftspolitik und hier vor allem auf restriktive Regeln zur Einschränkung nationaler Budgetpolitik. Zum anderen wurde mit dem Weißbuch der EU-Kommission „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“ erstmalig eine Entwicklungsstrategie bis zum Ende des laufenden Jahrzehnts vorgelegt, welche die politische Agenda der kommenden Jahre bestimmen sollte. Die darauffolgenden Weiterentwicklungen des wirtschaftspolitischen Steuerungsrahmens – mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) und seinen unzähligen Überarbeitungen bzw. Verschärfungen sowie der Lissabon- und der EU-2020-Strategie – stellten zumeist ein „more of the same“ dar.
Das aktuelle Europäische Semester: einseitig und technokratisch
Ein wesentliches Instrument, das darauf abzielen soll, die laufende politische Steuerung kohärenter und konsequenter zu gestalten, ist das sogenannte Europäische Semester. Seit 2011 sollen die wirtschaftspolitischen Aktivitäten auf europäischer und nationaler Ebene – theoretisch auf Basis der mittelfristigen EU-2020-Strategie – zusammengeführt und besser abgestimmt werden, sowohl inhaltlich als auch zeitlich. Im Laufe der Jahre wurden die Analysen und Empfehlungen in der Praxis auf weitere Bereiche wie die Beschäftigungs- und Sozialpolitik ausgeweitet. Gestartet wird im Herbst mit den Prioritäten für die EU bzw. die Eurozone insgesamt, konkret mit dem sogenannten Jahreswachstumsbericht und weiteren von der EU-Kommission vorbereiteten Analysen und Berichten. Nach Diskussionen und den formellen Beschlüssen im Rat folgt eine länderspezifische Phase: Abermals eingeleitet von Kommissionsdokumenten (insbesondere den Länderberichten) folgen die Pläne der Mitgliedstaaten für wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Maßnahmen und schließlich vor der Sommerpause die Empfehlungen, gewissermaßen „Politikaufträge“ (einschließlich der Auflagen aus dem SWP) seitens der EU an diese.
In seiner jetzigen Form ist das Europäische Semester ein mittlerweile etablierter Abstimmungsprozess und somit ein wesentliches Instrument der Politikgestaltung. In der Praxis bringt das derzeit praktizierte Europäische Semester jedoch drei Hauptprobleme mit sich:
- Anstatt den Fokus auf nachhaltigen Wohlstand und Wohlergehen basierend auf einer umfassenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Perspektive zu rücken, steht eine – noch dazu einseitig auf BIP-Wachstum, Wettbewerb und Austerität ausgelegte – Wirtschaftspolitik im Vordergrund.
- Der Prozess ist technokratisch und wenig partizipativ: Weder das Europäische noch die nationalen Parlamente spielen eine entscheidende Rolle, Sozialpartner und andere wichtige Interessengruppen werden bestenfalls angehört, abweichenden Meinungen jedoch kaum Raum gegeben.
- In der länderspezifischen zweiten Semesterhälfte gerät die gesamteuropäische Orientierung in der Analyse oftmals verloren. Beispielsweise kommt in den Länderanalysen kaum vor, was im einzelnen Land für eine aus gesamteuropäischer Sicht empfehlenswerte Lohn- oder Budgetpolitik getan werden kann. Stattdessen bleibt die Darstellung oft darauf reduziert, wie das einzelne Land gemessen an den anderen Einzelstaaten oder bestimmten Vorgaben abschneidet.
Diese Probleme gilt es zu überwinden, soll das Europäische Semester als Instrument für nachhaltigen Wohlstand und Wohlergehen genutzt werden. Auch wenn die sogenannte europäische Säule sozialer Rechte erste Verbesserungen durch eine stärkere Berücksichtigung sozialpolitischer Elemente brachte, braucht es nach wie vor eine umfassende Neuausrichtung nicht nur des Europäischen Semesters im engeren Sinn, sondern der wirtschaftspolitischen Steuerungsarchitektur insgesamt.
Sieben Punkte erscheinen uns besonders lohnend, da sie breite gesellschaftliche Allianzen (z. B. zwischen dem Europäischen und nationalen Parlamenten, Sozialpartnern, der Zivilgesellschaft und den BürgerInnen) ermöglichen und damit die europäische Debatte insgesamt beflügeln könnten.
