von Bernd Orfer
Verlag: |
Falter Verlag |
EAN: |
9783854394686 |
Reihe: |
Kultur für Genießer |
Umfang: |
200 Seiten mit ganz neuen Wanderungen |
Erscheinungsdatum: |
02.04.2012 |
Preis: |
€ 19,90 |
Der Wanderprofi Bernd Orfer beschreibt 35 Touren, vom waldreichen Mariazeller Land bis zu den sanften Hügeln des Weinviertels, von den felsigen Wänden des Hochkars und der Rax bis in die Donauauen östlich von Wien und in das Burgenland. Für Leser, die mit Muße die Gegend erkunden und sich an der Landschaft erfreuen wollen.
Das Buch „Wandern in Ostösterreich 3” gliedert sich in die vier Kapitel „Wienerwald und Donautal”, „Vor- und Hochalpen”, „Wald- und Weinviertel” und „Östlich der Leitha”. Neben der Beschreibung der einzelnen Routen weist der Autor auch auf die Besonderheiten der verschiedenen Gebiete hin, erzählt Geschichten und gibt hilfreiche Tipps.
Angaben zu Wegroute, Gehzeit, Höhendifferenz und des notwendigen Kartenmaterials sowie Informationen über Schutzhütten und Einkehrmöglichkeiten ergänzen den Band. Zudem ist jeder Tour eine übersichtliche Karte mit der eingezeichneten Route vorangestellt.
Rezension aus FALTER 31/2014
Wo der Gipfel ein Gupf ist
Landpartien (1): Die Rax ist Wiens Hausberg. Sie ist wild wie die Dolomiten und belohnt den Geduldigen durch romantische Aufstiege
Es kann schon vorkommen, dass man es nicht bis nach oben schafft. Etwa wenn die Sonne bereits in den Morgenstunden unerträglich heiß ist und der Steig sich in unzähligen Serpentinen in die Höhe schlängelt, sodass die Stimme der Vernunft laut wird. Warum tust du dir das an? Zurück also hinunter ins Tal, wo das kalte Bachwasser Abkühlung verspricht. Dieses alpine Mikrodrama spielte sich nicht auf einem Tiroler 3000er ab, sondern auf der Rax, 80 Autominuten von Wien entfernt, am Sonntag vorletzter Woche.
Als ich aus Südtirol zum Studium in die Bundeshauptstadt kam, machte ich mich über das lustig, was hier Berg heißt: Spittelberg oder Küniglberg. Als ich dann zum ersten Mal vom Höllental aus auf die Rax wanderte, wurde ich eines Besseren belehrt. Die Kalkfelsen erinnerten an die Dolomiten, Eisenleitern sorgten für gehtechnische Abwechslung. Eine Gruppe von Gämsen kraxelte einen von blühenden Alpenrosen gesäumten Schuttkegel hinauf – die perfekte Gebirgsidylle.
Die Rax ist ein Bergmassiv an der Grenze zwischen Niederösterreich und der Steiermark. Man erreicht sie auch recht gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Zug hält in der Station Payerbach-Reichenau, dann geht es mit dem Bus weiter. Am einfachsten kommt man von Hirschwang mit der Seilbahn hinauf. Acht Minuten dauert die Seilbahnfahrt, von der Bergstation führen zahlreiche Wege durch die weitläufige, von Latschenkiefern bewachsene Almlandschaft. In regelmäßigen Abständen gibt es Berghütten, wo der Wanderer essen und auch übernachten kann.
Die Rax ist kein Berg wie aus dem Bilderbuch. Der Gipfel ist keine Spitze, sondern ein Gupf, die auf 2007 Metern gelegene Heukuppe am südwestlichen Rand des Massivs. Oben wartet auch kein Kreuz wie auf dem Ölberg in Jerusalem, dieser Urszene aller leidvollen Aufstiege, sondern ein steinernes Häuschen.
Gipfelstürmer, die ein mechanisches Rauf-Runter gewohnt sind, sind hier fehl am Platz. Das wahre Geheimnis der Rax bleibt auch jenen verborgen, die die Direttissima mit der Seilbahn wählen. Dieser Berg braucht Geduld, erschließt sich nur jenen, die einen der vielen Wege aus dem Tal in die Höhe wählen. Nicht der Gipfel ist das Ziel, sondern die unzähligen Varianten des Aufstiegs – und die landschaftlich reizvollen Querungen auf dem Hochplateau.
