von Herbert Renz-Polster
Verlag: |
Kösel |
Format: |
Hardcover |
Genre: |
Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft |
Umfang: |
320 Seiten |
Erscheinungsdatum: |
25.03.2019 |
Preis: |
€ 20,60 |
Rezension aus FALTER 22/2019
„Harter Erziehung folgt härtere Politik“
Herbert-Renz Polster analysiert den Zusammenhang von autoritärer Erziehung und Rechtspopulismus
Das weltweite Erstarken von autoritären Parteien und Führern wird zumeist auf äußere Faktoren zurückgeführt: soziale und wirtschaftliche Benachteiligung sowie die Globalisierung. Der deutsche Kinderarzt Herbert Renz-Polster, der mit seiner Familie sieben Jahre in den USA gelebt hat, gibt sich damit nicht zufrieden. Denn den Verlockungen von rechts, lautet seine These, erliegen von den USA über Europa bis in die Türkei auch Gutsituierte, während viele „Abgehängte“ populistischen Angeboten widerstehen.
Der Falter sprach mit Herbert Renz-Polster am Telefon über die Wurzeln des Autoritarismus in der Kindheit, über die Frage, wie man dessen Erstarken entgegenwirken kann und über den Unterschied zwischen der rechtspopulistischen deutschen AfD und der heimischen FPÖ.
Falter: Was hat Erziehung mit Politik zu tun?
Herbert Renz-Polster: Erziehung ist eminent politisch, denn sie hat immer auch damit zu tun, wie wir Kinder auf die Gesellschaft vorbereiten.
Warum sind immer mehr Menschen gerade jetzt anfällig für autoritäre Haltungen und Parteien?
Renz-Polster: Wir hatten ja zunächst eine sehr ruhige Fahrt durch die Nachkriegszeit mit einer Liberalisierung und Öffnung der Gesellschaft. Dann, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, haben wir für die globalisierte Konsumökonomie ein Betriebssystem gewählt, das Investoren beglückt, die Gemeinschaft aber vernachlässigt. Die letzten 15 Jahre waren geprägt vom Fallout einer ungehemmten Globalisierung. Die Ungleichheit nimmt zu, und die wenigen, die weltweit entscheiden, tragen keine soziale Verantwortung. Wenn die Nationalstaaten vor globalen Investoren zittern, entsteht bei vielen Bürgern eine tiefgreifende Verunsicherung: Moment einmal, wer sorgt hier eigentlich für meine Zukunft?
Entsteht die neue Unsicherheit also aus der sozioökonomischen Situation?
Renz-Polster: Nicht allein, das zeigt sich an der schizophrenen Programmatik der neuen rechten Protestbewegung. Wir steuern ökonomisch auf einen neuen Feudalismus zu, und die ökologische Situation spitzt sich zu. Aber um was geht es in den rechten Parteiprogrammen? Nicht um soziale Fragen oder die Umwelt. Es geht um Identität: um Kopftücher, Religion, Genderfragen, Homosexualität, Juden – um Dinge, von denen wir dachten, die seien abgehandelt. Bei so viel Irrationalität sollten wir tiefer bohren. Und wo wir suchen müssen, zeigt sich für mich an den Grundmotiven, die nun von den Rechten verhandelt werden.
Welche Themen sind das?
Renz-Polster: Im Rechtspopulismus geht es im Wesentlichen um drei Fragen: Anerkennung, Sicherheit und Heimat. Bei der Ankennung geht es darum, eine Stimme zu haben, bei der Sicherheit um die böse Welt da draußen, vor der wir uns schützen müssen: vor Flüchtlingen etwa, und jetzt sogar vor Wölfen. Beim Thema Heimat geht es um die Frage: Wo gehöre ich dazu? Damit sind wir mittendrin in Kindheitsfragen: Anerkennung, Sicherheit und Zugehörigkeit sind ja das dreigestaltige Grundmotiv der Kindheit! Wahlslogans wie „Make America great again!“ oder „Take back control“ in Großbritannien zeugen von der Sehnsucht, Kontrolle zurückzuerlangen. Dahinter steckt das Gefühl, klein und ausgeliefert zu sein. Die typisch autoritäre Sehnsucht nach Struktur, Ordnung und Reinheit, nach Hierarchie und einem Führer hat hier ihren Grund.
Was bedeutet Autoritarismus?
Renz-Polster: Unter Autoritarismus versteht man die Neigung, sich Normen und Konventionen zu unterwerfen, und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht zu dieser Ordnung gehören. Charakteristisch für autoritäre Persönlichkeiten sind erhöhte Ängstlichkeit, Stressbereitschaft und negative Bewertungen. Daraus resultiert eine Anfälligkeit für die Versprechen autoritärer Führer von Kontrolle, Macht und Stärke und Feindbildern.
Was hat das konkret mit Kindheit zu tun?
