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Deutschland 1923

von Peter Longerich

ISBN: 9783222151026
Verlag: Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.11.2022
Preis: € 33,00

Kurzbeschreibung des Verlags:

Hyperinflation, Staatskrise, Hitler-Putsch: Ohn­mäch­tig wankt die junge deut­sche Re­pu­blik im Jahr 1923 Rich­tung Ab­grund. Der Ein­marsch fran­zö­si­scher Trup­pen ins Ruhr­ge­biet treibt Ex­tre­mis­ten von Rechts und Links auf die Bar­ri­ka­den, das Land steht vor Bür­ger­krieg und Dik­ta­tur. Es ist eine „Toll­haus­zeit“ (Stefan Zweig), in der sich Kri­sen­ge­winn­ler de­ka­den­ten Ver­gnü­gun­gen hin­ge­ben, wäh­rend die Be­völ­ke­rung ins Elend stürzt.
Kenntnisreich und gestützt auf reich­hal­ti­ge Quel­len er­zählt Zeit­his­to­ri­ker Peter Longe­rich die Chro­no­lo­gie eines Staats­ver­sa­gens. Da­bei se­ziert der Best­seller­au­tor nicht bloß Ur­sa­chen und Ab­läu­fe, son­dern auch die Fol­gen: das bis heute an­hal­ten­de In­fla­tions­trauma – und den Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lis­mus.

FALTER-Rezension:

"Es war ein verzweifeltes Abstrampeln"

Die Jahre 1923 und 2023 ähneln sich auf den ers­ten Blick. Zum Hun­dert­jahres­ge­den­ken sind gleich meh­rere Bü­cher zu die­sem schick­sals­haf­ten Jahr er­schie­nen. Den deut­schen His­to­ri­ker Peter Longe­rich in­ter­es­siert vor allem, wie Eli­ten in Kri­sen­zei­ten agie­ren - und er­schreck­end häu­fig auch ver­sagen.
Falter: Vertrauens-, Energie-, Flüchtlings-, Teuerungs­krise: Sie plä­die­ren in Ihrem neuen Buch "Außer Kon­trol­le" über das Jahr 1923 da­für, mit dem Be­griff "Krise" spar­sam um­zu­gehen. Warum?

Peter Longerich: Es ist ja ein geradezu ma­gi­scher Be­griff, der von Me­dien, aber auch von Wis­sen­schaft­lern sehr gerne ver­wen­det wird, der aber nicht sehr ana­ly­tisch ist. Er kommt dort zum Ein­satz, wo man mit dem Er­klä­ren nicht wei­ter­kommt. Als His­to­ri­ker inter­es­sie­ren mich Kri­sen eher als sich rasch ent­wickelnde Pro­zes­se, und ich fra­ge nach den po­li­ti­schen Hinter­grün­den und vor allem nach dem Han­deln und den Re­ak­tio­nen der Ak­teure, die Macht be­sitzen. Wenn die Krise erst ein­mal fort­ge­schrit­ten ist, kön­nen sie meist nur mehr rea­gie­ren und nicht mehr vor­aus­schau­end han­deln.

Wenn uns der Begriff überhaupt nicht weiter­hilft, ver­wen­den wir ihn dann nur als Aus­druck von Hilf­lo­sig­keit so oft?

Longerich: Eher als Aus­druck großer Zu­kunfts­ängste. Denn was heißt Krise wirk­lich? Wenn wir his­to­ri­sche Fäl­le be­mühen und ver­su­chen, sie in ihren Di­men­sio­nen auf heute zu über­tra­gen, dann wäre Krise, wenn wir tage­langen Strom­aus­fall hät­ten, große Men­schen­mas­sen plün­dernd und maro­die­rend durch die Straßen zie­hen oder mas­sen­haft ihre Woh­nung ver­lie­ren wür­den. All das pas­siert zum Glück ge­rade nicht. Im Grun­de geht es uns noch ganz gut. Wel­ches an­dere Wort wol­len wir ver­wen­den, wenn es wirk­lich so weit ist?

