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Auf den Spuren des Aufbruchs

von Tom Koch

EAN: 9783854397014
Genre: Architektur/Wohnen
Umfang: 240 Seiten
Sprachen: deutsch/englisch
Erscheinungsdatum: 09.09.2021
Verlag: Falter Verlag
Personen: Mit Fotos von Stephan Doleschal
Preis: € 29,90

 

Das Wiener Stadtbild wird zumeist mit Gründer­zeit, Jugend­stil oder den Bauten des „Roten Wiens“ asso­zi­iert. Archi­tektur und Design der 1950er bis 1960er Jahre haben zwar genauso ihre Spuren hinter­lassen, fanden aber bis­lang weit weniger Be­ach­tung.

Das Buchprojekt „Mid-Century Vienna“ soll die Wiener Re­prä­sen­tan­ten dieser Epoche des Auf­bruchs nun ins Zen­trum der Auf­merk­sam­keit rücken. Autor Tom Koch begibt sich ge­mein­sam mit dem Foto­grafen Stephan Doleschal auf die Suche nach der Hinter­lassen­schaft der 1950er und 1960er Jahre und zeigt an­hand von un­be­kannten oder wenig be­ach­teten Orten: Die Zeit der Wirt­schafts­wunder­jahre um­gibt uns auch heute noch aller­orts.

Mit Gastbeiträgen von: Susanne Reppé, Al Bird Sputnik, Peter Payer und Wojciech Czaja.

Über den Autor:
Tom Koch ist Grafikdesigner, Schrift-Enthusiast, Reisender und »Lover Of All Things Vintage«. Der Autor des Buches »Ghost­letters Vienna« und Ini­tia­tor der Sign Week Vienna publi­ziert auf type­travel­diary.com typo­gra­fische Fund­stücke aus aller Welt.

VIDEO: Tom Koch präsentiert neues Buch zum Mid-Century (Quelle: W24)
 

FALTER-Rezension

DAS WIEDERENTDECKTE WIEN

Die Architektur dieser Stadt ist nicht nur Dom und Oper. Der Grafiker Tom Koch zeigt im Buch "Mid-Century Vienna" die schön­sten Bauten der 50er und 60er. Ein Ge­spräch über die Stadt und das Leben nach dem Krieg

Noch eine Bestellung, wieder eine, und noch eine. Die Tele­fone im Falter Ver­lag läuten seit zwei Wochen ohne lange Pau­sen. Selten stieß ein neuer Bild­band auf sol­ches In­ter­esse.

Für unbedarfte Menschen endet die große Wiener Archi­tektur irgend­wann nach dem Burg­theater und dem Stephans­dom bei den Ge­mein­de­bauten der Zwi­schen­kriegs­zeit. Dass Insti­tu­tionen wie das Gar­ten­bau­kino, das Gänse­häufel, das Café Prückel, die Zwer­gerl-Hoch­schau­bahn oder der Wasser­speicher am Stein­feld mit ihren klaren For­men und ihrer ge­die­genen Fröh­lichk­eit eine eigene Ära der Wiener Stadt­ent­wicklung er­geben, fand bis­her ge­ringe Be­ach­tung.

Nun haben der Grafiker Tom Koch und der Foto­graf Stephan Dole­schal Texte und vor allem 500 Fotos der schöns­ten (er­hal­tenen) Wiener Räume und Häuser aus den 1950er-und 1960er-Jahren ge­sammelt und mit dem Buch "Mid-Cen­tury Vienna" einen Nerv ge­trof­fen. Archi­tekten und De­signer jener Zeit er­leben ge­rade ein Re­vi­val, Mid-Cen­tury-Vintage­möbel gehen weg wie warme Sem­meln. Oder eben wie dieses Buch.

Wir haben den Grafiker Tom Koch gefragt, was ihn die Arbeit daran über das Leben in Wien zu jener Zeit gelehrt hat.

Falter: Vintagegeschäfte sind voll von Mid-Century-Möbeln, auf Insta­gram gibt es jeden Tag tau­sende Pos­tings zum Be­griff, Wiener Bauten wie das Gänse­häufel oder das Gar­ten­bau­kino sind welt­weit ge­schätzt. Wo­zu braucht es jetzt noch dieses Buch?

