Liebe Leserin! Lieber Leser!
Das Ergebnis des Referendums in Großbritannien über Verbleib oder Austritt aus der Europäischen Union stellt ohne Zweifel eine Zäsur in der europäischen Integration dar. 51,9% der britischen BürgerInnen, die am 23. Juni ihre Stimme abgegeben haben, sprachen sich für den Austritt Großbritanniens aus der EU aus. Wenn das Vereinigte Königreich aus der EU austritt, wäre es das erste Mal, dass ein Mitgliedstaat die Union verlässt, und ein Zeichen dafür, dass die europäische Integration kein unumkehrbarer Prozess ist.
Das erste Mal in der Geschichte der EU entscheidet sich ein Mitgliedstaat für den Austritt aus der Gemeinschaft.
Die Ursachen für das Ergebnis des Referendums sind vielschichtig. Klar ist jedenfalls, dass das Ergebnis als Votum gegen eine Politik der Eliten verstanden werden kann. Die neoliberale Ausrichtung des britischen Wirtschaftsmodells, das auf einem stark finanz-marktorientierten Kapitalismus beruht, wurde im Zuge der Krisenpolitik weiter verschärft – insbesondere durch eine strikte Sparpolitik, die die britische Regierung seit 2010 durch-führt. Viele Menschen, die das Gefühl haben, von der Politik im Stich gelassen zu werden, sprachen sich für einen Austritt aus der EU aus – aus einer Union, die sich spätestens seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschafts-krise 2008 mit einem tiefgreifenden Vertrauens- und Legitimationsdefizit konfrontiert sieht. Es ist denkwürdig, dass ausgerechnet in Groß-britannien – einem der Vorreiter des Neoliberalismus – eine Mehrheit für einen Austritt aus der Europäischen Union votierte, deren politische Ausrichtung schon lange von einer Dominanz neoliberaler Wirtschaftspolitik geprägt ist. Welche Auswirkungen das Votum so-wohl auf Großbritannien als auch auf die Europäische Union haben wird, ist noch höchst ungewiss und steht nun im Mittelpunkt intensiver Debatten.
Viele stellen jetzt die Frage, ob die Reaktion auf das Brexit-Votum „mehr Europa“ oder im Gegenteil „weniger Europa“ heißen muss. Aus unserer Sicht ist das der falsche Ansatz: Es geht vielmehr um Frage, welche Europäische Union wir wollen. Zum einen darf Europa nicht zum Spielball nationalistischer Kräfte werden, die die Gesellschaften Europas spalten wollen. Zum anderen wäre es der vollkommen falsche Weg, die europäische Integration zu vertiefen, indem der gescheiterte neoliberale Kurs der EU fortgesetzt und weiter zugespitzt wird. Die bisherige fehlgeleitete Krisenpolitik – die insbesondere aus strikter Sparpolitik, Lohndruck nach unten und einseitigen Wirtschaftsreformen zur Erlangung von Wettbewerbsfähigkeit bestand – hat die Krise in der EU verschärft und das Vertrauen der europäischen BürgerInnen in die EU nachhaltig erodiert.
Ein Auseinanderbrechen der Europäischen Union kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Um es zu verhindern, muss die europäische Politik eine entschiedene Kehrtwende vollziehen. Aus Sicht der AK ist ein grundlegender Kurswechsel hin zu einem sozialen Europa erforderlich, indem Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und Ver-teilungsgerechtigkeit in den Mittelpunkt der europäischen Politik gerückt werden.
Die EU muss sich von ihrem neoliberalen Kurs verabschieden und einen Kurswechsel in Richtung eines sozialen Europas einleiten.
In dieser Sonderausgabe des infobrief eu & international wollen wir einen einen kom-pakten ersten Überblick über die Hintergründe des Referendumsergebnisses in Groß-britannien und dessen mögliche Auswirkungen bieten und darstellen, welche Schritte nach dem Brexit-Referendum gesetzt werden müssen, um den dringend notwendigen Kurs-wechsel in Richtung eines sozialen Europas einzuleiten.
Der erste Teil dieses Heftes widmet sich dem schon lange spannungsreichen Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU, stellt das Ergebnis des Referendums dar und analysiert, welche Ursachen zu dem Votum geführt haben könnten. Der zweite Teil analy-siert, welche möglichen Folgen das Referendumsergebnis nach sich ziehen könnte – in Bezug auf politische Entwicklungen, ökonomische Effekte und rechtliche Fragen. Wesentliche Eckpunkte des dringend notwendigen Kurswechsels, den die europäische Politik jetzt einleiten muss, beschreiben wir im dritten Teil.
Wir wünschen eine spannende Lektüre!
Éva Dessewffy, Frank Ey, Amir Ghoreishi, Christa Schlager, Nikolai Soukup, Norbert Templ und Alice Wagner
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