In Ihrem Buch zeigen Sie am Bei­spiel des Jahres 1923, dass eine Krise im­mer in vier Stu­fen ab­läuft. Be­vor wir ge­nau­er da­rü­ber spre­chen und da­rü­ber, was wir aus 1923 über 2023 lernen kön­nen, möchte ich Sie grund­sätz­lich fra­gen: Machen diese Jahres­zahlen­ver­glei­che über­haupt Sinn?

Longerich: Zu Jahresbeginn ist ja nicht nur meines, son­dern auch eine ganze Reihe an­de­rer Bü­cher zum Kri­sen­jahr 1923 er­schie­nen. Im Grun­de ge­nom­men ist es ein Ri­tu­al, an dem ich mich aber gerne be­tei­lige, durch­aus mit Ab­sicht, denn sol­che Er­in­ne­rungs­jahre füh­ren zu einer ge­wis­sen Fokus­sie­rung der De­bat­te über his­to­ri­sche Er­eig­nis­se. Ich hät­te die­ses Buch auch schon vor zwei Jah­ren ver­öf­fent­li­chen kön­nen, aber es wäre weni­ger wahr­ge­nom­men wor­den. Un­ab­hän­gig von sei­ner 100. Wieder­kehr ist das Jahr 1923 sehr inter­es­sant, vor al­lem für Deutsch­land, aber auch aus öster­reichi­scher Sicht, weil es zeigt, wie schnell ein Staat ins Kip­pen kommt.

In den 1920er-Jahren sind fast alle Strö­mun­gen und The­men der Mo­der­ne an­ge­legt: Femi­nis­mus, Sozi­a­lis­mus, Um­welt-und Lebens­re­form­be­we­gun­gen, Natio­na­lis­mus, In­dus­tri­a­li­sie­rung, Ur­bani­sie­rung. Sind sie des­halb so reiz­voll, selbst 100 Jahre spät­er?

Longerich: All das und die totale Wider­sprüch­lich­keit die­ser Ent­wick­lungen, die Un­be­rechen­bar­keit und Un­über­sicht­lich­keit sind da­mals schon vor­han­den, und wir kön­nen unser frü­heres ge­sell­schaft­li­ches Selbst wie in einem Spie­gel an­schauen. Das macht dieses Jahr­zehnt für uns so inter­es­sant. Wir sehen stark­e ge­sell­schaft­li­che Eman­zi­pations­be­we­gun­gen und eben­so starke Ge­gen­be­we­gun­gen, die dann in Deutsch­land 1933 tri­umphie­ren. Im Rück­blick sehen wir klar, wer die Guten und Bösen waren, wo­bei die Bösen na­tür­lich auch ge­glaubt ha­ben, dass sie die Guten sind.

Tauchen wir ein ins Jahr 1923. Eine Krise zeigt sich in ihrer ers­ten Stu­fe im­mer als struk­tu­rel­ler Kon­flikt. Wie war das da­mals?

Longerich: Die Deutschen fanden sich nach dem Ersten Welt­krieg - wie die Öster­reicher übri­gens auch -in einer neuen Staats­form wie­der, mit der große Teile der Be­völ­ke­rung nichts an­fan­gen konnten. Die Wei­ma­rer Repu­blik war bei vie­len un­be­liebt. So wie die Erste Re­pu­blik in Öster­reich. Die Ge­sell­schaft war ge­spal­ten, pola­ri­siert zwi­schen stark rech­ten und lin­ken Ex­tre­men, die sich auch in be­waff­ne­ten Ein­heiten zu­sam­men­schlos­sen, jeder­zeit putsch­be­reit. Wir haben die un­be­wäl­tig­ten öko­no­mi­schen Fol­gen des Krie­ges, mit hohen Re­pa­ra­tions­zah­lungen und der großen of­fenen Frage: Wer be­zahlt eigent­lich die Kriegs­kosten? Und wir haben tiefe Trau­ma­ta, auf per­sön­li­cher Ebene durch die Grauen des Krie­ges. Auf natio­na­ler Ebene gab es das Ge­fühl, un­ver­dien­ter­weise in einem Rumpf­staat zu leben, als Volk ge­de­mü­tigt wor­den zu sein. Deutsch­land war ein Land mit Mil­lio­nen von Wit­wen, Kriegs­opfern und Kriegs­ver­sehr­ten. Dass unter sol­chen Be­din­gun­gen eine Über­tra­gung von Ge­walt in die In­nen­poli­tik pas­siert, ist nicht über­ra­schend.