Renz-Polster: Wenn die innere Sicherheit aus der Kindheit fehlt, werden äußere Angebote umso wichtiger: Hautfarbe, Ethnie, Nation, das Versprechen von zukünftiger oder vergangener Größe. Wenn man einen groben Raster über die Erde wirft und die autoritären Regimes aufleuchten lässt, dann deckt sich das stark mit den Regionen, in denen Kinder gewaltsam unterdrückt werden. In der westlichen Welt stellt die USA einen Vorreiter dar, weil hier autoritäre Haltungen deutlich stärker ausgeprägt sind als in Europa. Die 22 Bundesstaaten, in denen sich die meisten Menschen für die Züchtigung von Kindern aussprechen, sind alle an US-Präsident Trump gegangen. Das bedeutet, dass dort, wo harte Erziehungshaltungen vorherrschen, auch die Anfälligkeit für autoritäre politische Entscheidungen hoch ist.
Sie sagen, dass wir in der Politik „Familie spielen“. Was bedeutet das?
Renz-Polster: Das erste Gesellschafts- und Herrschaftsmodell, das Kinder kennenlernen, ist die Familie. Dort sind Kinder abhängig und lernen zum ersten Mal den Umgang mit Macht und Beziehungen kennen: Wie es ist, regiert zu werden – und was eine „normale Regierung“ bedeutet. Wer eine Ordnung kennenlernt, in der er nicht zu Wort kommt oder bei seinem Aufwachsen beständig Scham und Kränkung erlebt, wird sich als schwach, als machtlos empfinden – und auf eine lebenslange Reise geschickt, dieses Vakuum zu füllen.
Beruht eine strenge Erziehung auf Gehorsam und körperlicher Züchtigung?
Renz-Polster: Es ist ein bisschen komplizierter. Das lässt sich am Unterschied zwischen den alten und neuen Bundesländern in Deutschland gut zeigen. Nach dem Mauerfall stellten Forscher fest, dass Jugendliche aus der DDR deutlich stärker autoritäre Meinungen hatten. In der DDR war aber körperliche Züchtigung vom Staat ausdrücklich nicht erwünscht, da man die Kinder ja auf den Sozialismus vorbereiten wollte. Aber Kinder waren in der DDR sehr früh in nach heutigen Standards unzureichenden Einrichtungen untergebracht, wo die eigene Stimme nicht zählte und sie lernten, sich unterzuordnen. Auch eine programmierte Kindheit ist autoritär. Der Zulauf zur rechtspopulistischen AfD in den neuen Bundesländern hat auch mit diesem Erbe zu tun.
Warum hat der Autoritarismus auf dem Land und bei Männern einen Überhang?
Renz-Polster: Das hat damit zu tun, dass das Land im kulturellen Wandlungsprozess immer ein bisschen hinterherhinkt, weil die Liberaleren und Jüngeren abwandern und die weniger Weltoffenen, Ängstlicheren zurückbleiben. Das sind zumeist Männer, denn die jungen Frauen gehen weg. Dazu kommt, dass auf dem Land das Movens des kulturellen Wandels fehlt: die Begegnung mit dem Anderen, und zwar in einem förderlichen, kooperativen Kontext. Dasselbe Problem wie bei der Landflucht haben wir bei der Binnenmigration in der EU, der Abwanderung von Ost nach West.
Insgesamt gehen wir heute besser mit Kindern um. Trotzdem gibt es einen Rechtsruck?
Renz-Polster: Wir haben heute zwar neue rechtspopulistische Parteien, und doch leben wir gerade in Mitteleuropa in den liberalsten, offensten Gesellschaften, die es auf diesem Boden jemals gab. Der AfD und der FPÖ zum Trotz haben autoritäre Haltungen abgenommen! Würden wir etwa die „Gastarbeiter“ heute so behandeln wie in der Zeit des Wirtschaftswunders? Nie und nimmer! Aber damals wurde der Autoritarismus politisch kaum aktiviert, weil es sozioökonomischen Rückenwind gab: gute Jobs, Aufstiegschancen, eine stabile Mittelschicht mit gemeinsamen Interessen. Heute aber wankt diese Anerkennungs- und Sicherheitsarchitektur: Im Zuge der Globalisierung hat der Staat an Sicherungskraft verloren, aus Facharbeitern sind Leiharbeiter geworden, die Männer fühlen sich durch Jobverlust und den Feminismus bedroht. Das führt dazu, dass Ängste stärker ansprechbar sind. Der Kettenhund, der keinen Anlass hatte zu bellen, ist erwacht.
Der Autoritarismus beginnt also sowohl innen als auch außen?
Renz-Polster: Genau, innen und außen sind hier untrennbar verbunden. Die Verletzlichkeit gegenüber externen Verlockungen wie den Sicherheitsangeboten rechter Parteien wird in der Kindheit angelegt. Ob sie zum Tragen kommt, hängt von äußeren Umständen ab. Ich verstehe die Kindheitsthese deshalb nicht als „neue Erklärung“ für den Autoritarismus, sondern als Ergänzung: Äußere Umstände sind Auslöser, die Ursache aber liegt in der Kindheit.
