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Ein optimistischer Wutanfall

von Michel Serres

Übersetzung: Stefan Lorenzer
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 80 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.03.2019
Preis: € 12,40

Rezension aus FALTER 11/2019

Die gute alte Zeit war meistens eher schrecklich

Die Franzosen scheinen den Österreichern und besonders den Wienern nicht unähnlich zu sein. Glaubt man dem Philosophen und Mitglied der renommierten Académie française Michel Serres, sind sie ein Volk von Nörglern, besonders, wenn sie älter werden. Also potenziert sich das Phänomen mit dem Ansteigen der Lebenserwartung.

Worüber raunzen die Franzosen? Über alles! Denn früher, da war alles besser. Diese Haltung lässt dem selbst bereits 88-Jährigen nun den Kragen platzen. Unter dem Titel „Was genau war früher besser?“ leistet er sich einen genussvollen Wutanfall. Denn das meiste war seiner Meinung nach entschieden schlechter: die Lebensdauer, die Medizin, Arbeit, das Reisen, die sozialen Beziehungen, die Kommunikation – und vor allem: der Krieg.

Serres wuchs in einer Schifferfamilie an der südwestfranzösischen Garonne auf. Seine Familie hatte jahrhundertelang nichts als Krieg gekannt. Dieser kostete nicht nur Millionen Tote, sondern brachte auch eine ungesunde Erregung und Misstrauen in das private Leben. Dagegen lobt Serres die „neutrale Beiläufigkeit“ und „zivile Unaufgeregtheit“ der heutigen Beziehungen.

Als Gegenpart zum von ihm so genannten „Meckergreis“, der der guten alten Zeit und vergangener nationaler „Größe“ nachtrauert, dient ihm eine Vertreterin der Enkelgeneration namens „Däumelinchen“. Sie verteidigt Serres so entschlossen wie wortgewaltig gegen die Anschuldigungen von Verweichlichung und des überzogenen Handykonsums.

Plastisch erzählt er von seiner Kindheit: dem Wäschewaschen zweimal im Jahr, dem schweißtreibenden Steineschaufeln, dem lebensgefährlichen Transport eines neuen Krans durch halb Frankreich, vom Spott, den ihm sein okzitanischer Akzent in Paris eintrug, von der mangelnden sexuellen Aufklärung und den Maden im selbstgemachten Speck. Nur eines hat im Laufe der Zeit gelitten: „unser Schönheitssinn“, etwa in der Zone zwischen Stadt und Land. Eine erfrischende, Hoffnung machende Lektüre, die auch dazu geeignet wäre, „Däumelinchen“ das Jammern abzugewöhnen.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2019 vom 15.03.2019 (S. 34)

Posted by Wilfried Allé Sunday, March 31, 2019 10:24:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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