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Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen

von Karl Polanyi.

The Great Transformation, 1944 erschienen, geht von der These aus, daß erst die Herausbildung einer liberalen Marktwirtschaft mit ihrem »freien Spiel der Kräfte« zu jener charakteristischen »Herauslösung« und Verselbständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft geführt hat, die historisch ein Novum darstellt und die bürgerliche Gesellschaft von allen anderen Gesellschaftsformationen unterscheidet. The Great Transformation - das bezeichnet den Übergang von »integrierten« Gesellschaften, in denen die wirtschaftlichen Aktivitäten der Individuen in einen übergreifenden kulturellen Zusammenhang eingebettet waren, zur nicht integrierten Gesellschaft vom Typ der freien Marktwirtschaft.

Übersetzung: Heinrich Jelinek
Preis: € 18,50
Vorwort: R.M. MacIver
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sozialwissenschaften allgemein
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 06.01.1973

 

Rezension aus FALTER 18/2018

„Wir leben in einem Kapitalismus, der zerbrochen ist“

Der weltberühmte Wiener Sozialwissenschaftler Karl Polanyi ist einer der wichtigsten Deuter der herrschenden Marktmechanismen. Seine 94-jährige Tochter Kari Polanyi über sein wiederentdecktes Werk und ihre Kindheit im Roten Wien

Mit seinem Buch „The Great Transformation“ schuf Karl Polanyi ein Standardwerk. Darin zeichnet er nach, wie im 19. Jahrhundert die Idee des selbstregulierenden Marktes dominant geworden war und erklärt, warum die Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine Folge des Scheiterns dieser Idee sind. Seit der Finanzkrise 2008 wird Polanyis Schrift wiederentdeckt.
Karl Polanyi, als Sohn eines jüdischen Paares 1886 in Wien geboren, 1964 in Kanada verstorben, emigriert 1933 nach England. Seine einzige Tochter, Kari Polanyi, ist selbst Ökonomin und pflegt das Erbe ihres Vaters. Sie wird auch an der Konferenz in der Wiener Arbeiterkammer teilnehmen, bei der am 8. und 9. Mai die International Karl Polanyi Society (IKPS) gegründet werden wird. Mit dem Falter sprach die 94-Jährige vorab in einem englisch gefärbten Wienerisch.

***
Ich habe viele Erinnerungen an meine Kindheit in Wien. Wo jetzt entlang der Vorgartenstraße viele große Häuser stehen, war früher ein Reservegarten der Stadt Wien – ein riesiger, grüner Ort. Und vorne am Trottoir war ein ständiger Markt mit kleinen Hütten. Im Wien meiner Kindheit gab es viele kulturelle und sportliche Angebote für die Arbeiterschaft. Die Kinderfreunde organisierten Sommercamps, ich erinnere mich, dass wir nach Bad Aussee fuhren – ein ganz wunderbarer Ort.
Ich war in der Kindersektion eines Arbeiterturnvereins. Da habe ich allerhand gelernt, zum Beispiel, wie man gut fällt – in Montreal, wo ich später als Erwachsene leben sollte, haben wir schwere Winter und viel Eis auf der Straße. Da muss man wissen, wie man stürzt, ohne sich die Knochen zu brechen.

