Karl Renner – Kanzler, Bundespräsident und Arbeitersänger
Am Silvestertag 1950, nur 17 Tage nach seinem 80. Geburtstag, starb Dr. Karl Renner, einer der bedeutendsten österreichischen Politiker des 20. Jahrhunderts. Im österreichisch-mährischen Untertannowitz (heute Dolní Dunajovice) geboren (er und sein Zwillingsbruder Anton waren das 17. und 18. Kind einer armen Weinbauernfamilie), konnte er dank eines Stipendiums in Nikolsburg (heute Mikulov) maturieren, mußte aber den zweistündigen Schulweg aus Geldmangel zu Fuß zurücklegen. Danach studierte er in Wien Jus, war 1895 Mitbegründer der sozialdemokraischen „Naturfreunde“, und als junger Beamter im „Reichsrat“ (Parlament) veröffentlichte er 1899 eine Arbeit zur österreichischen Nationalitätenfrage. (Dort vertrat er u. a. vehement die Ansicht, die Frage der nationalen Zugehörigkeit nicht von territorialen Umständen wie dem Wohnort, sondern von „persönlichen“ Aspekten beantworten zu lassen.) Zehn Jahre später verfaßte er wesentliche Abhandlungen über das Genossenschaftsrecht, nachdem er 1907 Mitglied des Reichsrates geworden war. Und in der Folge nahm er eine immer wesentlichere Rolle in der österreichischen Politik ein, konnte mit seinen Ideen zur Lösung der Nationalitäten aber nicht durchdringen. „Privat“ lebte er mit Frau und Tochter in seinem Landhaus in Gloggnitz und gab sich als Mitglied des Arbeitergesangvereines „Almbleamal“ Hirschwang der Musik hin.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, am 30. Oktober 1918 von der Provisorischen Nationalversammlung für „Deutschösterreich“ zum Staatskanzler gewählt, unterzeichnete er für sein Land am 19. September 1919 in Saint- Germain den Friedensvertrag, den er als Diktat empfand. Dies vor allem, weil er wie viele andere auf die von dem USA-Präsidenten Woodrow Wilson (in seinen „14 Punkten“) zugesagte „autonome Entwicklung“ und das Selbstbestimmungsrecht der „Völker Österreich-Ungarns“ gehofft hatte. So wie er dachten viele andere; u. a. stellte der Vorsitzende des ÖASB, Richard Fränkel, beim Verbandstag vom 19. September 1920 bedauernd fest, „daß durch die gewaltsame Abnahme österreichischer Gebiete wir von den 26 Gauen 13 Gaue, beziehungsweise von den 385 Verbandsvereinen 190 verloren haben, die nun anderen Staaten angehören“.
Im selben Jahr verfaßte Renner den Text zur (inoffiziellen) Hymne „Deutschösterreich, du herrliches Land“, den dann Wilhelm Kienzl vertonte. (Diese Hymne wurde 1929 durch die auf die Melodie von Joseph Haydns „Kaiserhymne“ gesungene, noch deutschnationalere „christlichsoziale“ Ottokar-Kernstock-Hymne „Sei gesegnet ohne Ende“ ersetzt.)
