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Revanche 

Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat

von Michael Thumann

ISBN: 9783406799358
Verlag: C.H.Beck
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.03.2023
Preis: € 25,70
Kurzbeschreibung des Verlags:

ARCHIPEL PUTIN - INNENANSICHTEN AUS DEM BEDROHLICHSTEN REGIME DER WELT

Kaum einer kennt Russland besser als Michael Thumann, der seit über 25 Jahren aus Osteuropa für die ZEIT berichtet. Er legt nun ein atemberaubend geschriebenes Buch vor, das Russlands Absturz in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nach­zeich­net. Das Motiv des Dik­ta­tors und sei­ner Ge­treuen: Re­van­che zu neh­men für die demo­kra­ti­sche Öff­nung nach 1991 und die ver­meint­liche Demü­ti­gung durch den Wes­ten. Putins Herr­schaft radi­kali­siert sich wei­ter. Es ist das be­droh­li­chste Re­gime der Welt.

"Unter Wladimir Putin verabschiedet sich ­, das ei­gent­lich größte euro­pä­ische Land, aus Eu­ro­pa. Er­neut senkt sich ein Eiser­ner Vor­hang quer durch den Kon­ti­nent. Reise ich in die­ses Land, werde ich am Flug­ha­fen in al­ler Re­gel auf­ge­halten. Der Grenz­beamte hält mei­nen Pass fest und tele­fo­niert lange mit sei­nen Vor­ge­setz­ten. Ein Men­sch im dunk­len An­zug, wahr­schein­lich Ge­heim­dienst, holt mich ab und führt mich in einen Kel­ler­raum. Da­rin ein Schreib­tisch, eine alte Ma­trat­ze mit Sprung­fe­dern, ka­put­te Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fra­gen be­ant­wor­ten: Wo wohnen sie? Was den­ken sie über die Mili­tär­ope­ra­tion? Was haben sie vor in Russ­land? Ich ant­worte knapp und frage mich selbst: Kom­me ich über­­haupt noch in das Land? Und kom­me ich wie­der he­raus?"
Michael Thumann

Russlands Absturz in die Diktatur und der Weg in Putins im­peria­­li­s­ti­­schen Krieg – in ei­nem fes­­seln­­den Mix aus jour­­na­­lis­ti­scher Re­por­­tage und poli­­ti­sch-his­­to­ri­­scher Ana­­ly­­se
Michael Thumann ist einer der letz­ten deut­schen Kor­­respondenten, die noch in Moskau leben
Das Buch basiert auf zahl­reichen Be­geg­nun­gen und ex­klu­si­ven Ge­sprä­chen mit Pro­ta­go­nis­ten der rus­si­schen Poli­tik und Ge­sell­schaft

FALTER-Rezension

Reisebericht für echte Russlandversteher

Sebastian Kiefer in FALTER 13/2023 vom 31.03.2023 (S. 17)

Westeuropa wiegte sich lange in der süßen Illu­sion, die Welt werde, wenn man nur freund­lich ge­nug bliebe, bald wie Europa wer­den - Krieg würde dann kein Mit­tel der Poli­tik mehr sein, Kon­flik­te über­all per Di­plo­ma­tie und Ver­trag ge­re­gelt, der Se­gen des Freihandels die Men­sch­heit ver­söh­nen. Dass nur der ato­mare Schutz­schild der USA die im­peria­lis­tische Aggres­si­vi­tät der ­begrenzte, unterschlug man gern.
Michael Thumann, langjähriger Moskaukorrespondent der Zeit, ahnte früh, dass Wladimir Putin die europäischen Illusionen zerstören werde. Er traf Putin das erste Mal 1999, als der Krieg in Tschetschenien Putin die Präsidentschaft gesichert hatte. Heute sieht Thumann das tschetschenische Schreckensregime als "Versuchslabor", in dem die Umwandlung Russlands in einen revanchistischen, schrankenlos korrupten Terrorstaat erprobt wurde. .

Seit je bewunderte Putin wie so viele Rus­sen star­ke, ge­walt­be­rei­te Füh­rer, die nach Re­van­che für mehr ge­fühl­te denn reale Krän­kungen der ei­ge­nen Größe dür­sten. In den 2000er-Jah­ren gab sich Putin zu­nächst mit ei­ner "hy­bri­den" Ord­nung aus auto­kra­ti­schen Ele­men­ten, so­zia­len Wohl­ta­ten und re­prä­sen­ta­ti­ven Bau­pro­jek­ten zu­frie­den - die hohen Roh­stoff­pre­ise er­mög­lich­ten pater­na­lis­ti­sche Wohl­stands­illu­sio­nen, wäh­rend die öko­no­mi­sche und zi­vi­le Mo­derni­sie­rung aus­blieb.