Auch heute ist immer wieder von einer ge­spal­tenen Ge­sell­schaft die Rede, die sich in ihren "Medien-Bub­bles" noch wei­ter radi­ka­li­siert. Ist das gen­au­so über­trie­ben wie das Kri­sen­ge­rede?

Longerich: Ich bin da vorsichtig, denn im Grunde ge­nom­men sind Ge­sell­schaf­ten im­mer irgend­wie ge­spalten. In den USA gibt es seit Jahr­zehnten starke rechts­kon­ser­va­tive und popu­lis­ti­sche Kräfte, Rechts­radi­kale und Rechts­ex­tre­misten, das be­gann nicht mit Donald Trump. Auch in Deutsch­land fin­den wir in den 1970er-und 1980er-Jahren star­ke Grup­pen­bil­dungen. Die CDU ist bei den Wah­len 1976 zum Bei­spiel mit dem Slogan "Frei­heit statt So­zi­a­lis­mus" an­ge­tre­ten, und na­tür­lich hat es auch eine linke Lager­bil­dung ge­ge­ben. So ge­sehen ist das also nichts Un­ge­wöhn­liches.

Was ist dann der Unterschied zu damals?

Longerich: Was damals noch gravierender war, war die Un­ver­söhn­lich­keit in den so­zial-mora­li­schen Milieus: Sozia­listen, Reak­tio­näre, Katho­liken, bür­ger­liche Libe­rale. Einer der schwers­ten poli­ti­schen Kon­flikte ent­zün­dete sich zum Bei­spiel an der Fra­ge der Auf­he­bung des Acht-Stun­den-Ar­beits­tages, für Ge­werk­schaf­ten wie Ar­beit­ge­ber eine Pres­tige­fra­ge mit ho­hem sym­bo­li­schem Wert. Dass zum Bei­spiel ein Katho­lik eine Nicht­katho­li­kin hei­ra­tete oder um­ge­kehrt, konnte einen Skan­dal aus­lösen. Die Ab­gren­zung zeigte sich nicht nur in der unter­schied­lichen "Welt­an­schauung", son­dern all­täg­lich in der Sprache, im Auf­tre­ten, bis zur Klei­dung. Das ging also viel tie­fer als heute.

Zu all diesen strukturellen Konflikten kommt 1923 dann die In­fla­tion. Noch eine Par­al­lele zur Ge­gen­wart?

Longerich: Ja, wobei wir auch da auf­pass­en müs­sen. In­fla­tion hieß da­mals Hyper­in­fla­tion. Das Geld ve­lor so viel an Wert, dass es als Zahlungs­mit­tel über­haupt nicht mehr funk­tio­nier­te, es wurde in Scheib­tru­hen herum­ge­fahren. Da­durch ver­lo­ren Men­schen jeg­liche Orien­tierung bei der Or­gani­sation ihres Lebens. Über Gene­ratio­nen Er­spar­tes war weg. Da­von sind wir heute noch weit ent­fernt. Wir sehen in An­sätzen, dass Men­schen Lebens­mit­tel auf Vor­rat kau­fen, viele machen sich Sor­gen, wie sie die Ener­gie­rech­nungen be­zahlen sollen. Aber da be­we­gen wir uns heute eher im Ver­gleich mit den 1970er-Jah­ren und der da­ma­li­gen In­fla­tion, die man poli­tisch als klei­ne­res Übel zu ver­kau­fen suchte, etwa mit­hilfe des be­kannten Aus­spruchs des da­ma­ligen sozial­demo­kra­tischen Bun­des­kanz­lers Helmut Schmidt: "Fünf Pro­zent In­fla­tion sind mir lie­ber als fünf Pro­zent Ar­beits­losig­keit."