Auch die Arbeitersänger in der neu gegründeten Tschechoslowakei empfanden wie der Mährer Karl Renner. So begrüßte der Abgesandte der deutschsprachigen Arbeitersänger in der Tschechoslowakei, Franz Uhlik, den österreichischen Verbandstag vom 25. September 1926 mit den folgenden Worten: „Wenn uns auch eine starke Macht von Ihnen losgerissen hat, so können Sie doch versichert sein, daß das Zusammengehörigkeitsgeühl, so wie es einmal bestanden hat, auch heute noch besteht. Auch wir fühlen uns trotz der Grenzen immer noch so wie seinerzeit. Sie können versichert sein, daß die Zeit diese Trennungswunde nicht heilt.“
Dieses „Nationalbewußtsein“ sowie einige Äußerungen gegen das „jüdische Großkapital“, die aber von vielen Historikern kaum als wirklich „antisemitisch“, sondern vor allem als „antikapitalistisch“ gesehen werden, brachten Karl Renner in letzter Zeit in Mißkredit. Dabei galten gerade die österreichischen Sozialdemokraten bei den „Rechten“ jener Zeit immer wieder als „Judenpartei“; und „(deutsch)national“ waren damals mehr oder weniger alle. Betrachten wir doch einen wesentlichen Passus aus dem am 29. November 1926 beschlossenen Parteiprogramm der „Christlichsozialen“:
„Die christlichsoziale Partei hält an der Überzeugung fest, daß das Zusammenwirken von Kirche und Staat und deren gegenseitige Förderung im Interesse beider gelegen ist [...]. Als national gesinnte Partei fordert die christlichsoziale Partei die Pflege deutscher Art und bekämpft die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete.“ – In den Jahren der austrofaschistischen Diktatur florierte bei den „Christlichsozialen“ sogar eine österreichische Spezies des (angesichts der „jüdischen Jesus-Mörder“ von der katholischen Kirche zumindest nicht bekämpften) Antisemitismus, die sich zwar nicht todbringend, aber doch deutlich lebenserschwerend für die Betroffenen auswirkte.
Dagegen nimmt sich das am 3. November 1926 beschlossene Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs harmlos aus; in ihr ist neben antikapitalistischen sowie allgemein (internationalen) gesellschaftspolitischen Anliegen zwar auch eine deutschnationale Ausrichtung vorhanden, keineswegs aber die im „christlichsozialen“ Parteiprogramm offen bekundete antisemitische Komponente.
„Mächtige Kartelle diktieren dem ganzen Volk die Warenpreise. Große Industriekonzerne, die ganze Produktionszweige stillzulegen vermögen, zwingen den Regierungen und Volksvertretungen ihren Willen auf. [...] Das ganze arbeitende Volk gerät so unter die drückende Herrschaft einer kleinen Zahl von Kapitalsmagnaten [...]. Die sozialistischen Arbeiterparteien haben die Aufgabe, die Arbeiter aller Länder zum gemeinsamen Kampfe zu vereinigen und die Sonderinteressen der Arbeiter jedes einzelnen Landes ein- und unterzuordnen den Gesamtinteressen der internationalen Arbeiterklasse [...]. Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluß Deutschösterreichs an das Deutsche Reich als notwendigen Abschluß der nationalen Revolution von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluß an die Deutsche Republik.“
Dieser Anschluß-Passus, der vor allem auf die Stärkung der Gewerkschaften durch die (damals zahlreichen) „deutschen Brüder“ zielte, wurde dann im Oktober 1933 „angesichts der durch den Faschismus im Deutschen Reich veränderten Lage des deutschen Volks“ gestrichen. – Nicht verhohlen sei allerdings, daß der „mährische Österreicher“ Karl Renner den tatsächlichen „Anschluß“ vom März 1938 „als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St-Germain und Versailles“ sah, wenngleich er die Methode, mit der er zustandekam, keineswegs billigte.
