von Julia Köstenberger
Verlag: |
Falter Verlag |
EAN: |
9783854395911 |
Reihe: |
Kultur für Genießer |
Umfang: |
352 Seiten |
Erscheinungsdatum: |
22.05.2018 |
überarbeitete Neuauflage: |
03.02.2022 |
Preis: |
€ 29,90 |
Jetzt neu mit GPS-Daten zu den einzelnen Touren.
Die Lieblingsstrecke der Autorin entlang der gesamten Grenzroute ist die Strecke von Retz über Znaim nach Laa an der Thaya. Rund 70 Kilometer, die sich gut an einem Tag fahren lassen. Insgesamt wird die österreichisch-tschechische Grenze in acht grenzüberschreitende Abschnitte eingeteilt. Für jedes dieser acht Kapitel wird eine Route durch die interessantesten Orte und Landschaften vorgeschlagen. Manche Touren sind in einem Tag zu bewältigen, die meisten lassen sich ein Wochenende lang geniessen. Es geht von Aigen-Schlägl, über Weitra, Znojmo und Breclav bis Hohenau.
Anfang und Ende jeder Route sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar.
Der Radreiseführer weist den Weg zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in den Orten, beschreibt Naturschönheiten sowie historische Ereignisse und stellt für die Region charakteristische Themen in kurzen Lesetexten vor. Zudem enthält er einen kleinen Sprachführer und wichtige Informationen zur Reiseplanung.
FALTER-Rezension
Früher war hier das Ende der Welt
Der ehemalige Eiserne Vorhang an der österreichisch-tschechischen Grenze wird zum Radler-Hotspot. Eine Rundfahrt
Julia Köstenberger ruft: „Ahoi!“, obwohl sie auf einem Fahrrad sitzt und sich nicht auf hoher See befindet. Links Weingärten, rechts Maisfelder, in der Mitte die Historikerin mit dem Citybike auf einem ehemaligen Begleitweg des Eisernen Vorhangs. Weil sie sich auf der tschechischen Seite der Grenze befindet, grüßt sie wie Seemänner und Tschechen es tun, wenn ihr Radfahrer entgegenkommen, und winkt freundlich. Wenn ihr niemand entgegenkommt – was ihr am liebsten ist –, schließt sie für kurze Momente die Augen, spürt den Fahrtwind, der ihr Shirt und die Haare zum Flattern bringt, und so etwas wie Freiheit.
Die Grenze zwischen Österreich und Tschechien, an der sich bis 1989 der Eiserne Vorhang wand, verläuft als grünes Band durch Europa. Die rund vier Kilometer breite Sperrzone entlang des Zaunes lag so lange brach, dass sich die Natur Territorien zurückerobern konnte, die jahrhundertelang von regem Verkehr geprägt waren. Nun begegnet man dort, wo früher Soldaten patrouillierten und mit scharfer Munition geschossen wurde, immer häufiger Radfahrern, die entlang des insgesamt 466 Kilometer langen Grenzstreifens auf Tages- oder Mehrtagestouren in die Pedale treten, inmitten von Natur, wie es sie an Radrouten in ganz Österreich nur noch selten gibt, umgeben von Geschichte.
Als Julia Köstenberger das erste Mal mit dem Rad vom niederösterreichischen Retz ins tschechische Znaim fuhr, war das ein ziemliches Desaster. Der Zettel, auf dem sie vor der Abfahrt Wegbeschreibungen ausgedruckt hatte und nun hilflos nach Orientierung suchte, flatterte nutzlos im Wind. Irgendwo war sie von der geplanten Strecke abgekommen. Die Mittagshitze drückte ihr auf den Radhelm, die Trinkflasche war längst leer, und als sie dastand, irgendwo zwischen Äckern, Fluss und Auwald, und ihr der Schweiß in die Augen rann, dachte sie: „So, hier verdurste ich jetzt!“
Die 44-Jährige lacht, wenn sie von dieser Fahrt erzählt, und die ihr seither 2500 Kilometer entlang der Grenze eingebracht hat. Denn: Julia Köstenberger verdurstete nicht und die Freiheit, die sie gespürt hatte – die so greifbar war, weil jung und nicht selbstverständlich –, trieb sie wieder in den Sattel. Genauso wie die Geschichte, die der Boden hier atmet, der Meter um Meter erzählt von künstlich gezogenen Grenzen, von Weltpolitik und von Menschen, deren Leben auf den Kopf gestellt wurde, weil Machthaber in entfernten Städten eine Entscheidung getroffen hatten.
