https://www.msn.com/de-at/nachrichten/other/das-gute-alte-wien-gab-es-nie/ar-AA1DvoHR
Ein Phänomen, das nahezu alle in der Hauptstadt kennen: Echte Wiener:innen gibt es kaum. Nicht einmal die Hälfte der Bewohner:innen ist auch in Wien geboren. Viele der Zugereisten sind für die Ausbildung, das Studium, den Job oder die Liebe in die Hauptstadt gezogen und haben sich in Wien verschossen oder sind hier zumindest hängen geblieben. Einige von ihnen sitzen heute neben mir in der Redaktion von profil. Als gebürtiger Wiener habe ich gelernt, sie zu akzeptieren. Es bleibt mir auch nicht viel anderes übrig, sind die Zugereisten doch in der klaren Mehrheit (und alle meine Vorgesetzten gebürtige Bundesländler).
Was mich persönlich aber nervt, ist, wenn ein fantastisches Wien von früher herbeigeträumt wird. Im Wahlkampf passiert dies ständig: Ein Wien ohne Ausländer, ohne Kriminalität, ohne Sorgen.
Das war nie mein Wien. Keine Millionenstadt ohne Ärger, keine Weltstadt ohne Probleme.
Drogenhotspot gesucht
Ein markantes Beispiel für Sie zum Mitraten: Ich suche einen Ort in Wien, Sie kennen ihn bestimmt. Noch vor 15 Jahren war er der größte Drogenhotspot der Republik. 2009 schätzte Wien die Zahl der Menschen, die in der Öffentlichkeit Drogen konsumieren, in der ganzen Stadt auf etwa 300 Personen. 200 bis 250 von ihnen fanden jeden Tag an dem gesuchten Ort ihr High, je nach Tageszeit bis zu 180 Suchtkranke gleichzeitig. Der damalige Sicherheitssprecher der Wiener FPÖ, Johann Gudenus, schrieb in Aussendungen von „Drogendealern, Bettlermafia und sonstigen Gestalten“. Die Szenenmitglieder „tragen außerdem ganze Waffenarsenale mit sich, vom Gasrevolver zum Totschläger, Schlagringe, Messer sowie Elektroschocker und setzen diese angeblich auch ein.“ Und das an einem, gemessen an der Fahrgastzahl, größten Bahnhöfe des Landes.
Welcher Ort ist also gesucht? Der Karlsplatz.
Wo bis 2010 die offene Drogenszene herrschte, ist heute eines der Tore in die Innenstadt und ein eigenes kulturelles Zentrum mit der Technischen Universität, dem neu eröffneten Wien-Museum sowie in der Adventzeit einem der größten Christkindlmärkte der Stadt. Polizeipräsenz allein war nicht die Lösung: Erst durch die Umgestaltung der Karlsplatzpassage bei gleichzeitiger Betreuung der suchtkranken Personen (die Ressourcen im sozialen Bereich wurden etwa verdoppelt) wurde aus dem Drogenhotspot eine U-Bahn-Station, in der man sich am ehesten noch zur späteren Nachtzeit vor dem laut vorgetragenen Musikgeschmack betrunkener Jugendlicher fürchten muss. Gegen die Umgestaltung war damals übrigens die FPÖ: „Stadtgestaltung und Architektur können ihre direkte Umgebung zwar beeinflussen – an den grundlegenden Problemen werden sie jedoch nichts ändern können“, erklärte der damalige FPÖ-Gemeinderat David Lasar im April 2009.
Angstbild trifft Realität
Die FPÖ würde jetzt vielleicht anmerken, dass 2009 lange her ist und Wien erst danach so richtig kriminell wurde. Immerhin ist die Stadt seit 2010 um ein Fünftel gewachsen. Rund 340.000 Menschen mehr, das ist so viel, wie in Graz, Österreichs zweitgrößter Stadt, leben. Mehr Menschen, mehr Probleme, könnte man meinen.
Die Fakten sagen aber etwas anderes: Während die Stadt rasant wuchs, blieb die Zahl der angezeigten Straftaten (mit Ausnahme eines Einbruchs während der Corona-Jahre) recht stabil – trotz eines Booms an Internetkriminalität. 2010 wurden in Wien laut Kriminalstatistik 207.808 Straftaten zur Anzeige gebracht. 2024 waren es 194.981.
Dennoch ist Wien Österreichs gefährlichste Bundesland, wenn man etwa auf die Zahl der Straftaten gegen Leib und Leben blickt: Rund 12 solcher Gewaltverbrechen wurden 2022 in Wien pro 1000 Einwohner angezeigt, in keinem anderen Bundesland waren es mehr. Tendenz der Gewaltkriminalität: Steigend.
Wien leidet hier auch unter dem eigenen Erfolg, könnte man sagen. Denn sogar das Innenministerium selbst sieht in diesen „Häufigkeitszahlen“ bezogen auf die Wohnbevölkerung eine „gewisse Problematik“: Wo wenig Menschen wohnen aber viele arbeiten oder urlauben gibt es mehr Verbrechen pro Kopf. Deshalb führt im Bezirks-Vergleich der Straftaten pro Kopf in Wien konstant der 1. Bezirk. Und deshalb gibt es in der Bundeshauptstadt, in die täglich rund 200.000 Menschen einpendeln, deutlich mehr Verbrechen pro Kopf als im Burgenland.
Ist in Wien also alles gut? Nein, ganz und gar nicht! Ich bin, wie eingangs erwähnt, Wiener und als solcher raunze ich beinahe täglich über volle Öffis, blöde Verkehrsteilnehmer, Lärm, Hitze, Kälte, Regen oder Trockenheit. Ich fühle mich auch als Mann manchmal auf der Straße unsicher und frage Freundinnen abends, ob sie sicher nachhause gekommen sind. Das mache ich aber auch außerhalb meiner städtischen Heimat, wenn es mich einmal in den schönen Rest des Landes oder gar der Welt verschlägt.
Wien wächst rasant und hat genug Probleme. Nur weil am Sonntag Wahl ist, muss man nicht noch weitere erfinden und eine der sichersten Städte der Welt zum Krisengebiet erklären.