Den Umschwung brachte für Thumann der Winter 2011/12: Landes­­weit pro­­tes­­tier­­ten hun­­dert­­tau­­sen­de Rus­­sen ge­­gen die dreist ge­­fälsch­­ten Wah­­len. Putin war fas­­sungs­los. Jetzt erst ent­­deck­te er das Ins­­tru­­ment des von Para­­noia und Krän­­kung dik­­tier­­ten, eth­­nisch ge­­grün­­de­­ten Natio­­na­­lis­mus, um den Zorn des Vol­­kes um­zu­­len­­ken auf ei­­nen Feind, dem man - wie­der ein­­mal - alle Schuld am rus­­si­schen De­­sas­ter zu­­schrieb: dem "Wes­ten", wahl­­weise als Libe­­ra­­li­s­mus, Säku­­lar­is­­mus, Par­la­­men­tarismus, als EU, USA oder Nato zu ver­stehen.
Zu Beginn seiner Amtszeit gab Putin zumindest im Westen vor, Russ­land so umzuwandeln, dass es einmal Teil der westlichen Bündnisse werden könne. Putin hatte nichts dagegen, als unter seinem Freund Kanzler Gerhard Schröder (der sich, zuvor Atheist, Putin zuliebe eigens in der Erlöserkathedrale bekehren ließ) sieben osteuropäische Länder der Nato beitraten, doch seit den Massenprotesten lancierte Putin die Mär von der Bedrohung Russlands durch die Nato -eine propagandistische Bedrohungshalluzination, die Kollektive zusammenschweißt und künftige Angriffskriege als Verteidigungsmaßnahmen rechtfertigen lässt.

Putin setzte bei der Lancierung dieser Legende auf Bündnisse mit Rechts-und Linkspopulisten Europas und allemal auf die Deutschen und ihr gebrochenes Verhältnis zur angelsächsischen Liberalität. Thumann erinnert daran, wie überraschend stark hier alte geostrategische und kulturelle Identitätskonstruktionen Deutschlands reproduziert wurden: Im Vertrag von Rapallo 1922 ging die junge Weimarer Republik, verführt vom hyperkonservativen Diplomaten Adolf Georg Otto "Ago" von Maltzan, ein antiwestliches Bündnis mit den Bolschewiki ein.

So durchbrachen sie ihre internationale Isolation. Das Ergebnis: "Deutsche Technik ging nach Russland, zurück floss russisches Öl": "deutsche Linke und Konservative [feierten] Rapallo als Triumph über den liberal-kapitalistischen Westen".

Putins nationalistische Wende ist für Thumann Teil des globalen Phänomens des "Neuen Nationalismus", dem er 2020 ein eigenes, lesenswertes Buch widmete: Viktor Orbán, Erdoğan, sogar Donald Trump waren ursprünglich liberale Geister und wurden nicht aus gewachsener Überzeugung, sondern aus zynischem Machtkalkül zu Nationalisten. Sie bedienen sich alter, antiliberaler Rhetoriken, um kollektive Energien zur Verteidigung verlorener nationaler Größe zu mobilisieren und zu kanalisieren - doch letztlich glauben sie nur an eine einzige Sache: an ihr zwischen Größenwahn, Kränkung und Aggressivität schwankendes Ego. Über die Kontrolle der Massenmedien implantieren sie ihre hoch emotionalisierten, von rohem Freund-Feind-Denken strukturierten Ersatzrealitäten in die Gehirne ihrer Anhänger.

In eingestreuten Reportageminiaturen führt Thumann vor, wie bestürzend distanzlos sogar gebildete Russen die propagandistisch erzeugten, massenmedial verbreiteten Ersatzrealitäten internalisierten. Thumann führt uns auch ins Jelzin-Museum in Jekaterinenburg. Jelzin ist für Thumann der tragische Antiheld und als solcher ein Symbol Russlands schlechthin: Groß an Mut und Herz, schwach in Organisation und Zukunftsgestaltung stieß er das Tor zur Freiheit und Moderne auf, dann kollabierte er, in Korruption und Alkohol versinkend, und gab Russland erschöpft in die Hände des (Ex-)Geheimdienstlers und Autokratenanbeters.

Thumann lehrt, was es für einen rationalen Weltbürger heißt, ein wahrer "Russlandversteher" zu sein: Ein solcher verfällt weder in Opfer-Täter-Ideologien noch in pauschale Dämonisierungen. Er macht im Wechsel von einfühlender Teilnahme und historisch reflektierender Außensicht verständlich, was so schwer zu begreifen ist: weshalb alle unter Jelzin gehegten Hoffnungen auf eine friedliche Demokratisierung und Modernisierung Russlands implodierten und aus Russland neuerlich ein imperialistischer Führer-und Terrorstaat werden konnte.

Es wäre nicht möglich gewesen, wenn die Westeuropäer nicht im Wachtraum von einer globalen Handels-und Friedensordnung ohne Despoten und Revanchisten gefangen gewesen wären.

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 30, 2023 9:53:00 PM Categories: Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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günstige intelligenz 

hybride poetik und poetologie

von Jörg Piringer

ISBN: 9783854156505
Verlag: Ritter Klagenfurt
Format: Buch
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 13.10.2022
Preis: € 27,00
Kurzbeschreibung des Verlags:

Jörg Piringer investierte 5,60 Euro in einen Online-Dienst, um die Leistungs­fähig­keit des neuro­nalen Netz­werks gene­ra­tive pre­trained trans­former (GPT in der Ver­sion Nr. 3) mit di­ver­sen Schreib­auf­trägen zu tes­ten. Die Er­geb­nis­se die­ses wohl­feilen Ex­peri­ments doku­men­tiert der vor­lie­gende Band. Ge­dichte nach be­stimmten Vor­gaben oder ein gan­zer Kata­log von Trans­for­ma­tionen eines vor­ge­ge­be­nen Ge­dichts in einen Ge­setze­stext, ein Gebet, einen Wiki­pae­dia-Ar­tikel, in einen Glücks­keks­spruch oder einen Donald-Trump-Tweet be­zeu­gen die Stil­sicher­heit der Künst­lichen Intel­li­genz, die Piringer auch einem Intelli­genz­test (Sprach­kom­pe­tenz­auf­gaben) unter­zieht, bei dem diese aller­dings mit einem unter­durch­schnitt­lichen Er­geb­nis ab­schneidet. Piringer setzt die von GPT-3 er­stell­ten Poesie-Doku­mente in Be­zie­hungen zu his­to­ri­schen, ana­logen Kombi­na­to­ri­ken oder den Her­vor­brin­gungen von Schizo­phrenen und macht Dif­ferenz­kri­terien sicht­bar zwi­schen „ins­pi­rier­ter“ Pro­duk­tion ge­gen­über jener der Pro­gramm­rou­tine, der die Fähig­keit, „Wort­witz“ und se­man­ti­sche Dop­pel­bö­dig­keit zu „ver­ar­beiten“, voll­ends fehlt.
Vorzüge des nicht computerunterstützten Schreibens bringt Piringer umso be­herz­ter in sei­nen genu­inen Ge­dich­ten wie dich­te­risch-essay­is­tischen Re­flexi­onen zur Gel­tung: Mit la­ko­ni­schen Poin­ten be­spricht er die Insel­be­gabung der Ma­schine, Pro­bleme des im­men­sen tech­ni­schen und öko­no­mi­schen Auf­wands beim Trai­nieren von Neuro­na­len Netz­wer­ken so­wie der Defi­ni­tions­macht in Bezug auf Al­go­rithmen und nicht zu­letzt die tief­grei­fen­den so­zi­alen Im­pli­ka­tio­nen der KI-Poe­sie für den Autor als Re­dak­teur und „Maus­klicker“.
Jörg Piringers günstige intelligenz ist ein geist­reicher und unter­halt­samer Zwi­schen­be­richt über den Stand com­puter­fabri­zier­ter Dich­tung heute, die in punkto äs­the­ti­sche Kom­plexi­tät und Inno­va­tion so­wie in­halt­liche Subs­tanz der human­gene­rier­ten Lite­ra­tur nach wie vor – in durch­aus be­ruhi­gen­dem Ab­stand – hinter­her­hinkt.

FALTER-Rezension

Dominika Meindl in FALTER 8/2023 vom 24.02.2023 (S. 32)

Bots spuckten früher unfreiwillig komische Texte aus. Dann fuhr ChatGPT wie ein Sturm ins Feuil­leton. Schon zuvor hat der Wiener Daten­poet Jörg Piringer sein lite­ra­ri­sches Spiel mit künst­li­cher Intelli­genz ver­öffent­licht. Für 5,60 Dollar kaufte er sich eine frühe Ver­sion des Chat­bots. Er füt­ter­te ihn mit der An­wei­sung, ein Ge­dicht im Stil Trumps, Handkes oder eines Glücks­keks­spruchs zu schrei­ben. Die Er­geb­nis­se sind oft er­schreckend ge­lungen.

Sein Buch stellt große Fragen nach Autorschaft, Kreativität, Bewusst­sein und Macht. Denn welche Kon­zerne trai­nieren die Pro­gram­me? Der Autor hat 2020 die Jury des Bach­mann-Wett­be­werbs mit der Frage ver­un­sichert, ob nicht eine künst­liche Intelli­genz Ver­fas­serin sei­nes Bei­trags sei. Wüsste eine KI-Re­zen­sion Pirin­gers Witz und Sprach­ver­ständ­nis wohl zu würdigen?

Posted by Wilfried Allé Tuesday, March 21, 2023 9:12:00 AM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Frühling 

Die Jahreszeiten-Kochschule

von Richard Rauch, Katharina Seiser

ISBN: 9783710600371
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Ratgeber/Essen, Trinken/Themenkochbücher
Umfang: 248 Seiten
Erscheinungsdatum: 05.02.2018
Fotograf: Joerg Lehmann
Preis: € 34,90
Kurzbeschreibung des Verlags:

Knackiger Salat & Wildkräuter, Rhabarber, Kirschen & Blüten, festliche Mehl­spei­sen, Huhn, Eier und köst­liche Bra­ten für die Oster­zeit: Im Früh­ling ist die Vor­freude groß und der Höhe­punkt, der erste Spar­gel, nicht mehr weit! Basis ist die öster­reichi­sche Küche, von Lieb­lings-Klas­si­kern bis zu krea­ti­ven Weiter­ent­wick­lungen. So ein­fach war sai­so­nal kochen noch nie! Wie in den ers­ten drei Bän­den be­währt, zeigt der vierte Band der Jahres­zeiten-Koch­schule, wie man aus dem Bes­ten, was uns der Früh­ling schenkt, köst­li­che Mahl­zei­ten zu­be­rei­tet – Freude am Kochen und Er­folgs­er­leb­nis­se in­klu­diert. Jeder Band ist eigen­stän­dig, die Reihe eig­net sich ideal zum Sam­meln und Ver­schen­ken. Viele Tipps, Tricks und waren­kund­liche In­for­ma­ti­onen run­den den Band ab. Das per­fekte Ge­schenk für alle Koch- und Ge­nuss-Be­geis­ter­ten!
 

FALTER-Rezension:

Süßes, Schnelles, Gesundes, Gewichtiges

Armin Thurnher in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 47)

Wie läuft der Kochbuchhase dieses Ostern? Viele Haken schlägt er nicht. Ich kann nur eine domi­nante Haupt­rich­tung er­ken­nen: schnell. Das will ich nicht ge­ring­schät­zen. Etwas Gutes und Ein­faches zu kochen ist meis­tens mehr zu empfeh­len, als sich ohne techni­sche Vor­aus­set­zungen an irgend­wel­chen Sonn­tags­krea­tionen ab­zu­arbei­ten.
Vielleicht kann man sagen, jetzt, da es die Haus­frau nur mehr in der Phan­ta­sie auto­ri­tärer Regie­rungs­par­teien gibt, kehrt die alte Haus­frauen­küche in schicker Ge­stalt wie­der zu­rück und tut so, als richte sie sich haupt­säch­lich an flot­te Jung­ge­sel­len.
Klassische Kochbücher gibt es in jeder Saison. Manch­mal ist auch ein Werk da­bei, wel­ches das hier nicht un­gern ge­brauchte, aber sel­ten an­ge­wandte Prä­di­kat „monu­men­tal“ ver­dient. Wie viele Bü­cher über Wie­ner Küche gibt es, die einan­der mehr oder weniger glei­chen? All­zu viele. Ingrid Has­lin­gers Die Wie­ner Kü­che ist anders. Has­lin­ger hat ein um­fas­sen­des Werk vor­ge­legt. Wie die Wie­ner Kü­che ent­stand (als Misch­ku­lanz), wie sie sich ent­wickelte, wie sie ihrer­seits wirkte. Und na­tür­lich, wie we­nig in Wahr­heit, allen Re­nais­sancen zum Trotz, von ihr übrig ist. Die Re­nais­sance des ge­koch­ten Rind­fleischs ist er­freu­lich, aber vari­anten­arm aus­ge­fal­len. Und „wo gibt es noch Sar­del­len-, Zwievbel-, Knob­lauch-, Gur­ken- oder Sau­er­ampfer­soß? Man be­kommt sie eben­so­wenig wie Stürz­erd­äpfel, Para­deis­erd­äpfel, Majo­ran­erd­äpfel etc.“. Außer solchen lässt dieses Buch nicht viele Fragen of­fen. Die (his­to­ri­schen) Re­zepte sind darin am wenigsten wich­tig, aber auch sie gibt es.

Lisa Nieschlag und Lars Wentrup lie­fern ein Buch aus an­de­rem Holz: New York, ­Capi­tal of Food. Hier geht es um Ak­tu­a­li­tät, hier ist man am Puls der Zeit. Nette jun­ge Men­schen spa­zie­ren durch eine son­nige Groß­stadt und pick­nicken im Cen­tral Park vor der Sil­hou­ette freund­licher Hoch­häuser. Da­zu gibt es das Spek­trum des in New York ge­ges­se­nen Es­sens, von Pas­tra­mi-Sand­wich bis Chicken à la King; manch­mal wäre man froh über die eine oder an­dere Er­klä­rung mehr und das eine oder an­dere lite­ra­ri­sche Ein­spreng­sel we­ni­ger. Wer New York als die raue, wilde und bit­tere Haupt­stadt des 20. Jahr­hun­derts liebt, dem ist die­ses Buch viel­eicht zu lieb­lich.
Entlang der Küste von Lucio Galletto und David Dale hebt mit histo­ri­schen Sätzen nach die­sem Muster an: „Die Inne­reien der Fische sam­melten sie (die Grie­chen) und mach­ten da­aus eine Sauce, die sich auch bei den Rö­mern, die 300 Jahre spä­ter dort lan­de­ten, größter Be­liebt­heit er­freute.“ Tja, 300 Jahre alte Sau­cen kön­nen ihren ei­ge­nen Charme ent­fal­ten. Aber das Buch hat schö­ne Fo­tos und gute Re­zep­te. Es wid­met sich Ge­rich­ten drei­er be­nach­bar­er Oliveröl­regio­nen: Kata­lo­nien, Prov­ence, Li­gurien. Und es prä­sen­tiert seine Re­zepte seriös und an­regend, mit schönen Varia­tio­nen, etwa der Bourride, einer Fisch­suppe aus weißen Fischen mit Aioli, oder der Pis­sa­laderia mit Sar­del­len und Zwie­beln.

Ein prunkvolles Kochbuch hat die Besatzung des Wiener Restau­rants Melo­grano in der Blumen­stock­gasse im 1. Bezirk heraus­ge­bracht. Autor Roberto d’Atri setzt seiner Gastro­nomen­fami­lie ein üppi­ges Fami­lien­denkmal; wir finden darin Wer­bung für das fami­lien­eigene Lo­kal, aber auch es­sen­ziel­le itali­eni­sche Re­zepte.
Hugh Fearnley-Whittingstall – der Name wird alle Freun­dinnen vege­tari­schen Kochens auf­horchen las­sen. Zu Recht! Der eng­lische Food­jour­na­list und Kult­koch bringt schon wieder 200 vege­ta­ri­sche Ge­richte, die ein­fach nach­zu­kochen sind und auf die man trotz­dem sel­ber nicht ge­kom­men wäre. Außer­dem macht er’s uns vegan, er ver­zich­tet fast ganz auf Käse, But­ter, Rahm, Eier, raf­fi­nier­ten Zucker und viele Kohlen­hy­drate – ein Tri­but an die zu­neh­mende Zahl der Aller­giker, aber auch an öko­lo­gisch kor­rekte Er­näh­rung. Fearnley-Whitting­stall ist immer eine Bank.
Katharina Seiser und Richard Rauch haben ihre Jahres­zeiten-Koch­schule mit dem Kapi­tel Früh­ling voll­endet. Der Ver­lag hat damit ein Kom­pen­dium zeit­ge­mäßer Haus­manns­kost (darf man das noch sagen?) ab­ge­schlos­sen, in dem sich Dinge wie Kalbs­nieren­braten (einer meiner All-Time-Favo­rites) und Schnit­zel eben­so fin­den wie ge­schmor­tes Milch­ziegen­kitz mit Fen­chel, Süß­kar­tof­feln und Sumach. Dass auch Mai­wipferl­sirup und ein­ge­legte Nüsse vor­kom­men, spricht eben­so für das Buch wie die Aus­wahl zu Ostern und die An­regung, Blät­ter­teig bei Creme­schnit­ten selbst zu machen oder wenigs­tens frisch zu ver­wenden.

In der folgenden Abteilung muss es schnell gehen. Sandra Schumann: Speed Cooking; die Koch­schule von Katha­rina Siere und Su­san­ne Boden­steiner: Feier­abend­food; Jan-Philipp Cleusters: Kochen für Faul­tiere; Ale­xander Herr­mann: Schnell mal was Gutes sind in auf­stei­gen­der Weise kom­plex, wenn auch alle nicht nur um Schnellig­keit, son­dern auch ums Kochen be­müht sind. Ge­schwin­dig­keit oder Geist – manch­mal müs­sen sie nicht ein­mal Wider­sprü­che sein. Aber wirk­lich ge­kocht wird dann doch erst bei Herr­mann und Cleusters. Da­für braucht man, horri­bile dictu, doch et­was Zeit. Ei­lige Es­ser fin­den An­re­gun­gen auch in den bei­den an­deren Bü­chern.

Wo Ottolenghi draufsteht, greift der Fan sowieso zu. Ottolenghi wurde mit seinen Riesen­baisers be­rühmt, später mit seiner ge­sunden, modern-orien­ta­li­schen Kü­che. Dass er nun mit sei­nem ge­mein­sam mit Helen Goh ver­fassten Süß­speisen­buch Sweet gegen Gesund­heits­vor­schriften ver­stößt, weiß er und macht es zum Thema. Aber, ver­dammt noch mal, wenn es so gut schmeckt, dann ver­län­gert das Wohl­gefühl das Leben um exakt jene Frist, um die sie der Zucker ver­kürzt (wie ameri­ka­ni­sche Stu­dien ge­zeigt haben oder noch zei­gen wer­den). Die Fotos und die Re­zepte geben im übri­gen den Fans recht. Ich bin auch einer.
Der Wiener Jürgen Vsetecka leitet die Back­ab­tei­lung bei Meinl am Graben. Sein Buch heißt Süßes vom Chief of Sugar, weil er unter die­sem Titel für das Gusto-Juniorinnen-Maga­zin Lola schreibt. Vsetecka lernte unter anderem in der Kur­kon­di­to­rei Ober­laa, nicht der schlech­tes­ten Adres­se. Sein klei­nes, aber feines süßes Koch­buch er­freut mit ori­gi­nel­len Tar­te­lettes (Mispel-Gänse­blümchen), guten Ideen für Schnit­ten und Ku­chen (Gra­nat­apfel­schnit­ten), diver­sen Baiser­varia­ti­onen und fei­nen Creme­­ideen (Quit­ten­creme mit Zitro­nen­melis­sen-Pesto).
Warum Eva Fischers Buch Pizza hier, in der Ab­tei­lung Süßes lan­det, ist leicht er­klärt. Ihr ori­gi­nel­ler Ab­satz lau­tet: Alles, was be­legt werden kann, ist eine Pizza. Gut, vom Butter­brot nimmt sie Ab­stand, aber sonst findet aller­lei Be­leg­tes Auf­nahme in ihr durch­aus lesens­wer­tes Werk, an dem nur etwas zu viel Hygge stört, das da­für aber mit An­re­gun­gen wie jener für einen Blumen­kohl­teig ent­schä­digt. Manche von Fischers „süßen Pizzen“ sind halt ein­fach, ohne Wohl­fühl­brille be­trachtet, nur Kuchen.
Um das zu erkennen, würden wir Ashley Bloms ori­gi­nel­les Büch­lein Und wie soll man das Es­sen? nicht brauchen. Es bie­tet wit­zige An­lei­tung von Hummer­knacken bis Mango­schälen. Der Mandel­baum Ver­lag er­freut uns wieder durch zwei seiner ele­gant-schlich­ten Mono­gra­fien: Tat­jana Y. Silla:­ ­Basi­li­kum und Margot Fischer: Weichsel Sauerkirsche.

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

Pizza ohne Reue - Gesund & einfach

Süßes vom Chief of Sugar - Fruchtige Ver­führungen

Entlang der Küste - Die Küche des Mittel­meeres

Und wie soll man das essen?

New York - Capital of Food - Rezepte und Ge­schichten

Viel mehr vegetarisch! - 200 neue Rezepte aus dem River Cottage

Die Wiener Küche - Kultur­geschichte und Rezepte

Weichsel/Sauerkirsche

Basilikum

Kochen für Faultiere - In 8 Minuten gesund und frisch gekocht

Feierabendfood - 70 After-work-Rezepte zum Runter­kommen – von Vorrats-Quickies bis Luxus-Soulfood

Schnell mal was Gutes - Rezepte für den Feier­abend

SWEET - Süße Köst­lich­keiten

Posted by Wilfried Allé Sunday, March 19, 2023 9:59:00 PM Categories: Ratgeber/Essen Trinken/Themenkochbücher
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Wien - Eine Stadt im Lockdown 

Erleben Sie Wien als Geisterstadt, gezeichnet durch den Lock­down, an­hand von mehr als 100 be­ein­drucken­den Auf­nahmen in diesem Bild­band, den man als Zeit­doku­ment be­zeich­nen kann.

von Peter Haselroida

ISBN: 9783991250609
Verlag: Buchschmiede
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/Biographien, Autobiographien
Umfang: 130 Seiten
Erscheinungsdatum: 04.10.2022
Preis: € 29,90
Kurzbeschreibung des Verlags:

Den 16.3.2020 werden die Wiener immer in Er­­inne­­rung be­­hal­­ten. An die­­sem Tag tritt zum ers­­ten Mal in der Ge­­schichte unse­res Lan­des ein von der Bun­des­­re­­gie­­rung an­­ge­­ord­­ne­ter Lock­­down in Kraft, um die Aus­­brei­­tung des COVID-19 Vi­­rus ein­zu­­däm­men und da­­durch eine Über­­las­­tung der In­­ten­­siv­­sta­ti­­onen in un­seren Kran­­ken­­häu­­sern zu ver­mei­den.

Vor diesem Tag war es für uns nicht vor­­stell­­bar wo­chen­lang in einer „Geis­ter­­­stadt“ zu le­ben, un­se­­re Liebs­­ten nicht tref­­fen und un­se­­rem ge­­re­gel­­ten Le­ben nicht mehr nach­­zu­ge­hen zu kön­nen.

Die Wiener folgten den neuen Ver­ord­nun­gen, denn nie­mand wus­ste Nä­he­res über die­ses neu­ar­ti­ge Vi­rus, Pfle­ge­kräf­te als auch die Poli­zei und die Sys­tem­er­hal­ter wur­den be­klatscht und be­ju­belt. Abends saßen Musi­ker an ihrem Fens­ter, auf ihrem Bal­kon oder in ihrem Gar­ten und ver­an­stal­te­ten Gratis­kon­zerte. Die Poli­zei spielte „I am from Aus­tria“ über die Laut­spre­cher der Ein­satz­fahr­zeuge, die Wie­ner hiel­ten zu­sam­men und mach­ten es sich zu­hau­se so ge­müt­lich es ging. Viele waren im Home­of­fice, die Schu­len waren ge­schlos­sen und vie­le El­tern küm­mer­ten sich zu­hause um Ihre Kinder.

Alle hofften auf eine baldige Rück­kehr zur Nor­ma­li­tät.

Die Fotos in diesem Bildband sind Zeit­do­ku­mente die uns blei­bend eine Rea­li­tät vor Au­gen hal­ten, wie wir sie nicht für mög­lich hiel­ten.

Posted by Wilfried Allé Sunday, March 12, 2023 10:35:00 PM Categories: Autobiographien Sachbücher/Geschichte
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Klassenkampf von oben 

Angriffspunkte, Hintergründe und rhetorische Tricks

von Natascha Strobl , Michael Mazohl

Reihe: Varia
ISBN: 9783990464649
Verlag: ÖGB Verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 268 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.11.2022
Preis: € 29,90
Kurzbeschreibung des Verlags:

Klassenkampf findet statt. Während der Klassenkampf von unten mit Streiks und lauten Protestformen ausgetragen wird, findet der Klassenkampf von oben leise im Verborgenen statt. Den Klassenkampf von oben führen die wirtschaftlich Mächtigen, die aufgrund ihrer Vermögen und Einflussbereiche dazu in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen zu ihren Gunsten zu ändern – gegen die Interessen und auf Kosten der Vielen. Anhand der Themen Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit, Armut, Bildung, Einkommen, Gesundheit, Klima, Wohnen, Pensionen und Reichtum zeigt das Buch auf, an welchen Angriffspunkten sich die Verteilungskämpfe zwischen oben und unten entscheiden. Das Autor:innenteam stellt wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Zielen, Zusammenhängen und Hintergründen des Klassenkampfs die rhetorischen Tricks und kommunikativen Strategien von oben gegenüber.

Kommentar von Isolde Charim, Philosophin und Publizistin

Klassenkampf von oben, Wiener Zeitung ->

Posted by Wilfried Allé Monday, February 20, 2023 11:40:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Klimarassismus 

Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende | Wie Rechtsaußenparteien den Klimawandel für sich nutzen

von Matthias Quent , Christoph Richter , Axel Salheiser

ISBN: 9783492063999
Verlag: Piper
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.09.2022
Ausgabe: 1. Auflage
Preis: € 20,60
Kurzbeschreibung des Verlags:

Klima und Demokratie gehören zusammen
Weltweit blockieren rechte Parteien und Netz­werke ef­fek­ti­ven Klima­schutz. Das ist kein Zu­fall: Denn die Haupt­ver­ant­wor­tung für den Klima­wan­del trägt der rei­che glo­ba­le Nor­den, aber sei­ne Opfer sind vor allem ohne­hin be­nach­tei­lig­te Men­schen – hier­zu­lande und im glo­ba­len Sü­den. Weiße Vor­herr­schaft, ex­tre­me Un­gleich­heit und die Aus­beu­tung von Men­schen und der Um­welt ge­hen Hand in Hand. Um Klima­ras­sis­mus und -klas­sis­mus zu ver­schlei­ern, leug­nen viele, dass die Erd­er­hit­zung über­haupt ein Pro­blem ist.

Wie Rechtsaußenparteien den Klima­wandel für sich nutzen

Dieses Buch zeigt, wo die mas­si­ven po­li­ti­schen Ge­fahren des Rück­schlags ge­gen den grü­nen Um­bau lie­gen, mit wel­chen Netz­wer­ken und Ar­gu­men­ta­tions­wei­sen die Rech­ten die Zu­kunft an­grei­fen, was das mit unse­rem All­tag und dem herr­schen­den Sys­tem zu tun hat und was wir für Klima und Ge­rech­tig­keit tun kön­nen.

Mit klaren Argumentations- und Handlungs­vor­schlä­gen

Rezensionen:

socialnet.de
„Es ist ein lesenswertes und engagiertes Buch, das Matthias Quent, Christoph Richter und Axel Salheiser vor­ge­legt haben.

antifa
„Unbedingte Leseempfehlung für alle, die ver­ständ­liche und gut les­bar Ar­gu­mente brau­chen, wa­rum der Kampf für Klima­ge­rech­tig­keit und gegen ex­trem rechte Ideo­lo­gie Hand in Hand gehen müs­sen, um eine lebens­werte Zu­kunft für alle zu ge­stal­ten.“

hpd.de
„Gut verständliches Sach­buch. Es lie­fert viele auf­klä­re­ri­sche Bot­schaften.“

Posted by Wilfried Allé Thursday, February 16, 2023 6:32:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Superyachten 

Luxus und Stille im Kapitalozän

von Grégory Salle

ISBN: 9783518127902
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 170 Seiten
Erscheinungsdatum: 20.11.2022
Übersetzung: Ulrike Bischoff
Reihe: edition suhrkamp
Ausgabe: Deutsche Erstausgabe
Preis: € 16,50

Kurzbeschreibung des Verlags:

Abramowitsch hat eine, der Emir von Abu Dhabi auch, Jeff Bezos so­wieso: Super­yachten sind Aus­weis der Zu­ge­hörig­keit zum Club der lucky few. Sie er­mög­li­chen gren­zen­lose Mo­bi­li­tät und ex­klu­si­ven Gel­tungs­kon­sum. Zu­gleich sind sie schwim­mende Um­welt­sün­den. Sie ver­bren­nen Un­men­gen Treib­stoff, ihre An­ker zer­stö­ren kost­bare Flora. Und sie sind Spiel­fel­der obs­zö­ner Un­gleich­heit: Wäh­rend ihre Be­sit­zer zu den ein­fluss­reichs­ten Men­schen der Welt ge­hö­ren, ist das Bord­per­so­nal oft Will­kür und Recht­lo­sig­keit aus­ge­lie­fert.
Grégory Salle sieht in den riesigen Luxus­schif­fen den Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des ge­gen­wär­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus. In sei­nem ful­mi­nan­ten Essay zeigt er, dass Super­yach­ten nicht ein­fach Sym­bole des Ex­zes­ses sind. Viel­mehr sind sie Sym­bole da­für, dass der Ex­zess zum Kenn­zei­chen un­se­res Zeit­al­ters ge­worden ist.

FALTER-Rezension
Der Wille zur Yacht

Gerade waren sie noch reich und schön, jetzt kotzen sie sich die Seele aus dem Leib. Da nüt­zen kein Gucci und kein Maha­goni, hel­fen keine Bril­lan­ten und keine Kris­tall­lus­ter, denn Luxus be­sänf­tigt Magen­säfte nicht. Der Film "Triangle of Sadness" schickt die Gäste einer Yacht mit ver­dor­be­nen Aus­tern und Sturm auf einen wah­ren Höl­len­trip.
Während das Schiff schwankt und Ladys im Er­bro­che­nen lie­gen, be­trinkt sich der Kapi­tän mit einem Geld­sack. An­stel­le von Trink­sprü­chen le­sen sie sich Zi­ta­te vor. "Sozia­lis­mus funk­tio­niert nur im Him­mel, wo sie ihn nicht brau­chen, und in der Höl­le, wo sie ihn schon ha­ben", gibt der reiche Russe US-Prä­si­dent Ro­nald Reagan zum Bes­ten. "Der letzte Kapi­ta­list, den wir hän­gen, wird der sein, der uns den Strick ver­kauft hat", kon­tert sein Sauf­kum­pan mit Karl Marx.

Welcher andere Ort könnte sich besser für Ruben Östlunds Up­per­class-Sa­tire eig­nen als eine Luxus­yacht? Schon der rea­le Dreh­ort hat Gla­mour: Die "Chris­tina O" ge­hör­te einst dem Reeder Aris­to­te­les Onas­sis. 1948 er­warb der Lieb­haber der Opern­diva Maria Callas und Ehe­mann von Jackie Kennedy güns­tig ein Kriegs­schiff, das vier Jahre zu­vor noch der Offen­sive der Alli­ier­ten in der Nor­man­die diente.

Für den Umbau berappte der Grieche mehrere Mil­li­onen, dann lud er VIPs wie Wins­ton Chur­chill oder die Schau­spie­lerin Grace Kelly an Bord ein. Als Hot Spot galt "Ari's Bar", deren Hocker Onas­sis mit Leder aus der Vor­haut von Walen hatte über­zie­hen las­sen. "Sie sitzen auf dem größten Penis der Welt", raunte der Gast­geber Film­stars wie Greta Garbo zu.