Die Grenze, die Südböhmen, Südmähren, das nördliche Mühlviertel sowie Wald-und Weinviertel in zwei Länder teilt, bedeutete bis vor 30 Jahren das Ende der Welt, wie Julia Köstenberger in ihrem Buch „Grenzenlos Radeln“ schreibt, das Ende April im Falter Verlag erscheint: Auf 350 Seiten zeichnet die Wienerin Radrouten vor, mit Ratschlägen und Wegbeschreibungen, die es Nachahmern ersparen sollen, selbst orientierungslos im Auwald an der Grenze zu stehen. Aus anfänglicher Neugier für die Region wurde rasch professionelles Interesse, das die Historikerin neben Flickzeug, Proviant und Regenjacke auch Stift und Notizblock in die Seitentaschen ihres Fahrrades packen ließ, um Tipps für ihren Rad-Ratgeber festzuhalten. So strampelte sie seit 2012 rund 2500 Kilometer zwischen Plöckensteiner See und Hohenau an der March ab, um insgesamt acht Touren festzulegen, die an Bus- und Zugbahnhöfen beginnen und enden und die zum Teil zwischen den Orten weite Schlingen ziehen und lange Umwege – dafür an Schauplätze führen, die, von den Schnell-Fahrern unentdeckt, entlang der Strecke liegen.
Wenn Köstenberger nun im Thayatal den Radweg entlangfährt und in Hardegg die Brücke quert – unter sich Holzbalken, die rhythmisch knattern –, dann kann sie nach sechs Jahren Recherche jede Menge Anekdoten erzählen. Die vom Hardegger Hauptschullehrer zum Beispiel, der sich bei einem gemeinsamen Achterl Grünem Veltliner erinnerte, wie er als junger Mann mit seinen Freunden genau diese Brücke für Mutproben nutzte: Weil die österreichisch-tschechoslowakische Staatsgrenze mitten durch den Fluss verläuft, entfernten tschechoslowakische Soldaten irgendwann auf ihrer Seite die Holzblanken vom Stahlgerüst und die Österreicher taten es ihnen bald darauf gleich. Bis am Ende nur noch die Eisenkonstruktion als Brückenskelett über der Thaya ragte. Die jungen Männer, die mutig genug waren, balancierten auf dem Gerüst Richtung Kontrollhäuschen, wo ihnen einmal auf tschechoslowakischer Seite die Wache habenden Soldaten winkten. Irgendwann seien die jungen österreichischen Männer mit den Flausen im Kopf neben den jungen tschechischen Männern mit den Abzeichen auf der Brust auf den Stahlstreben gesessen, hätten gemeinsam Bier getrunken und die Füße ins Leere baumeln lassen. Allerdings nur das eine Mal: Die mangelnde Disziplin trug den Uniformierten eine Versetzung ein.
Köstenbergers Lieblingsstrecke entlang der gesamten Grenzroute ist die, die sie auch bei ihrem ersten Versuch bewältigen wollte: Retz – Znaim – Laa. Rund 77 Kilometer, die sich gut an einem Tag fahren lassen. Zieht Köstenberger auf ihrer tschechischen Radkarte, die – wie sie sagt – die beste, weil detaillierteste ist, mit dem Finger die Strecke nach, die sie entlangfährt, markieren Dutzende feiner Haken und dünner Linien den Plan.
Die Haken stehen für Bunker, die streckenweise wie eine Kette im Abstand von 500 Metern entlang des Radweges zu finden sind: Unter aufgeschütteten Erdhügeln richtete sich das tschechoslowakische Militär Mitte der 1930er-Jahre Refugien ein, aus Angst vor Nazi-Deutschland: enge Behausungen, in denen Maschinengewehre, Gasmasken und Essbesteck für den Ernstfall bereitlagen, allerdings nie eingesetzt wurden, weil die Grenzgebiete der Tschechoslowakei 1938 im Zuge des Münchner Abkommens zum Schrecken der Bevölkerung ans Deutsche Reich abgetreten werden mussten. Einige der Bunker sind leicht zu erkennen, wie jener in Schattau, andere, gut getarnt, kaum auszumachen.