Sieben Vorschläge für eine sozial-ökologische Neuausrichtung des Europäischen Semesters
1) Das Europäische Semester demokratischer gestalten
Während für die meisten europäischen Entscheidungen die Zustimmung des EU-Parlaments erforderlich ist, spielt es im Europäischen Semester formal keine Rolle. Im Vorfeld zur Wahl der neuen EU-Kommission hat ihre neue Präsidentin aber wenigstens eine stärkere informelle Einbindung in Aussicht gestellt.
Eine tatsächlich demokratischere Ausgestaltung sollte aber noch weitergehen. Auch wenn die Dokumente im Europäischen Semester (Mitteilungen, Vorschläge für Ratsempfehlungen) gemäß den Verträgen keine Zustimmung des EU-Parlaments erfordern, hindert die Kommission niemand daran, ihre Ausrichtung bereits jetzt von Parlamentsbeschlüssen abhängig zu machen. So könnte sich die Kommission verpflichten (und das Europäische Parlament dies einfordern), die Inhalte von Entschließungen der einzigen direkt gewählten EU-Institution bei der Erstellung von Kommissionsdokumenten im EU-Semester zu berücksichtigen.
Darüber hinaus sollen die Sozialpartner und andere zivilgesellschaftliche Akteure (wie in diesem Zusammenhang etwa der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und die Multi-Stakeholder-Plattform zu den SDGs) nicht nur angehöhrt, sondern tatsächlich einbezogen werden, indem Vorschläge aufgegriffen werden.
2) Wohlstand und Wohlergehen der Menschen (und ihrer Lebensumwelt) als zentrales Ziel verankern
Die Förderung des Wohlergehens ist in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union verankert und stellt gemäß den Ratsschlussfolgerungen zur „Economy of wellbeing“ den „Daseinszweck der Union“ dar. Das Wohlergehen der Menschen (bzw. dessen nachhaltige Entwicklung im Sinne der SDGs) muss daher auch das zentrale Ziel des Europäischen Semesters werden.
Das müsste auch in den verwendeten Begriffen zum Ausdruck kommen. Anstelle des bisherigen „Jahreswachstumsberichts“ als Anstoß des Koordinierungsprozesses braucht es vielmehr einen „Jahreswohlstandsbericht“. Darüber hinaus muss sich dieser Fokus kohärent durch sämtliche Analysen und Empfehlungen durchziehen. An die Stelle der bisher verengten Reformprioritäten, die oftmals isoliert von zentralen gesellschaftlichen Zielen auf die Anhebung einzelner Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt an sich fokussieren, muss eine Analyse der Faktoren treten, die Wohlstand und Wohlergehen der Menschen verhindern bzw. fördern.
3) Debatte und Analysen, ob zentrale Ziele durch andere EU-Politiken untergraben werden
Es ist eine wichtige Ansage, das Europäische Semester an den SDGs neu auszurichten. Aber dies muss sich auch in anderen EU-Politikbereichen widerspiegeln. Zum Beispiel würde eine solche Ausrichtung nahelegen, verbindliche und sanktionierbare Arbeits- und Umweltstandards in EU-Handelsabkommen zu verankern und auf privilegierte Investorenrechte zu verzichten. Die immer wieder mitschwingenden impliziten Definitionen von Wettbewerbsfähigkeit im Sinne von Standorten mit möglichst niedrigen Produktionskosten müssen klar überwunden und durch adäquate, auf gesellschaftlichen Fortschritt abzielende Ausrichten ersetzt werden.
Ein besonders zentrales Feld ist die Budgetpolitik. Sollen etwa Staatseinnahmen und -ausgaben stets ausgeglichen sein (was selbst bei einem verengten Blick auf eine stabile Staatsschuldenquote nicht notwendig ist), geht das zu Lasten anderer Ziele, die nicht weniger relevant sind. Zielkonflikte sollten transparent gemacht und politisch gelöst werden – nicht mit Verweis auf einseitige – und willkürlich festgelegte – Regeln vom Tisch gewischt werden. Was hilft uns eine stabile Staatsschuldenquote deutlich unter 60 % des BIP, wenn die Kehrseite eine stärkere Erhitzung des Planeten ist, weil mit dem dringend benötigten Ausbau des öffentlichen Verkehrs und der besseren Isolierung von Gebäuden zu spät begonnen wurde?
