von Aladin El-Mafaalani
Verlag: |
Kiepenheuer & Witsch |
Format: |
Hardcover |
Genre: |
Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft |
Umfang: |
320 Seiten |
Erscheinungsdatum: |
13.02.2020 |
Preis: |
€ 20,60 |
Vom Start weg nicht mit gleichen Chancen unterwegs
Seit es internationale Bildungsvergleichsstudien gibt, vor allem seit der ersten PISA-Testung im Jahr 2000, wissen wir, dass hierzulande die Bildungsungerechtigkeit größer ist als in den meisten vergleichbaren Ländern. Daran hat sich seither wenig geändert. In den letzten Wochen hat uns die Coronakrise mit aller Vehemenz darauf hingewiesen. Einige Wochen vorher ist dazu ein Buch erschienen, das aktueller nicht sein könnte. Der Erziehungswissenschaftler und Soziologe Aladin El-Mafaalani, der an der Universität Osnabrück den Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft innehat, behandelt zwar die Situation in Deutschland, doch lässt sich fast alles eins zu eins auf Österreich übertragen, mit Ausnahme der weitaus höheren Kompetenzen der deutschen Länder. El-Mafaalani weist anhand von zahlreichen Studien (beeindruckende 20 Seiten Literaturverzeichnis) nach, dass der Zusammenhang zwischen Herkunft und Zukunftschancen in kaum einem anderen vergleichbaren (OECD-)Land so hoch ist wie in Deutschland. Von Chancengleichheit könne aber nach wie vor keine Rede sein. Diese Ungleichheit ist strukturell zugrunde gelegt. Ein in den Grundzügen meritokratisches System wie das deutsche fokussiert auf die tatsächlich entwickelten Kompetenzen und Leistungen und sieht Chancengleichheit dann gegeben, wenn jeder Mensch nach seinen Fähigkeiten in der Gesellschaft positioniert ist. Inwieweit aber wirklich gleiche Startchancen vorlagen, wird nicht gefragt. Hier beginnen aber genau die Probleme, denn Kinder mit schlechten Startchancen kommen bereits mit erheblichen Entwicklungsrückständen in die Grundschule, an deren Ende sind es zwei Jahre. Aber nicht nur das: Studien (auch für Österreich) weisen nach, dass diese Kinder selbst bei gleichen Leistungen strenger beurteilt werden. Besonderes Gewicht hat auch die Rolle der Eltern, deren aktive Mitarbeit an der Leistungsentwicklung der Schüler und Schülerinnen im System vorausgesetzt wird, wodurch sich die Tendenz zur „Vererbung“ von Bildungsaffinität und sozialer Ungleichheit weiter verstärkt. Gleichzeitig wird das traditionelle Familienbild konserviert, klassische Rolle der Frau inbegriffen. Scharf kritisiert El-Mafaalani auch das Festhalten an der Halbtagsschule, die die Institution Schule bis heute prägt und die Gleichstellung von Mann und Frau nachhaltig beeinträchtigt. Die frühe Trennung im Alter von zehn Jahren hat klar belegbare Effekte hinsichtlich sozialer Ungleichheit, wenngleich keine Wirkung auf die Leistungsfähigkeit eines Schulsystems insgesamt nachgewiesen werden konnte. Wie kann man es besser machen? Dazu bringt der Autor im letzten Kapitel eine Reihe von sehr brauchbaren Ansatzpunkten, wie die Fokussierung auf den Bereich der Frühkindförderung und die Grundschule sowie darauf, was er die „Mikrosysteme“ von Schulen nennt. Interdisziplinäre und multiprofessionelle Teams arbeiten an den jeweiligen Standorten in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Elterngespräche müssen verstärkt stattfinden, allerdings anlasslos und niederschwellig. Das Ziel, die Chancen von Kindern aus benachteiligten Elternhäusern und Milieus zu verbessern, darf nicht gegen die Eltern verfolgt werden, sondern muss mit ihnen umgesetzt werden. Dafür braucht es einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Nicht nur in Deutschland, sei mit Nachdruck angemerkt. Fazit: „Mythos Bildung“ ist ein ausgesprochen wichtiges Buch und nicht nur allen Interessierten zur Lektüre empfohlen, sondern vor allem den politisch Verantwortlichen. Höchste Zeit nämlich, dass das Thema Gerechtigkeit und Chancengleichheit in der Bildung endlich zum vorrangigen Bildungsziel wird.
Heidi Schrodt in FALTER 23/2020 vom 05.06.2020 (S. 15)