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Über die Erfindung von Wahrheit

von Thomas Strässle

Verlag: Hanser, Carl
Format: Taschenbuch
Genre: Belletristik/Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
Umfang: 96 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.03.2019
Preis: € 18,50

 

Rezension aus FALTER 12/2019

Wie kann man die Wirklichkeit erkennen?

Medien: Jan Skudlarek und Thomas Strässle erklären den Wert der Wahrheit und wie man Fakes erkennt

Vor nicht allzulanger Zeit schwang im Konzept der Fiktion ein Geschmack von Freiheit mit. Von Schalk, von furioser Erfindungsgabe, neckischen Seitenhieben auf die Realität. Etwas von dem Versprechen, sich für die Dauer der Lektüre eines Romans, eines Theaterabends oder eines Kinobesuchs in eine alternative Welt hineinziehen zu lassen. Inzwischen, in der Halbzeit von Donald Trumps Amtszeit als Präsident der USA, zuckt man ein bisschen zusammen, wenn man „alternative Welt“ liest.

Zu real, zu wenig fiktiv erscheint die Aussicht, dass Trumps zusammengezimmertes Weltbild aus kruden Behauptungen, verdrehten Halbwahrheiten, von auf breitbart.com lancierten Fake News und eben „alternativen Fakten“ die sauer erkämpfte mediale Öffentlichkeit untergräbt.

Auch einige der letzten Feuilleton-Aufreger tun dem Ruf der Fiktion nichts Gutes. So herrscht eine zunehmende Verwirrung um die Begriffe Lüge und Fiktion, wenn beispielsweise kommentiert wird, dass der Spiegel-Journalist Claas Relotius seine Reportagen fingiert habe. (Er hat sie gefälscht, die Leser erwarten von einem Journalisten eine faktische und überprüfte Beschreibung der Wirklichkeit.) Oder ob der Autor Robert Menasse in seinen politischen Essays gelogen habe. (Er hat sein Handwerkszeug, die Fiktion, über die Ränder des Üblichen hinausgetrieben, das ist weder neu noch skandalös, aber bei der derzeitigen Verwirrung, die auch von politischer Seite befeuert wird, höchst ärgerlich.)

Zwei Klärungsversuche zu den Begriffen Wahrheit, Lüge, Fakt und Fiktion werden dieser Tage von berufener Seite publiziert. Thomas Strässle ist Professor für Literaturwissenschaften an der Universität Basel, das theoriegeleitete Nachdenken über und Beschreiben von Fiktion und ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit ist sein Beruf. Und der junge Berliner Philosoph und Lyriker Jan Skudlarek hat den Problemen, die rund um unser Verständnis von Wahrheit und ihrer Beschreibbarkeit auftauchen, vermutlich auch schon mehrere tausend Bibliotheksstunden gewidmet.

Skudlarek erweist sich dabei als aufklärerischer Analytiker ohne akademische Allüren. Sein Stil ist einfach zu lesen und stets humorvoll. Seine Verve überzeugt in Zeiten von Donald Trump, der wie kaum ein anderer Politiker dazu beigetragen hat, „Unsagbares und Unsägliches sagbar zu machen“, wie Skudlarek meint. „Ich sage: Die Wirklichkeit bleibt nach wie vor erkennbar. Ich sage: Die Welt bleibt beschreibbar. Ich sage: Angemessen zu zweifeln kann man lernen“, hält Skudlarek dem entgegen.

Auf rund 200 Seiten führt er vor, wie man bei den philosophischen Grundtugenden Erkennen, Beschreiben und Zweifeln zu Werke geht. Hierfür liefert er mit Witz und ausgeklügelten Argumentationen eine Einführung in begriffliche Unterscheidungen wie echt und unecht oder Meinung und (persönliche) Wahrheit und eine genaue Beschreibung diverser kruder Verschwörungstheorien wie jener der Flat-Earther, Reichsbürger, Impfgegner und von Menschen, die hinter jeglicher Gegenmeinung orchestrierte „Systemmedien“ vermuten.

Was Skudlarek über postfaktische Diskurse und die psychologischen Mechanismen, die sie unterstützen, referiert, ist beklemmend. Wie er zum Selbstdenken und Überprüfen anregt, ist erfrischend. Skudlareks Buch ist ein einfach zugängliches und schlaues Sachbuch, wie man es sich häufiger wünschen würde. Mehr als das: Vermutlich wäre es eine gute Diskussionsbasis, um mit Schülern oder Studienanfängern informiert über die Probleme zu diskutieren, die unsere komplexe Gegenwart medial und politisch aufwirft.

Thomas Strässle geht dagegen weitaus theoretischer vor. In bester literaturwissenschaftlicher Manier gräbt er interessante wortgeschichtliche Zusammenhänge aus. So dürfte das englische Wort „fake“ tatsächlich ursprünglich vom alten deutschen „fegen“ stammen und so etwas wie „reinigen“ oder „herausputzen“ meinen. Ins Englische könnte es vom Deutschen gewandert sein. Ähnlich belesen fährt Strässle fort. Er referiert Platons Begriffe von Nachahmung und Lüge, Aristoteles’ Kategorien „wirklich“, „wahrscheinlich“, „notwendig“ und „möglich“. Er spürt den Apologien zwischen Fakt und Fiktion in der Erzähltheorie nach und entwirft eine Theorie, wie sich Fiktion in Realität und Realität in Fiktion überführen lässt.

Diese und andere philologische Kapriolen werden zwar anhand von Kleinoden der deutschen Literatur – von den Grimm’schen Märchen bis zu Hermann Burger – sehr elegant nachvollzogen, Laien werden sich dennoch mit einem Gefühl der Überforderung durch den 90-seitigen Essay arbeiten.

Skudlarek kommt zu nachvollziehbaren und relevanten Aussagen, die sich beispielsweise wie folgt lesen: „Was wir als Wahrheit anerkennen, ist letztlich mehr als eine rein philosophische Frage. Was ist, ist nicht Ansichtssache. Es geht um die bestmögliche, um die angemessene Beschreibung der Realität. Eine Annäherung an die Realität mit Worten.“ Diese Einfachheit und Nachvollziehbarkeit ehrt sein Buch. Strässle hingegen verliert sich im Diskurs der deutschsprachigen Kulturwissenschaften, die nur allzu oft ihr politisches Potenzial verspielen, weil sie zu viel zu einer Kulturtechnik oder Denkfigur erklären. Dementsprechend hermetisch geraten seine Schlussfolgerungen.

Oft wünscht man Strässle den Mut zur Klarheit, mit dem Skudlarek schreibt und erklärt. Es sind sehr unterschiedliche Bücher, die sich mit denselben aktuellen Problemen von Faktizität und Wahrheit auseinandersetzen. Für eine breite Leserschaft zugänglich ist nur eines von ihnen.

Florian Baranyi in FALTER 12/2019 vom 22.03.2019 (S. 32)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 20, 2019 4:25:00 PM Categories: Belletristik/Essays Feuilleton Interviews Literaturkritik
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