Tom Koch: Ich bin selbst er­staunt, dass ich nicht schon früher auf die Idee ge­kom­men bin. Mein Leben spielt quasi in den 60er-Jahren, ich war in meiner Jugend Mod, fahre bis heute zu 60er-Kon­zer­ten in ganz Eu­ropa. Aber für Archi­tek­tur in Wien ste­hen Stephans­dom, Burg­theater und Zwi­schen­kriegs­ge­meinde­bauten, es gab kein eigenes Buch über den Wiener Mid-Cen­tury-Stil. Wir nehmen diese Epoche nicht als sol­che wahr, dabei war Wien da­mals eine ein­zige Bau­stelle, die Stadt hat sich neu er­fun­den: der Ver­suchs­atom­re­ak­tor der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät im Pra­ter, der Was­ser­be­hälter in Neu­siedl am Stein­feld, das Kino Film­ca­si­no oder ein­fach das Matz­leins­dor­fer Hoch­haus. Mid-Cen­tury kann Beton sein, aber auch Neon­röhren, hart oder zärt­lich. Wenige sehen da schnell Zu­sammen­hänge, selbst als Fan der Zeit habe ich viele Bauten erst bei der Arbeit am Buch ent­deckt.

Was haben Sie dabei über das Leben in jener Zeit gelernt?

Koch: Am besten zeigen es alte Fotos vom Schot­ten­tor: Die neue Öffi­station ist total mondän, oval aus­ge­schnit­ten und mit Roll­trep­pen, aber die Men­schen, die aus dem 38er aus­stei­gen, tra­gen dann doch Knie­bund­hosen, Kopf­tü­cher und be­herr­schen die Roll­trep­pen über­haupt nicht. Wien war eigent­lich bieder, und Kon­tro­ver­sen waren ver­pönt. In den 1950er-Jahren hat ein Bild­hauer eine hüft­hohe Zie­gen­skulp­tur in einen Ge­mein­de­bau ge­stellt, aber die Leute sind aus­ge­flippt, weil sie nicht lieb­lich und na­tura­lis­tisch ge­nug war. Es kam zu einer Mieter­ver­sammlung, "die Ziege muss weg". Nach dem Krieg waren die Wiener vor allem mit sich be­schäf­tigt, mich hat erstaunt, wie ver­ges­sen die Nazi­ver­brechen da­mals schon waren. Die Men­schen haben diese Zeit zu­ge­schüt­tet und nicht da­gegen ge­kämpft, dass die Nazi­kader wie­der in ihre Ämter kamen, in Uni­ver­si­täten, Ge­richten.

Oder in Architekturbüros.

Koch: Der Umgang mit emigrierten Archi­tekten ist eine ein­zige Schande. Victor Grün­baum ist 1938 vor den Nazis ge­flüch­tet und in den USA als Victor Gruen zum Star ge­wor­den, er hat dort das Ein­kaufs­zen­trum er­funden. Nach dem Krieg ist er zu­rück­ge­kommen und hat die Kärntner Straße auto­frei wer­den lassen, aber die Wiener Archi­tekten­kammer hat ihm keinen Orden, son­dern eine Klage ge­schickt, wegen seines feh­lenden Ab­schlus­ses. Er musste 10.000 Schil­ling Stra­fe zah­len und sich Archi­tect mit c nennen.

Im Wiederaufbau schlägt die Stunde der Archi­tekten. Doch ihr Gestaltungs­spiel­raum war klein, sie mussten schnell, billig und material­schonend bauen. Wie gut er­halten ist die Archi­tektur von damals noch?

Koch: Schweden hat der Gemeinde Wien im Jahr 1947 zwei Vibro­block­stein-Maschi­nen­sätze ge­schenkt. Mit diesen Ge­räten haben Wiener Arbei­ter auf dem Schweden­platz den Schutt der zer­bomb­ten Innen­stadt zu Bau­material ver­dichtet. Aus diesen Ziegeln ist der erste Ab­schnitt der Favo­rit­ner Wohn­anlage Per-Albin-Hansson-Sied­lung ge­baut, und die steht noch ziem­lich gut.

Die Gemeinde, die Gewerkschaft Bau Holz, die Handels-und Arbeiter­kammer haben da­mals ein Pro­duk­tions­pro­gramm für leist­bare Möbel er­funden. Heute sind diese so­ge­nannten SW-Regale, Bänke und Küchen ge­fragte Vintage­stücke. Was zeichnet diese Möbel aus?