Ein wichtiger Ausgangspunkt ist das Preiner Gscheid (1070 m), eine Bushaltestelle am südlichen Rand des Bergmassivs. Von hier brechen jene auf, die schnurstracks auf die Heukuppe wollen. Zur Auswahl stehen einfache Wege wie der Reißtalersteig oder Klettersteige, die auch für Anfänger mit entsprechender Ausrüstung kein Problem sind.
Der bekannteste Klettersteig, den man vom Preiner Gscheid aus erreicht, ist der Haidsteig. Er führt nicht zur Heukuppe hinauf, sondern bis zum Gipfel der eindrucksvoll in die Höhe ragenden Preiner Wand (1783 m). Er hat einige schöne Passagen, in denen die Bergsteigerin ein Gefühl für die Eigenheiten eines Klettersteigs bekommt.
Klettersteiggehen ist wie Leitersteigen mit Reißleine. Man zieht einen Gurt an, an dem ein kurzes Sicherungsseil hängt. An den exponierten Stellen gibt es Leitern oder Stahlklammern, über die der Wanderer hinaufsteigt. Parallel dazu sind Stahlseile befestigt, in die die Geherin die beiden am Sicherungsseil befestigten Karabiner einhakt. Wenn sie ausrutscht, fällt sie nicht tief; der Sitzgurt stoppt den Sturz. Für Nichtkletterer ist das die einzige Möglichkeit, sich in hunderte Meter tiefe Felsabstürze wie die Preiner Wand hineinzuwagen.
Der Haid-Steig vereint auf 400 Höhenmetern alles, was den Reiz des Klettersteigens ausmacht: Wandquerungen, lange Leitern und sogar einen Kamin, bei dem man Tritte und Griffe im Felsen suchen muss. Beim Blick in die Tiefe kann einem schon schwindlig werden, aber man weiß ja, der Gurt hält.
Meine Lieblingstour auf die Rax ist der Törlweg, der in Edlach, einige Busstationen vor dem Preiner Gscheid, anfängt und zum Erzherzog-Otto-Schutzhaus, kurz: "Otto-Haus", führt. Man hat hier einen schönen Ausblick auf den gegenüberliegenden Schneeberg und hinunter in das Tal von Prein. Die Wandernden queren blühende Wiesen, finden Himbeerstauden; die Lärchen spenden Schatten bis fast ganz hinauf. Und im späten August blühen ganz oben auch noch die Edelweiß.
Den Törlweg gab es bereits, bevor 1925 die Rax-Seilbahn gebaut wurde. Es war der direkte Weg hinauf zu dem 1893 eröffneten Otto-Haus (1644 m). Wer mit dem Auto unterwegs ist, kann sich den ersten Abschnitt sparen und bei der Pension Knappenhof (769 m) parken, die vor kurzem vom Industriellen Hans Peter Haselsteiner hergerichtet wurde. Gäste mit Anzeichen von Burnout finden hier einen Rückzugsort.
Der Name Törlweg geht auf ein natürliches Felstor am Ende des Aufstiegs zurück. Hier beginnen die Almwiesen, zum Otto-Haus ist es dann nicht mehr weit. Auf dem Schutzhaus ist eine Tafel befestigt, die an den Psychoanalytiker Sigmund Freud erinnert. Freud ging den Törlweg von seinem Sommerfrischehaus in Reichenau dreimal die Woche herauf. Es hat sich gelohnt.
Denn im Sommer 1893 wandte sich die Schwester des Wirts und Rax-Pioniers Camillo Kronich, Aurelia Kronich, an den Gast. "Ist der Herr ein Doktor?", fragte sie und erzählte ihm von ihren Ängsten. Wie passte die "vergrämte Miene" zu diesem "großen und kräftigen Mädchen", fragte sich der Wiener Arzt. So begann im Otto-Haus eine der ersten Psychoanalysen überhaupt.
"Es interessierte mich, dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten", sollte Sigmund Freud später notieren. Er publizierte die Analyse von Aurelia unter dem Titel "Der Fall Katharina" in seinen frühen, gemeinsam mit Josef Breuer herausgegeben "Studien über Hysterie" (1895).
Das Wandern war neben der Zigarre und dem Schwammerlsuchen eine Leidenschaft des Psychiaters. Hängt das damit zusammen, dass die Psychoanalyse der Ethik des Rax-Wanderns verwandt ist? Hier wie dort wartet am Ende des Leidenswegs kein heldenhafter Gipfel, sondern eine unscheinbare Kuppe – Sinnbild einer wohldosierten Ausschüttung des Hormons Serotonin.