4) Unterziele bestimmen, Zielkonflikte debattieren und ambitionierte Teilziele festlegen
Eine (Neu-)Ausrichtung in Richtung eines umfassend verstandenen Wohlergehens der Gesellschaft macht deutlich, dass die EU-Politik mehrere miteinander verbundene Ziele verfolgen muss. Innerhalb des Konzepts eines neuen „magischen Vielecks wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik“, das auf eine ausgewogene wohlstandsorientierte Politik abzielt, sind dies in erster Linie fair verteilter materieller Wohlstand, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, hohe Lebensqualität und eine intakte Umwelt. Ökonomische Stabilität gilt demnach als unterstützendes Ziel der übergeordneten Ausrichtungen.
Den größten Handlungsbedarf für Österreich verortet der aktuelle AK-Wohlstandsbericht bei den Indikatoren „Vollbeschäftigung und gute Arbeit“ sowie „intakte Umwelt“. Werden unterschiedliche Ziele gegeneinander abgewogen, sollte der Fokus für Österreich im Sinne einer evidenzbasierten Politik insbesondere auf Fortschritten in diesen Bereichen liegen. Von der letzten Bundesregierung wurden allerdings mehrere Maßnahmen gesetzt, die Fortschritten in Richtung dieser Ziele im Weg stehen, anstatt sie zu begünstigen. So wurden die österreichischen Regierungspläne zur Reduktion des CO2-Ausstoßes von der EU-Kommission als besonders ungenügend bewertet. Und indem im vergangenen Jahr die Höchstarbeitszeiten erhöht, das diesbezügliche Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats abgeschafft und die Mindestruhezeiten im Tourismus verkürzt wurden, wurden Rahmenbedingungen gesetzt, die einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen entgegenstehen.
Das Auslaufen der Europa-2020-Strategie sollte nun Anstoß dafür sein, im Rahmen einer auf nachhaltiges Wohlergehen und hohe Lebensqualität abzielenden Strategie bis 2030 ambitionierte Teilziele festzulegen. Dazu zählen effektive Maßnahmen, um Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeit sowie Armut und soziale Ausgrenzung zu bekämpfen, die in einen sozial gerechten Übergang zu einer ressourcenschonenden Produktionsweise eingebettet sind.
5) Geeignete Indikatoren zur Orientierung heranziehen
Um zu überprüfen, ob Fortschritte in Richtung der gemeinsamen Ziele erreicht werden, braucht es aussagekräftige Kennzahlen zur Orientierung. Nur so können Abweichungen rechtzeitig erkannt und im politischen Prozess bearbeitet werden.
Die reine Verfügbarkeit von Indikatoren garantiert jedoch noch nicht, dass politische Akteure diese auch in Entscheidungsprozessen heranziehen. Dies zeigt sich etwa anhand des durchaus gut aufbereiteten, aber – insbesondere im Europäischen Semester – wenig relevanten SDG-Scoreboards von Eurostat. Die für Wohlergehen relevanten Kennzahlen müssen deshalb direkt im Prozess verankert sein. Diese sollten mit mittelfristigen Zielwerten versehen werden, was es erleichtern würde, den Fokus auf jene Indikatoren zu legen, bei denen Länder am stärksten von den wohlstandsorientierten Zielen abweichen.
6) Analyse vorgeschlagener Maßnahmen auf ihre sozial-ökologische Wirkung
In einem evidenzbasierten Steuerungsprozess müssen vorgeschlagene Maßnahmen eingehend analysiert werden – auch mit Blick auf ihre möglichen sozialen und ökologischen Auswirkungen. Schließlich könnte von einer Neuausrichtung des Europäischen Semesters auf die nachhaltigen Entwicklungsziele keine Rede sein, wenn die Kommission und der EU-Rat Maßnahmen ohne abfedernde begleitende Schritte nahelegen oder einmahnen, die sich negativ auf zentrale Unterziele eines nachhaltigen Wohlergehens der Menschen auswirken würden.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang etwa, dass die Kommission regelmäßig auf eine Empfehlung des Rates an Österreich drängt, das gesetzliche Pensionsalter mittels eines an die durchschnittliche Lebenserwartung gekoppelten Automatismus zu erhöhen. Ignoriert wird dabei, dass jene Menschen, die es nicht schaffen, bis zum erhöhten Pensionsalter einen Arbeitsplatz zu haben – etwa weil sie zuvor gekündigt wurden –, in diesem Szenario in der Arbeitslosigkeit landen oder gekürzten Pensionsleistungen erhalten würden. Ebenso ausgeblendet wird die Tatsache, dass Menschen in niedrigeren Einkommensgruppen eine deutlich niedrigere Lebenserwartung als jene mit hohen Einkommen haben. Angesichts der Notwendigkeit, ein angemessenes Einkommen im Alter für die heute Jüngeren zu gewährleisten, ist es daher höchst fahrlässig, die Mitgliedstaaten zu drängen, weniger stark in öffentliche, solidarisch finanzierte und allgemein zugängliche Pensionssysteme zu investieren. Und ebenso hat es mit einer Ausrichtung am nachhaltigen Wohlergehen der Menschen wenig zu tun, implizit zu empfehlen, die Altersvorsorge stärker von der Möglichkeit abhängig zu machen, aus der eigenen Geldbörse in private Vorsorgeprodukte zu finanzieren, deren (oft mit überzogenen Erwartungen versehenen) Rendite vom Auf und Ab der Finanzmärkte abhängen.