Koch: Sie sollten günstig, benützbar, modern und platz­sparend sein. In den neuen, kleinen Gemeinde­bau­wohnungen hatte das Vor­kriegs­mobi­liar keinen Platz. Die Möbel be­kamen dünne Füße, damit Frauen da­runter gut Staub wischen konnten, heute gelten diese Formen als Leichtig­keit. Auch be­rühmte Archi­tekten wie Roland Rainer haben SW-Möbel ent­worfen, sie waren in Serien ge­fasst, und Käufer konnten in Raten zahlen. Aber so schön und halt­bar sind sie auch wieder nicht, die Leute vom Ge­braucht­möbel­ge­schäft Vintagerie haben mir er­zählt, dass sie des­halb nur selten SW-Möbel ankaufen.

Die 50er waren die Zeit einer neuen Freizeit­kultur, es gab Kinos und Fern­seher, Jugend­liche hatten Mopeds und Jeans. Wo haben Sie den Rock 'n'Roll in der Stadt ge­funden?

Koch: Die Jugendlichen haben nach dem Krieg plötzlich Frei­räume vor­ge­funden. Die Väter sind zu­rück­ge­kom­men, hatten ihre Auto­ri­tät ver­loren und viel­leicht psychi­sche Pro­bleme an­ge­setzt. Es kam zu Jugend­krimi­nali­tät und Gangs in der Vor­stadt, man nannte sie Platten. Der Staat und die Ge­sell­schaft waren damals streng zu den Jungen, der Schau­spieler und Wirt Hanno Pöschl ist noch in den 60er-Jahren als 14-Jähriger von wild­fremden Männern an­ge­rempelt worden, weil er längere Haare hatte. Es herrschte über­all Un­ver­mögen und Un­wille, mit Anders­artigem um­zu­gehen.

Welche Räume gab es für Andersartige?

Koch: Intellektuelle und Künstler konnten sich in drei oder vier Lokalen dem Kommerz ent­ziehen, also nicht ent­schei­dend anders als in meiner Jugend in den 80ern. Ein Hot­spot war die Anna­gasse im ersten Bezirk, meine Mutter war Bar­keeperin in der dorti­gen Tenne. Als die Unter­welt­ler Schutz­geld vom Ge­schäfts­führer Graf Windisch-Graetz ein­trei­ben kamen, hat sie sich immer auf dem Klo ver­steckt. Klaus Kinski wollte ein­mal ent­ge­gen den Haus­regeln ohne Kra­watte hinein, hat die 1000-Schilling-Packen aus der Jacke ge­zogen und ge­schrien: "Ich kaufe dieses Scheiß­lokal." Meine Mutter war wieder auf dem Klo.

Wien wollte damals Weltstadt sein. Stilelemente wie Nieren­tische wurden frech von den Ver­einigten Staaten kopiert.

Koch: Unter dem Votivpark war damals eine Park­garage, wo die Hos­tes­sen auf Roll­schuhen die Autos ein­wiesen, wo man Theater­karten kaufen und in einem Restau­rant essen konnte. Peter Ale­xan­der ist dort ein und aus ge­gangen, aber das Konzept war natür­lich von den USA inspi­riert und die Garage na­tür­lich von einer Bank be­trieben. Italien war der andere Sehn­suchts­ort, da­mals haben in Wien hun­derte Es­pres­so-Lo­kale er­öffnet, 1951 gab es den ers­ten Vespa-Club in der Stadt. Um die Jugend­lichen vom Ameri­ka­nis­mus weg­zu­brin­gen, wollten Öster­reich und Wien eine Bade­kul­tur eta­blieren. Bäder wie das Gänse­häufel stam­men aus dieser Zeit, das Frei­zeit­an­gebot sollte etwas Vor­kriegs­nor­ma­li­tät schaf­fen.

Trotz aller Bieder-und Sparsamkeit jener Zeit zeigt sich auf vielen Seiten Ihres Buchs eine Spiel­freude in den Ent­würfen.