Pubertierende Menschen hassen es, auf den Berg zu gehen, weil sie sich gegen den von den Eltern ausgegebenen Befehl "weiter" sträuben. Die augenblickliche Einheit zwischen Ich und Welt, wie sie in den Beipackzetteln der romantischen Liebe und der chemischen Droge beschrieben wird, erscheint ihnen erstrebenswerter als eine Selbsterfahrung mit wunden Füßen. Dreimal die Woche durch das Törl, und man weiß, dass das Streben nach Glück vom richtigen Schuhwerk abhängt.
Wer die Rax von der südlichen Seite aus besucht, stößt überall auf Spuren der Zeit um 1900. Ein Großteil der Klettersteige und Schutzhütten geht auf diese Pioniertage des Alpinismus zurück, und eine Bergtour kann dann im ebenfalls shabby chicen Strandbad Edlach enden, das nur im Juli und August geöffnet ist und von frischem Quellwasser gespeist wird. Die für ein Freibad obligatorischen Pommes werden in einem klassizistischen Pavillon gereicht.
Der letzte Ausflug führt den Raxisten auf die Rückseite des Massivs. An besonders heißen Sommertagen besteht hier die Chance, der Sonne und den Menschenmassen zu entkommen, die auf den Hauptwegen unterwegs sind. Seilbahnfahren heißt an solchen Tagen vor allem warten. Zeitig am Morgen fährt ein einziger Bus von Payerbach-Reichenau nach Hinternasswald. Wer es gemütlich angeht, kann in dem ausgezeichneten Wirtshaus Raxkönig übernachten, wo sich alles, was dann auf dem Teller landet, in Sichtweite des Gastgartens grast.
Die Besiedelung der Gegend geht auf den Holzhändler Georg Hubmer (1755-1833) zurück, der Tunnels und Kanäle baute, um die Baumstämme durch das unwegsame Gelände in die Ebene hinaus zu triften. Hubmer war Protestant und errichtete 1826 in Nasswald ein evangelisches Schul- und Bethaus, das man noch heute besichtigen kann.
Hinternasswald (712 m) ist etwa drei Kilometer von Nasswald entfernt. Zuerst geht man ziemlich lang den Reißbach entlang. Am Ende des Reißtals zweigen gleich mehrere Steige hinauf auf das Rax-Plateau ab. Wir wählen den leichten Klettersteig der Wildfährte, weil er bis Mittag im Schatten liegt. Durch ein Geröllfeld, Rinnen und Wandln geht es hinauf, die gegenüberliegende Schneealpe ist stets im Blick.
Ist das noch Wandern oder bereits Bergsteigen? Eine brauchbare Definition besagt, dass das Bergsteigen da beginnt, wo die maschinelle Mobilität aufhört. Der Bergsteiger fährt so weit hinauf wie möglich, während der Wanderer sich mit den mittleren Wegen zufriedengibt.
Eine andere Erklärung lautet: Die Bergsteigerin schweigt, der Wanderer redet. "Hast du die Fliegenragwurz gesehen?", heißt es etwa beim Gang durch das Reißtal. Und: "Schau mal, der Bussard!" Wandernd erzählt man sich vom Bau der Wiener Hochquellenleitung, die die Großstadt mit Wasser aus dieser Gegend versorgt. Man bleibt stehen, um Erdbeeren und Schwarzbeeren zu pflücken, lauter unnötige Ablenkungen für die zielstrebige Bergsteigerin.
Der Wanderer freut sich schon, wenn er beim Aufstieg durch die Wildfährte gelassen bleibt. Der Blick konzentriert sich auf das Naheliegende, die glitschige Wurzel, die losen Steine. Wo setze ich meinen Schuh hin, wie kann ich mein Gewicht ausbalancieren? So wird jeder Schritt zu einer Übung, die irgendwann mit einem warmen Gefühl von Souveränität belohnt wird. Geschafft!
Oben auf der Raxalpe geht dann ein einfacher Weg durch – jetzt noch! – blühende Wiesen, an der Heukuppe vorbei, hinüber zum Karl-Ludwig-Haus (1804 m) und hinunter zum Preiner Gscheid, wo mehrmals am Tag ein Bus hält.
Da hat der Ausflügler eine wunderbare Verwandlung erlebt. Es kommt ihm vor, als habe er die Großstadt vor langer, langer Zeit verlassen.
Matthias Dusini in FALTER 31/2014 vom 01.08.2014 (S. 33)