7) Raum für Debatte zur sozial-ökologischen Transformation schaffen
Soll das Europäische Semester tatsächlich neu auf das Ziel eines nachhaltigen Wohlergehens der Menschen ausgerichtet werden, dann gilt es, in diesem Rahmen darüber zu diskutieren, welche Politikoptionen geeignete Einstiegsprojekte in Richtung der notwendigen sozial-ökologischen Transformation sein können.
Dies bedeutet auch, sich im Europäischen Semester nicht mehr in einzelnen Details wie etwa branchenspezifischen Dienstleistungszulassungsbestimmungen zu verlieren. Vielmehr müssen durch den klaren Fokus auf das menschliche Wohlergehen die richtigen Fragen auf die identifizierten Probleme gestellt werden:
Wenn diese und ähnliche Fragen im Mittelpunkt des Europäischen Semesters stehen, könnte man tatsächlich von einer Ausrichtung an nachhaltigem Wohlergehen sprechen.
Fazit
Die auf EU-Ebene formulierten Ziele, „die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt der Politik und der Entscheidungsfindung“ zu stellen und „das Europäische Semester entsprechend den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung neu aus[zu]richten“, dürfen keine leeren Worte bleiben. Würde dies geschehen, würde das Vertrauen in die Politik auf der Ebene einer ohnehin bereits stark gespaltenen Union zusätzlich geschwächt werden.
Für eine sozial-ökologische Neuausrichtung des europäischen Steuerungsrahmens ist eine Fokussierung auf nachhaltigen Wohlstand und Wohlergehen im Europäischen Semester notwendig. Diese muss klar erkennbar werden.
Die Gelegenheit für erste Einstiegsprojekte in diese Neuausrichtung besteht bereits jetzt. Die Kommission sollte einen – umfassend mit vielen Akteuren erörterten und auf einer Ausrichtung des EU-Parlaments basierenden – Jahreswohlstandsbericht vorlegen, der diesem Namen gerecht wird. Die für Februar 2020 erwarteten Länderberichte und die nächstes Frühjahr beschlossenen Empfehlungen können zentrale Herausforderungen für nachhaltige Entwicklung in den Blick nehmen – und auf Fehlschlüsse, die von diesem Ziel wegführen, verzichten.
Bis Herbst 2020 sollten diese Schritte dann in einen kohärenten Rahmen zusammengeführt werden, um dazu beizutragen, dass ein künftiger wirtschafts- und sozialpolitische Steuerungsrahmen der EU tatsächlich in die richtige Richtung steuert.
Derartige Konzepte in Papieren und auf Bildschirmen entstehen zu lassen, wäre ein dringend notwendiger Schritt. Um sie auch zum Leben zu erwecken, braucht es aber zudem – und vor allem – öffentlichen Druck und gesellschaftliche Mobilisierung. Schließlich muss eine Politik, die den Alltag der Menschen verbessert, von Menschen erstritten werden – von den Vielen in der Gesellschaft, deren politisch mächtigste Ressource kein großes Privatvermögen ist, sondern deren Potenzial, sich gemeinsam und mit lauter Stimme in das, was sie betrifft, einzumischen.
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Georg Feigl ist Referent für öffentliche Haushalte und europäische Wirtschaftspolitik in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien; Mitorganisator des europäischen TUREC-Netzwerks (Trade-Union Related EConomists); Herbst 2013: Visiting Researcher bei der Fundación 1° de Mayo in Madrid; fallweise Universitätslektor.
Nikolai Soukup ist Teil des A&W-blog-Redaktionsteams und Referent in der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien.