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Auf den Spuren eines Wiener Arbeiterbezirks

von Gitta Tonka

ISBN: 9783854769439
Verlag: Mandelbaum Verlag eG
Format: Buch
Genre: Sachbücher/Geschichte/Regionalgeschichte, Ländergeschichte
Umfang: 144 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.04.2022
Preis: € 18,00
Kurzbeschreibung des Verlags:

Die riesige graue Vorstadt mit dem klin­gen­den Namen »Favoriten« hat eine Ge­schichte. Es ist die Ge­schichte des ar­bei­ten­den Vol­kes, die Ge­schichte von Namen­losen, die diese Stadt mit­ge­formt, sie ver­tei­digt und wie­der auf­ge­baut haben. Hier wurde von Austro­fa­schis­ten auf Ar­bei­ter­häu­ser ge­schos­sen, hier herrsch­ten Ar­beits­losig­keit und Not, und vie­le Fa­vo­rit­ner ließen für ein freies Öster­reich ihr Leben.
Aus persönlichem Blickwinkel erzählt eine Favo­rit­ner Leh­re­rin, de­ren Fa­mi­lie seit der Be­zirks­grün­dung hier lebt, die poli­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Ve­rän­de­run­gen und Um­brü­che ihres Hei­mat­be­zirks. Texte von his­to­ri­schen Per­sön­lich­keiten wie Victor Adler, Adel­heid Popp, Max Winter oder Jo­hann Pöl­zer ver­tie­fen den Blick auf Fa­vo­ri­ten. Die Zeit­reise wird durch hu­mo­rige und emo­tio­nale Fami­lien­ge­schich­ten so­wie die zahl­rei­chen his­to­ri­schen und zeit­ge­nös­si­schen Foto­gra­fien be­son­ders le­bendig.

FALTER-Rezension:
Von Sandlern, Heldinnen und dem Eissalon Tichy

Die zumeist aus Böhmen zuge­wan­der­ten Ziegel­ar­bei­ter am Laaer Berg und am Wiener­berg waren vor 150 Jahren die Aus­ge­beu­tetsten der Aus­ge­beu­teten. Zu­sam­men­ge­pfercht ar­bei­teten sie für ein paar Hel­ler, leb­ten in Ge­mein­schafts­unter­künf­ten und wur­den auch noch mit Blech­mar­ken be­zahlt, mit denen sie den über­teu­er­ten, schlech­ten Fraß in den Werks­kan­ti­nen kau­fen mussten. Victor Adler, spä­ter der Eini­ger der So­zial­demo­kra­ten, schlich sich in­kog­ni­to ein und schrieb eine packen­de Repor­tage über das Elend der Zie­gel­ar­bei­ter - die Auf­decker­story legte die Grund­lage zu sei­ner spä­te­ren Po­pu­la­ri­tät und Le­gen­de. Auf der unters­ten Stufe der Elen­den stan­den jene, die die Zie­gel­for­men mit Sand aus­fül­len mussten. Sie wurden "Sandler" ge­nannt, und der Be­griff bür­ger­te sich spä­ter für alle auf der un­ters­ten Spros­se der so­zi­a­len Lei­ter ein. Nach­dem im­mer mehr Ar­beits­rechte durch­ge­setzt wur­den, blie­ben die Werks­kan­ti­nen be­ste­hen, ver­wan­del­ten sich aber nach und nach zu nor­ma­len Wirts­häu­sern, und um das Publi­kum zu hal­ten, dach­ten sich die fin­dig­sten Wirts­leute am Laaer Wald ein paar zu­sätz­li­che Attrak­tio­nen aus und stell­ten Spiel­ge­räte auf. Der Grund­stein des Böh­mi­schen Pra­ters war ge­legt.

Die Geschichte des Böhmischen Praters, die Ar­beiter­kul­tur im "zehn­ten Hieb", der Straßen­gangs und Volks­bild­ner - das und vie­les mehr kann man in Gitta Tonkas Buch "Favo­riten - Auf den Spuren eines Wie­ner Ar­bei­ter­be­zir­kes" nachl­esen. Wenn sie er­zählt, dann blickt sie auf eine un­glaub­liche, 170-jäh­rige Fa­mi­lien­ge­schichte zu­rück.

Tonkas Urgroßvater Jakob Sokopp kam in den 1870er-Jahren nach Wien. Er lernte Me­tall­dru­cker und war schon in der aller­ers­ten Gene­ra­tion der Ar­beiter­be­we­gung und der Ge­werk­schaften ak­tiv. Jakob Reu­mann, spä­ter der erste Bür­ger­meis­ter des Ro­ten Wien, war einer sei­ner engs­ten Freunde. Die Fa­mi­lie lebte in Elends­quar­tieren, bis sie in einer klei­nen Woh­nung mit Werk­statt in der Buchen­gasse 100 unter­kam.

Die ganze Familie, Großeltern und Groß­tan­ten von Gitta Tonka waren in den lin­ken Be­we­gungen und im Wider­stand ak­tiv. Vor eini­gen Jah­ren hat sie schon die Lebens­er­in­ne­rungen ihrer Mut­ter Ossy Tonka heraus­ge­bracht. Revo­lu­tio­näre, spä­ter Schutz­bünd­ler, ille­ga­le Sozi­a­lis­ten, todes­ver­ach­tende Kons­pi­ra­teure ge­gen die Nazis, sie alle gin­gen ein und aus in der Buchen­gas­se 100. Tonkas Mut­ter schlägt sich - blut­jung -zu den Par­ti­sa­nen nach Jugos­la­wien durch, kämpft auf deren Sei­te, und in der Nach­kriegs­zeit lan­det sie bei Bertolt Brecht als Mit­ar­bei­terin im Thea­ter Scala. Gitta saß noch bei Brecht am Schoß.

Gitta Tonkas Buch ist ein packendes Por­trät eines Be­zirks ge­wor­den. Seiner ver­ruch­tes­ten Vier­tel etwa, wie "das Kreta", wo die här­tes­ten Gangs die Straße be­herrsch­ten und das heute noch übel be­leu­mun­det ist, auch wenn das städte­bau­lich ambi­tio­nier­te Sonn­wend­vier­tel fast di­rekt an­grenzt. Als eins­tige Leh­rerin und Direk­to­rin einer Favo­rit­ner Volks­schule kennt Tonka den so­zia­len Wan­del der ver­gan­ge­nen Jahr­zehnte. Zu je­der Fa­brik, je­dem Ge­mein­de­bau, je­der Gar­ten­stadt, zum Tichy, zu Ober­laa - zu allem hat Tonka Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die auch für Ken­ner neu sind. Zu bril­lan­ten Fi­gu­ren, die dem Bez­irk eng ver­bun­den wa­ren, wie dem Jour­na­lis­ten Max Win­ter, Grün­der der Kinder­freunde und in den 1920er-Jahren Vize­bür­ger­meis­ter. Oder Schani Pölzer, Schnei­der, Ge­werk­schaf­ter, Ar­beiter­bild­ner, und sei­ner Frau Amalie, Ge­werk­schaf­terin und radi­kale Femi­ni­stin - nach ihr wur­de das Amalien­bad be­nannt, heute ein Denk­mal avan­cier­ter Archi­tek­tur.

Robert Misik in Falter 21/2022 vom 27.05.2022 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Friday, January 27, 2023 8:56:00 PM Categories: Ländergeschichte Sachbücher/Geschichte/Regionalgeschichte
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