Koch: Das liegt auch an einem anderen Projekt der Stadt Wien: Kunst am Bau. Obwohl die Gemeinde kein Geld hatte, hat sie ein Prozent der gesamten Bausumme für Kunst bei und an den Häusern ausgegeben: Plastiken, Mosaike, viele Tiere, Pflanzen und Kinder, aber immerhin. Hunderte junge Bildhauer bekamen damals Aufträge, so etwas gibt es heute nicht mehr. Der Effekt war auch ein identitätsstiftender: Ich wohne auf der Stiege mit den Geranien, ich bin eine Margerite. Andererseits: Als wir in einem Bau in der Boschstraße die mannshohen Mosaike fotografierten, sagte uns ein Bewohner glaubhaft, dass er die noch nie wahrgenommen habe.

Was war die spektakulärste Entdeckung, von der Sie jedem erzählt haben?

Koch: Als Erstes fällt mir die Sendeanlage auf dem Bisamberg ein, die bis 2008 Radioprogramm ausgestrahlt hat. Dann stehst du in dieser Halle vor den originalen Instrumenten mit Blick auf das heutige Wien, und dir bleibt die Luft weg. Das Beste ist: Ein Mitarbeiter der Österreichischen Rundfunksender GmbH wohnt dort oben als Instandhalter, er hat sicher die schönste Terrasse der Stadt.

Wie haben Sie all diese Gebäude gefunden?

Koch: Im Internet, in Archiven und zu Fuß. Ich weiß jetzt, warum Flächenbezirke so heißen, an einem Wintertag habe ich 16 Kilometer lang Favoritner Seitengassen durchwandert, auf der Suche nach Häusern, die noch niemandem aufgefallen sind. Und dann habe ich mit dem Wien Museum Interessierte gebeten, mir Vorschläge zu schicken. Damals hatte ich schon eine Excel-Tabelle voller Adressen, aber auch irrsinnige Angst, dass noch jemand ein solches Buch plant. Der Trick hat funktioniert: Nachdem zwei Zeitungen über diesen Aufruf im November 2020 berichtet hatten, war das Thema besetzt.

Heute gelten einige der Gebäude als Juwele, wie hat die Kritik damals die Architektur angenommen?

Koch: Sie haben alles in Grund und Boden vernichtet, die Architektur galt in so gut wie allen Zeitungsartikeln als einfallslos oder als überladen. Ich selbst verweigere die Bewertung, ich bin weder Historiker noch Architekturkritiker, das Buch soll den Leser die Stadt neu entdecken und diese Periode erkennen lassen. Der Fotograf Stephan Doleschal hat die Orte ohne Menschen und Autos fotografiert, um ein Gefühl wie zur Zeit der Eröffnung zu erzeugen. Daran kann sich jeder erfreuen oder die Häuser weiter ignorieren.

Was könnten die heutigen Stadtentwickler und Architekten vom Mid-Century Vienna lernen?

Koch: Einmal war ich bei einer Pressekonferenz in der Seestadt Aspern, wo etwas Ähnliches passiert ist wie in den 1960er-Jahren: Die Stadt wächst an die Peripherie und schafft autarke Wohndörfer mit eigener Infrastruktur. Auf alten Fotos sehen diese Siedlungen trostlos und staubig aus, weil die Vegetation so niedrig war. Aber in Teilen der Seestadt unternehmen wir nicht einmal den Versuch, Vegetation zu schaffen. Und diese Balkone, von denen einander Bewohner von Block A auf Block B Kaffee reichen können, mögen stadtplanerisch modern sein, ich empfinde sie aber als Rückschritt. Ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass sich in der Seestadt 70 Jahre Architekturentwicklung zeigen.

Mid-century modern meint die Architektur und Möbelgestaltung von Mitte der 1940er-bis Mitte der 1960er-Jahre. Funktionalität stand über Schnörkeln, das Design folgte klaren Linien. In Österreich zählt der Begriff seit gut zehn Jahren zum allgemeinen Sprachgebrauch, Vintagestücke aus jener Zeit sind gefragt.

Tom Koch ist seit 2011 selbstständiger Grafiker, unter anderem für das Wien Museum. Sein Interesse gilt der Schriftsetzung: Er veranstaltet Typo-Rundgänge durch Wien, hat 2016 im Buch "Ghostletters" Spuren demontierter Schriftzüge dokumentiert und 2017 das Typografie-Festival Sign Week Vienna veranstaltet. Mit dem Fotografen Stephan Doleschal hat er nun das Buch "Mid-Century Vienna" veröffentlicht.

Lukas Matzinger in Falter 40/2021 vom 2021-10-08 (S. 40)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 2, 2022 3:02:00 PM Categories: Architektur/Wohnen
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