Die Linien auf den Karten kennzeichnen Stromleitungen. Andernorts maximal zur Orientierung interessant, erzählt hier auch der Blick gen Himmel eine Geschichte: Irgendwo nach Znaim, nach dem kleinen Ort Tasovice und kurz vor dem Schatzberg fährt man an jenem Strommast vorbei, auf den 1986 zwei Tschechen kletterten, um eine der spektakulärsten Fluchtaktionen aus dem kommunistischen Regime zu wagen: Kurz nach Mitternacht schlichen die beiden mit zwei selbst gebauten Gefährten, die an eine Art Sessellift erinnerten, zur Hochspannungsleitung, hängten ihren Sitz in der Blitzschutzleitung ein, die keinen Strom führt, und zogen sich so über die Grenze. Hätten sie die unten patrouillierenden Soldaten erwischt, wäre das ihr Todesurteil gewesen. Der von alten Bäumen und weiten Feldern gesäumte Radweg führt weiter nach Seefeld-Kadolz und damit vorbei an dem Gasthaus, das nach dem Bürgerkrieg 1934 für viele Österreicher Zufluchtsort war: Wer dem Wirt im Ort das Losungswort – „Hase“ – nennen konnte, wurde als Flüchtling weitergeschleust in Richtung Sowjetunion. Für rund 3000 österreichische Schutzbündler und Kommunisten der einzige Weg ins rettende Exil.
Legt Julia Köstenberger hier im Gasthaus eine Pause ein, bestimmt, was der Wirt auf den Tisch stellt, den weiteren Verlauf ihrer Tour. Ein Achterl Wein hieße: Das Fahrrad schieben, wenn sie wenige Kilometer später wieder nach Tschechien kommt – die „Policie“ straft, wer mit über 0,0 Promille Alkohol im Blut auf dem Rad sitzt.
Julia Köstenberger trinkt Traubensaft und fährt dann den Grenzweg hinunter, der den Wachsoldaten ab 1965 – als der Eiserne Vorhang keinen Starkstrom mehr führte, sondern reiner Signalzaun war – den schnellsten Weg zur Alarm gebenden Quelle ermöglichte. „Geht man weiter in die Vergangenheit zurück, viel weiter“, scherzt sie, „würde man hier die Promenade des Urmeeres entlangradeln.“ Vor 16 Millionen Jahren hätte die Historikerin an dieser Straße Schildkröten, Riesenaustern und Haie beobachten können.
Vor 29 Jahren hingegen hätte sie ein Stück weiter, an der Ortseinfahrt zum tschechischen Höflein, Folgendes gesehen: Außenminister Alois Mock und seinen tschechoslowakischen Amtskollegen Jiří Dienstbier, wie sie versuchen, mit stumpfen Drahtscheren Bahnen aus Stacheldraht zu zerschneiden, um dabei jene gut inszenierte Bildikone zum Fall des Eisernen Vorhangs zu schaffen, die um die Welt ging. Zufällig lernte Köstenberger vor ein paar Jahren in einem Heimatmuseum einen der Männer kennen, die damals unter den Anwesenden waren, sonst hätte sie die Stelle nie gefunden, erzählt sie. Keine Markierung erinnert an den Ort, deswegen sei sie mit dem Zeitzeugen tief in der Ackererde vor der Ortseinfahrt gestanden, wo er ihr jenen Platz zeigte, an dem die letzten Reste Stacheldraht gestanden hatten, die die Delegation durchschneiden hatte können. Als Mock an die Grenze kam, hatten Soldaten schon einen Großteil des Eisernen Vorhanges abgebaut.
Wenn Julia Köstenberger nun bei Laa an der Thaya zum vierten Mal an diesem Tag die Grenze passiert, bemerkt sie nur an der sich unterscheidenden Farbe des Straßenbelages, dass sie von einem Land ins andere wechselt. „Zu wissen, dass Leute hier vor dreißig Jahren stundenlang an der Grenze gestanden sind und ein Visum brauchten, dass bewaffnete Grenzsoldaten Koffer durchsuchten und Autos auf der Suche nach Flüchtlingen regelrecht auseinandernahmen, ist schon ein merkwürdiges Gefühl.“
Am Hauptplatz in Laa an der Thaya bestellt die Autorin beim Wirt einen Spritzer. Sie hat noch Zeit, der letzte Zug Richtung Wien fährt erst gegen 22 Uhr. Köstenberger hängt ein massives Vorhängeschloss um ihr Fahrrad, streckt Arme und Beine durch, dann nimmt sie Platz und schaut den Neuankömmlingen zu, wie sie unter Stöhnen ihre gepolsterten Radlerhosenhintern in Sitzkissen fallen lassen. Die Historikerin blättert in ihren Notizen, nimmt einen Schluck Wein und behält jene Lektion, die auch sie in den vergangenen sechs Jahren lernen musste, still für sich: Besser als Pölster in der Hose sind einfach 2500 Kilometer im Hintern.
Verena Randolf in Falter 21/2018 vom 2018-05-25 (S. 52)