Oder Bruno Kreiskys "Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als 100.000 Arbeitslose". In den 1920er-Jahren spitzte der Ausbruch eines territorialen Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich die Lage dann aber dramatisch zu. Damit tritt die zweite Krisenstufe ein, die aber immer noch keine echte Krise ist. Sie nennen sie den Vorraum zur Krise.

Longerich: Ja, diese Unterscheidung ist wichtig. In den Vor­raum der Krise tre­ten wir ein, wenn struk­tu­relle Kon­flikte kul­mi­nieren. In Deutsch­land pas­siert das 1923 mit dem so­ge­nannten "Ruhr-Kampf". Weil Frank­reich der Mei­nung war, dass Deutsch­land seine Repa­rations­zah­lungen nicht or­dent­lich leis­tete, be­setzte es 1923 einen Teil des deut­schen Staats­ge­bietes.

Lässt sich das mit der Invasion Russlands in der Ukraine ver­gleichen?

Longerich: Insofern, als damit das Moment einer äußeren Be­dro­hung hinzu­kam, denn die Be­setzung des Ruhr­ge­biets löste in Deutsch­land große Kriegs­ängste aus. Man fürch­tete, dass das zu einem neuen Krieg mit Frank­reich aus­arten könnte; während die poli­tische Rechte in einer sol­chen Es­ka­la­tion zum Teil den Schlüs­sel zur Lö­sung der Krise sah. Ak­tu­ell be­findet sich Eu­ro­pa damit also im Vor­raum einer Krise, denn es gibt doch eine weit­ver­brei­tete Angst, in diesen Krieg hinein­ge­zogen oder doch zu­min­dest von Kriegs­folgen gra­vie­rend ge­trof­fen zu werden. Da­mals war Kohle der Grund­stock der ge­samten Volks­wirt­schaft, von der Stahl­er­zeu­gung über die Eisen­bahn bis zum Haus­brand. Durch die Ab­sper­rung des Ruhr­ge­biets gab es keine Kohle mehr.

Eine weitere Parallele zur Gasversorgung aus Russ­land, die durch Putins An­griff auf die Ukra­ine ab­ge­schnit­ten wurde.

Longerich: Genau. Deutschland musste britische Kohle impor­tie­ren, mit ent­spre­chen­der Preis­steige­rung. Und na­tür­lich war da­mals auch das Kal­kül der rechts­ex­tre­men Mili­eus, dass sich die Un­zu­frie­denen zu­sam­men­rot­ten und die Lage es­ka­lie­ren las­sen, bis zum Staats­streich.

Es muss also mehr als ein Faktor zusammenkommen, damit eine Krise ent­steht und die drit­te Stufe ein­tritt: die Krise, die wirk­lich die Exis­tenz des Landes be­droht. Was kann die Poli­tik in so einer Phase tun?

Longerich: Wenig. Die Ereignisse des Jahres 1923 lehren uns, dass es in dieser Phase sehr schwer ist ge­gen­zu­steuern. Der eigent­liche Höhe­punkt der Krise von 1923 war ein ver­such­ter Um­sturz von Teilen der al­ten Eli­ten ge­mein­sam mit den Rechts­ex­tre­mis­ten, also der NSDAP unter ihren An­führern Adolf Hitler und Erich Luden­dorff. Das Mili­tär spielte eine un­durch­sich­tige Rolle. Aber dieser Ver­such schei­ter­te. Nach­dem Hitlers Putsch nieder­ge­schla­gen worden war, er­schienen auch alle ande­ren Staats­strei­che und Putsch­pläne obsolet.

Was aber, wie wir heute wissen, seine Machtübernahme dann doch nur um zehn Jahre ver­zögerte.

Longerich: Wir sehen zu Beginn des Herbstes 1923 zunächst Putsch­vor­be­rei­tungen rund um Berlin, sehr wahr­schein­lich mit Wis­sen der Reichs­wehr. Gleich­zei­tig zet­telt Hitler in Mün­chen Un­ruhen an. Die baye­rische Re­gie­rung ver­hängt den Aus­nahme­zu­stand, die Reichs­re­gie­rung rea­giert eben­falls mit einem Aus­nahme­zu­stand, der wie­derum den Ber­li­ner Putsch­ver­such ver­eitelt. Alles treibt nun auf die vier­te Phase der Krise zu, die eigent­liche Ent­schei­dung: Krieg, Bürger­krieg, Kampf aller gegen alle? Doch tat­säch­lich be­endet der miss­lun­gene Hitler-Putsch alle Um­sturz­be­stre­bun­gen, und es tritt eine wirt­schaft­liche und poli­ti­sche Stabi­li­sie­rung ein.

Was zeigt sich hier?

Longerich: Im Rückblick ist klar: Die Regie­rung in Berlin hat die Krise nur glück­lich über­standen. Sie und vor allem schon ihre Vor­gän­gerin hät­ten von vorn­herein scharf han­deln müs­sen, also etwa nicht dulden dür­fen, dass sich die Rechts­ex­tre­mis­ten unter dem Vor­wand des "Ruhr-Kampfes" be­waffnen und mobil­machen. Doch die Re­gie­rungen han­del­ten nicht vor­aus­schau­end, und Reichs­kanz­ler Gustav Strese­mann war schließ­lich völ­lig über­for­dert von der Situa­tion.

Als Sie dazu forschten, dachten Sie wohl nicht an den Sturm aufs Kapitol durch rechts­ex­tre­me Trump-An­hän­ger am 6. Jänner 2021.

Longerich: Soweit es seine Anhänger betrifft, war es ja eigent­lich ein of­fener Auf­stand, um einen ver­fassungs­mäßigen Wahl­vor­gang zu ver­hind­ern. Und es spricht ei­ni­ges da­für, Trumps An­sprache kurz davor als ver­suchten Staats­streich ein­zu­stufen. Noch sind die Unter­suchun­gen hie­rü­ber ja nicht ab­ge­schlos­sen. Doch wie auch immer, es gab keine Unter­stützung bei Poli­zei oder Mili­tär. Das ist ja ein ganz wesent­licher Unter­schied zu 1923.

Ein Hauptproblem in Krisen sind also Politiker, die überfordert bis hand­lungs­un­fähig sind. Genau­so wie Eu­ro­pa nach dem 24. Februar 2022?

Longerich: Und Politiker, die viel Zeit ver­lieren. Im Grunde ge­nom­men hät­te sich die Euro­pä­ische Union schon ein paar Wochen nach der rus­si­schen In­va­sion in der Ukra­ine auf die neuen Ver­hält­nis­se um­stel­len müs­sen. Es hat aber dann mo­na­te­lang ge­dauert, bis ent­schieden wurde, ob und wel­che Waf­fen ge­lie­fert wer­den oder wie man die ei­gene Be­völ­ke­rung vor den Preis­stei­ge­rungen schützt.

Hätte Europa nicht schon 2014, als Putin die Krim angriff, reagieren müssen?

Longerich: Das scheint mir aus heutiger Sicht genauso wenig ver­ständ­lich zu sein wie das Kri­sen­manag­ement im Jahr 1923. Wa­rum blieb man weiter­hin in der Ener­gie­ab­hän­gig­keit von Russ­land? Wie konnte man eini­ger­maßen freund­liche Be­zie­hungen zu Putin unter­hal­ten? Wa­rum haben wir prak­tisch jede mili­tä­ri­sche Rüs­tung ver­nach­lässigt? Gleich­zeitig stel­len Sie sich vor, je­mand hätte 2015 ge­for­dert, an­ge­sichts einer rus­si­schen Be­dro­hung auf­zu­rüs­ten. Er oder sie wäre wahr­schein­lich als der letzte Idiot da­ge­standen.

Und nicht als Hellseher. In Ihrem Buch beschreiben Sie das Ver­sagen der Poli­tik 1923 sehr ge­nau, es fehlt ein Macht­zen­trum, und am Ende herrscht mehr oder weni­ger Chaos. Um­ge­legt auf 2023: Ist die EU krisen­fest?

Longerich: Die Strukturen innerhalb der EU sind ja nicht auf rasche Ent­schluss­bil­dung, in der dann der Mehr­heits­stand­punkt kon­se­quent durch­ge­setzt würde, an­ge­legt. Das sieht man ja heute schon an den vie­len natio­na­len Allein­gän­gen. In einer viru­len­ten Kri­se wür­den die­se gan­zen euro­pä­ischen Mecha­nis­men ver­mut­lich außer Kraft ge­setzt und je­des Land wie­der für sich agie­ren. In Hoch­krisen hin­ken Gre­mien immer hinter­her, Ent­schei­dungs­trä­ger und ihr per­sön­li­ches Wol­len tre­ten in den Vor­der­grund. Das zeigt sich 1923 arche­ty­pisch. Doch auch diese Art von be­schleu­nig­ter, fast schon dik­ta­to­ri­scher Ent­schei­dungs­fin­dung führt nicht zu den ge­wünsch­ten Er­geb­nis­sen. Es wird eher nur noch schlim­mer. Im Nach­hi­nein hat man den Ein­druck eines ver­zwei­fel­ten Ab­stram­pelns. Denn mit oder ohne Gre­mien ist der Pro­zess nicht mehr steuer­bar.

Das heißt, solange alle zu ihren Ministerräten nach Brüssel fliegen, ist das ein gutes Zeichen?

Longerich: Ja, dieses gemeinsame Ringen zeigt uns, dass wir noch immer im Vor­feld der Krise sind. Wenn die echte Krise be­ginnt, dürfte ein anderer Mo­dus herr­schen. In An­sätzen haben wir das ganz zu Be­ginn der Pan­de­mie er­lebt. Die Ber­liner Re­gie­rung hat sich da­mals mit den Minis­ter­prä­si­den­ten kurz­ge­schlos­sen und die Par­la­mente völ­lig über­gangen. Aber wie man ge­se­hen hat, war das nicht un­be­dingt effek­tiver.

Wenn wir zusammenfassen: Was können wir, wenn überhaupt, aus dem Jahr 1923 für 2023 lernen?

Longerich: Die Konsequenzen sind so offen­sichtl­ich, dass sie sich fast schon banal an­hören. Wir sind, wenn man das his­to­risch ver­gleicht, noch nicht in einer schwer­wie­gen­den Krise, son­dern ver­suchen, die Aus­wir­kun­gen einer sol­chen großen Krise zu anti­zi­pieren. Man muss jetzt gegen­steu­ern, so früh wie mög­lich und auch, wenn es un­po­pu­lär ist. Man muss den Men­schen da­bei klar­machen, dass man das alles macht, um künf­tige große Krisen ab­zu­wenden. Die Pläne zur Ener­gie­wende lie­gen ja seit lan­gem auf dem Tisch, sind aber in der Ver­gan­gen­heit ver­nach­läs­sigt worden. Dann muss man na­tür­lich alles tun, damit die Men­schen durch die­se Phase kom­men, ohne zu ver­armen, was un­wei­ger­lich zu schwe­ren innen­po­li­ti­schen Kon­flik­ten füh­ren müsste. Und man muss sich kon­se­quent ge­gen die­jenigen ab­gren­zen, die die Krise für ihre Zwecke aus­nut­zen wol­len.

Sie klingen gar nicht so pessimistisch?

Longerich: Ich bin jetzt sogar wieder optimistisch. Wir sind mitten im Winter, und es läuft doch irgend­wie. Ein­mal mehr: Von einer Krise, in der die Exis­tenz un­se­res ge­sell­schaft­lichen und poli­ti­schen Sys­tems auf dem Spiel steht, sind wir noch weit ent­fernt. Aber das kann nicht heißen, dass wir die Hände in den Schoß legen.

Barbaba Tóth in Falter 1-2/2023 vom 13.01.2023 (S. 27)

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 11, 2023 9:48:00 PM Categories: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
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