In der „Arbeiter=Sänger=Zeitung“ (wie sie damals hieß), die seit 1919 immer wieder die „Tschechisierungspolitik“ in den „deutschen Sprachgebieten“ sowie die „unter dem Schlagwort ,Bodenreform‘ durchgeführten Enteignungen deutschen Grundbesitzes und die Zuteilung des Grundes an Tschechen zu verhältnismäßig viel zu niedrigen Preisen“ geißelte, gab es von Renner natürlich keine derartigen Äußerungen. Hingegen schrieb er für die am 1. August 1928 veröffentlichte Festnummer „Josef Scheu zum Gedenken“ („60 Jahre Lied der Arbeit“) nach einer Erinnerung an die großen Toten der Sozialdemokratie die folgenden Worte nieder:
„Das Arbeiterlied von Josef Scheu ist geblieben. Millionen junger und alter Proletarier haben es in unzähligen Versammlungen gesungen, haben aus seinen Klängen Kraft und Mut geschöpft. Kampftage, Siegesfeste und Totenfeiern hat das Lied der Arbeit eingeleitet und beschlossen, einen unabsehbaren Zug von Menschen und Ereignissen haben seine Töne begleitet, das Lied ist geblieben. Das Lied ist unsterblich geworden. Es lebt und wird leben für und für!“
Renner, den die christlichsozialen Austrofaschisten 1934 einige Monate inhaftierten, zog sich danach nach Gloggnitz zurück, wo er – wie auch in den Jahren des Zweiten Weltkriegs – wissenschaftlichen Studien und literarischen Arbeiten nachging; vor allem „kam ihm“ laut Adolf Schärf, der 1954 seine wichtigste Schrift, „Das Weltbild der Moderne“, herausgab, der Gedanke, nach Art des römischen Dichters Lukrez ein Lehrgedicht über die Entstehung des modernen Weltbildes zu verfassen“: ein 400seitiges Epos in Jamben, das uns „einen der größten Österreicher von einer anderen Seite kennenlernt“, einen Österreicher, dessen Verdienste – wieder laut Schärf – „die Aufrichtung der Ersten Republik aus den Trümmern des Habsburgerreiches“ sowie „die Wiedererrichtung der Zweiten Republik und ihre Einigung sind“; unterzeichnete Renner doch am 27. April 1945 die österreichische Unabhängigkeitserklärung, wurde Staatskanzler und schließlich am 20. Dezember Bundespräsident.
Die Zeitung „Der österreichische Arbeitersänger“ bekräftigte nach Karl Renners Tod, daß er „uns“ immer „in lebendiger Erinnerung“ bleiben wird: „als der Sohn eines Kleinbauern, als der blendende Redner, als hervorragender Schriftsteller, [...] der feinsinnige Poet, der uns Arbeitersängern das ,Sonntagslied‘, von Scheu vertont, und ,In die Berge‘, von Cizek vertont, schenkte und uns sein ganzes Leben freundschaftlich verbunden blieb. Der einfache, schlichte Mensch, dem Österreich und seine Arbeiterklasse so viel verdankt, wird nicht vergessen werden!“
Abschließend soll Renner selbst zu Wort kommen, und zwar mit seinem großen Epos „Das Weltbild der Moderne“, einer Geschichte der Menschheit und der Weltanschauungen; seine Groß-Kapitel lauten: „Geistiges Erbgut“, „Die Natur“ sowie „All und Erde“, in dessen „Ausklang“ Worte zu lesen sind, die in geradezu verblüffender Weise Aktualität besitzen:
„Verzagt nicht, wenn in diesem Augenblick
Die Erde ächzt in Leid und Mißgeschick;
Und stürzt die Welt im kriegerischen Grauen,
Die Wissenschaft wird wieder auf sie bauen.
Vereintes Werk von vielen tausend Geistern
Wird auch die Rätsel der Gesellschaft meistern.“
Und wer Karl Renner Einseitigkeit oder gar Rassismus vorwerfen will, möge zuerst dieses Epos (und zwar zur Gänze) lesen, um das Denken und das Weltbild des großen Österreichers zu verstehen; vorher hat er/sie ihn nicht zu kritisieren. Vier Verse sollen dies abschließend dokumentieren:
„Den Acker pflügt der Heide, der Moslem und der Christ,
Nicht Bibel und nicht Koran beschränkt des Händlers List,
Der Päpste Zinsverbote verhindern nicht den Wucher,
Und Hab- und Herrschsucht bleiben die mächtigsten Versucher.“
Text: Univ.-Prof. Dr. Hartmut Krones
Bilder: ÖASB, Wienbibliothek im Rathaus