Wenn alles aus der Kindheit kommt, kann man dann nichts für seine Gesinnung?
Renz-Polster: Die Wege von der Kindheit zu unseren Gesinnungen sind vielfältig und haben viele Abzweigungen. Manche Menschen erleben später Beziehungen, die die ursprünglichen überschreiben, oder machen positive Erfahrungen in neuen Rollen. Manche Menschen, die eine harte Kindheit hatten, ziehen sich zurück und wollen nichts mit Politik zu tun haben. Andere suchen sich Menschen aus, die sie ausgrenzen können, wie etwa die Migranten. Erziehung begründet keinen Determinismus.
Welches Kindheitsgepäck bringen Migranten seit dem Herbst 2015 mit?
Renz-Polster: Da begegnet uns ein Paradox. Diese Migranten sind, als Gruppe betrachtet, selbst stark geprägt durch autoritäre Sozialisation, sodass es zu der fast schon kafkaesken Situation kommt, dass diejenigen, die die Flüchtlinge am meisten kritisieren, ihnen am ähnlichsten sind in punkto Homophobie, Antisemitismus oder Antifeminismus. Aber wenn zwei Fraktionen, die von Feindbildern leben, aufeinandertreffen, kommt es schwer zu Verbrüderungen. Dazu kommt: Wer in der Kindheit keine „Willkommenskultur“ erfahren hat, ist natürlich neidisch, wenn andere diese erleben. Auch hier zeigt sich das irrationale Moment, wenn am meisten kritisiert wird, dass die Flüchtlinge zum Beispiel Handys besitzen.
Wie sehen Sie die Situation des Rechtspopulismus in Österreich?
Renz-Polster: Österreich hat ein Problem. In Deutschland haben „nur“ 13 Prozent die AfD gewählt. Schwach abgeschnitten hat sie dabei vor allem bei den jungen Wählern. Auch Donald Trump hatte bei den unter 35-Jährigen nicht mal den Hauch einer Chance. Österreich hingegen macht mir Sorgen, weil die rechtspopulistische FPÖ sehr stark ist, aber auch die konservative ÖVP die Normen nach rechts verschiebt. Dazu kommt: Die Jungen stehen hinter der Programmatik beider Parteien! Die FPÖ war bei den Nationalratswahlen 2017 gar die beliebteste Partei unter den Jungen. Ich habe viele Studien angeschaut und darüber nachgedacht, warum das in Österreich so ist. Vielleicht ist die ländliche Struktur daran beteiligt, dass Erziehungshaltungen konservativer sind als etwa in Deutschland.
Sehen Sie auch bei den Protagonisten des aktuellen Ibiza-Skandals ein „Kindheitsmuster“?
Renz-Polster: Wenn man die Vergangenheit des zurückgetretenen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache recherchiert, stößt man auf eine von Beziehungsabbrüchen und autoritären Mustern belastete Kindheit: Der Vater verlässt die Familie, als der Bub gerade drei ist, mit sechs kommt er auf ein strenges Internat, mit 15 Schulabbruch, mit 17 findet er neue Väter in den Burschenschaften, deren Ideologie ihn anspricht. Zu Johann Gudenus habe ich vergleichsweise wenig gefunden, aber schon die Tatsache, dass er einen Vater hatte, der KZ-Überlebende offen verhöhnte, lässt tief blicken.
Mit welcher Erziehung vermeidet man die Entstehung autoritärer Persönlichkeiten?
Renz-Polster: Indem man die Kinder die bereits angesprochenen Grundlagen erfahren lässt: Anerkennung, Sicherheit und Zugehörigkeit. Die Botschaft muss lauten: Du bist okay! Du wirst nicht beschämt! Du darfst mitreden! Ich bringe dich nicht in Not! Wenn du Kummer hast, bin ich für dich da! Ich überlasse dich nicht emotionalen Stresssituationen, die du nicht bewältigen kannst!
Und wie bekämpft man Autoritarismus im institutionellen Bereich?
Renz-Polster: Kinder, die diese Sicherheiten in ihrer Familie nicht vorfinden, müssen sie in Einrichtungen wie Krippen, Kindergärten und Schulen erhalten mit der Botschaft: Wir stehen zu dir! Du kannst uns vertrauen! Wir haben verlässliche Beziehungen! Kinder verbringen heute mehr Zeit in Institutionen. Hier darf es deswegen nicht mehr nur um die Vermittlung von formaler Bildung und die Auslese von Gewinnern gehen, sondern muss den Kindern ein emotionales Fundament vermittelt werden: mit sich klarzukommen, mit anderen auszukommen, kreativ zu werden, eine Stimme auszubilden. Nur durch eine solche Erziehung zur Mündigkeit ist man geschützt vor autoritären Verlockungen.
Kirstin Breitenfellner in FALTER 22/2019 vom 31.05.2019 (S. 44)