Das Wien meiner Kindheit war das Rote Wien. Das Wien, das ich als Kind verlassen musste, war eine offene und lebendige Stadt. Mein Vater zum Beispiel hat mit Ludwig von Mises im selben wissenschaftlichen Journal publizistisch debattiert, er hatte eine Replik auf einen seiner Artikel geschrieben, worauf wiederum er geantwortet hatte und dann kam wieder eine Antwort meines Vaters und so weiter. So etwas wäre in England, wo wir später gelebt haben, undenkbar gewesen. Mein Vater war schließlich nur ein einfacher Redakteur. Trotzdem konnte er sich mit jemandem wie Mises messen, der ja damals ein hohes Tier war.
Mein Vater hatte in Wien an Volkshochschulen Arbeiter unterrichtet. Das tat er auch später in England für die Workers Educational Association. Darunter waren vor allem ältere Menschen, die sich in Abendkursen weiterbilden wollten. Das kulturelle Leben der Arbeiter in London war im Vergleich zu dem der Arbeiter im Roten Wien ganz mies – obwohl Wien und Österreich viel ärmer waren als London und England, das damals reichste Land Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt.
Mein Vater hatte die Vorträge für die Arbeiter geliebt. Er bereitete sich darauf vor, als würde er in Cambridge oder Oxford unterrichten; ich habe das selbst gesehen, als er mich einmal dazu mitgenommen hat, als ich vielleicht 15 Jahre alt war. Damals hat er sehr viel zur Geschichte der frühen Industriellen Revolution gelesen und sie intensiv studiert. Ich bin davon überzeugt, dass er viel von dem, was in „The Great Transformation“ steht, schon in seinem Abendkurs für die Arbeiter zur English social and economic history unterrichtet hat.
Erst vor kurzem sind Manuskripte seiner Vorlesung aus dem Jahr 1940 am Bennington College in den USA aufgetaucht. Da hatte er noch nicht einmal begonnen, „The Great Transformation“ zu schreiben, aber schon da sprach er über Dinge, die auch jetzt wieder wichtig sind: dass der moderne Nationalismus der 30er-Jahre eine schützende Reaktion auf die internationalen Interdependenzen war.
Ich sehe starke Parallelen zur heutigen Situation. In den USA ist es leicht zu sehen, warum die Demokraten diese Präsidentschaftswahl verloren haben: Hillary stand für den Status quo. Ich verstehe, dass viele nicht wollten, dass alles so weitergeht wie bis dahin, denn viele hatten an Status verloren – durch die Globalisierung erlebte die alte Arbeiterklasse einen Abstieg. Außerdem nannte Hillary Leute, die Trump wählten deplorable, erbärmlich. Sie hatte keinen Respekt für diese Menschen. Ich denke, vielleicht hat die Linke in Europa ein ähnliches Problem.
Zwischen der Linie der Sozialdemokraten und den Konservativen gab es seit einiger Zeit wenig Unterschied. Die Sozialdemokraten haben im Großen und Ganzen die neoliberalen Prämissen akzeptiert: Sie haben die Austeritätspolitik nicht wirklich infrage gestellt; sie haben die Prämisse nicht wirklich infrage gestellt, der zufolge die Privatwirtschaft grundsätzlich effizienter ist; sie haben nicht infrage gestellt, dass aus Bürgern immer mehr Kunden wurden – im Gegenteil, die Linke hat dabei sogar mitgemacht.
Ich glaube, mein Vater hätte sich nicht vorstellen können, dass sich die Dinge auf diese Weise entwickeln würden. Mein Vater glaubte in den 40er-Jahren, als er „The Great Transformation“ geschrieben hat, dass das, was er da beschreibt, alles vorbei ist. Er hatte keine Ahnung, dass alles zurückkommen könnte.
Ich glaube, mein Vater wäre über die Marktfreundlichkeit überrascht, die mit dem Neoliberalismus zurückgekommen war. Er war eine Reaktion auf die Inflationen und die Ölkrise in den 70er-Jahren, aber auch auf Gewerkschaften, die zu stark geworden waren. Die kapitalistische Klasse war der Meinung, es sei zu viel von ihrer Macht verloren gegangen.

Seit der Industriellen Revolution geht es um die Frage, ob es möglich ist, dass sich die Menschheit mit den Maschinen arrangiert – darüber hat Polanyi sehr viel nachgedacht. Ich glaube, dass diese Frage jetzt noch viel dringlicher ist als damals.
In den 40er-Jahren bis in die 60er ist es ja noch ganz gut gegangen. Es gab einen guten Kompromiss zwischen capital and labour. Aber jetzt sehen wir, was mit Technologien, mit Informationstechnologien alles möglich ist und das ist doch auch ganz gefährlich. Doch die Maschinen sind nicht das eigentliche Problem. Es ist auch nicht der Handel, sondern die Finanz – so sieht es auch der UN-Handels- und Entwicklungsbericht. Der Finanzsektor ist größer und stärker als vor der Krise von 2008. Das Problem mit den Banken und das Problem der Finanzkrise sind nicht gelöst. Renditen steigen ohne realen Hintergrund.
Wenn man sich ansieht, wie zum Beispiel Immobilienpreise immer weiter steigen und gleichzeitig kaum Wachstum in der Realwirtschaft ist, versteht man, was passiert: Wir leben in einem Kapitalismus, der zerbrochen und obsolet geworden ist. Wir wissen, dass eine Krise droht, die viel größer werden wird als die von 2008. Daraus wird entweder etwas ganz Wunderbares hervorgehen oder etwas ganz Schreckliches wie eine Diktatur.
Wir müssen uns eine neue Art der menschlichen Zivilisation vorstellen. Ja, eine, die wirklich ganz anders ist als das, was wir jetzt haben. Eine, wo wir wirklich im Einklang mit der Realität leben. Es ist eine Tatsache, dass wir alles produzieren können, ohne dass die ganze Bevölkerung arbeiten muss. Das ist die Wahrheit. Für die reichen Länder müssen wir uns eine Gesellschaft vorstellen, die es nicht notwendig hat zu wachsen. Das nämlich ist die Realität.
Marx sagte, wenn die Produktionskraft so weit entfaltet ist, dass die Maschinen alles herstellen können, bräuchte es keinen Kapitalismus mehr. Nun sind wir genau dort angelangt – die Maschinen können alles produzieren, was wir Menschen brauchen. Das Problem ist aber, dass wir nicht wissen, wie eine inklusive Gesellschaft zu organisieren ist, in der nur wenig Arbeit notwendig ist.
Ich habe das Rote Wien als Kind erlebt. Es war etwas Spezielles, eine einmalige Phase in der Geschichte. Als Modell taugt es aber immer noch.

Nina Brnada in FALTER 18/2018 vom 04.05.2018 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 2, 2018 11:26:00 PM Categories: Sozialwissenschaften allgemein
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