Ob im echten Leben oder in James-Bond-Filmen, Luxus­yachten strö­men über vor Tes­tos­te­ron-ge­trie­be­nen Anek­do­ten aus dem Fach "Die ver­rückten Strei­che der Rei­chen". Etwa jene des Ama­zon-Be­sit­zers Jeff Bezos, des­sen neues XXL-Schi­na­kel 2022 aus ei­ner Rot­ter­da­mer Werft ins of­fene Meer se­geln sollte. Blöder­weise stand eine denk­mal­ge­schütz­te Brücke im Weg von Bezos' Mega-Mas­ten. Dass ein Ab­bau der Brücke auch nur an­ge­dacht wurde, ging um die Welt.

Es gibt aber noch einen anderen Zu­gang zum Phäno­men Luxus­yachten als den von Papa­raz­zi, Boule­vard­presse oder Yachting-Maga­zinen. Bei Suhr­kamp er­schien kürz­lich das Buch "Super­yachten. Luxus und Stil­le im Kapi­talo­zän" des Sozio­logen Grégory Salle. In Es­says zieht der Fran­zose aus dem Boom sünd­teu­rer Pri­va­schiffe die Ge­sell­schafts­di­a­g­no­se, dass Reich­tum das Gehen über das Was­ser er­mög­liche.

"Eine Handvoll Superreicher amüsiert sich auf dem Meer - na und?", hinter­fragt Salle kurz sein wis­sen­schaft­liches Inter­esse, aber das ist nur rhetorisch. Schließlich zeigt er, wie eine neofeudale Kaste das Meer verpestet und mit ihren Ankern maritime Flora zerstört. Der öffentlichen Hand lassen die Milliardäre keinen Cent, kreuzen sie doch unter den Flaggen von Steuerparadiesen wie Malta oder den Cayman Islands. Mittels Lobbyismus befreien sich ihre Eigentümer von juristischen Einschränkungen, Grenzen moralischer Natur sind längst weggespült

Als Yacht gilt ein Boot ab zehn Metern, ab 25 Metern fin­gen einst die Luxus­yachten an, heute liegt die­se Kate­go­rie bei 40 Metern. Fast alle wer­den in Ita­lien, Deutsch­land und den Nieder­landen ge­baut; sie spie­len alle Stückln, vom glä­ser­nen Pool bis zu Mini-U-Booten als Zu­behör. Frü­here Eli­ten hat­ten ihre Schlös­ser, heute sind es schwimm­ende Pa­läs­te mit Hub­schrau­ber­lande­plätzen.

Es ist symptomatisch für ihre sprung­haften Be­sitzer, dass auch mit vie­len Ex­tras maß­ge­schnei­der­te Ge­fährte rasch wie­der ver­kauft wer­den. Viele die­nen dann als Charter­yachten, so auch Onas­sis' Traum­schiff. Laut Wiki­pe­dia konnte die "Chris­tina O" zu­letzt für 450.000 Dol­lar pro Wo­che ge­mie­tet wer­den. Stars wie Ma­don­na und Johnny Depp, aber auch Prinz Andrew schip­per­ten da­mit durchs Mit­tel­meer.

Preislich ist da noch viel Luft nach oben, wie Pop­star Beyoncé zeigte. Sie genoss ihren letz­ten Bade­ur­laub mit Gatte Jay-Z und Kiddies auf der "Flying Fox" vor Kro­a­tien, Kos­ten­punkt: sie­ben Tage um 1,5 Mil­li­onen Euro. Die wich­tigs­ten Kri­terien für Yacht­be­sitzer wären Größe, Crew und Hyper­mo­bi­li­tät, führt Salle an.

Die mit 180 Metern längste Motoryacht der Welt sieht wie ein klei­nes Kreuz­fahr­tschiff aus. Aber die "Azzam" hat nur Bet­ten für 36 Pas­sa­giere so­wie für 80 Kopf Per­so­nal. Bei ihrer Höchst­ge­schwin­dig­keit von 31 Kno­ten (58 km/h) ver­braucht die­se Giga­yacht sage und schrei­be 13 Ton­nen Die­sel pro Stun­de, kos­tet al­so um die 19.000 Euro. Eine durch­schnitt­liche Super­yacht stößt jähr­lich 7020 Ton­nen CO2 aus.

In einer Zeit, so Salle, "in der sich der Charakter großer Ver­mö­gen in­fol­ge der Fi­nanzia­li­sierung des Kapi­tals ent­materia­li­siert hat", wür­den Super­yachten als hand­fes­tes Sym­bol für ein rie­si­ges Ver­mögen die­nen. Kein Wun­der, dass die Be­hör­den er­freut waren, als sie im Zuge des Ukra­ine-Kriegs eini­ge Mega­yachten rus­si­scher Oli­gar­chen be­schlag­nahmen konnten.

Ein solcher "Fang" war das 600 Millionen Dollar teure Schiff des Mil­liar­därs Andrej Mel­nit­schenko im Hafen von Triest. Der Groß­teil der most-wanted Schif­fe schal­tete je­doch il­le­galer­weise sein GPS-Identi­­aus und düste ab in sicherere Gefilde wie Montenegro, Dubai oder gleich in den Indischen Ozean.

In seinem Buch nennt Salle die Daseinsform auf Superyachten eine "demonstrative Abgeschiedenheit", also das Paradox einer sichtbaren Unsichtbarkeit. Der US-Künstler Jeff Koons spielte darauf bereits 2013 an, als er das Schiff des Industriellen und Kunstsammlers Dakis Joannou gestaltete.

Für die Yacht mit dem selbstironischen Namen "Guilty" wandelte Koons ein Tarnmuster mit dem Namen "Razzle Dazzle" ab. Mit diesen Balken strich die britische Royal Navy im Ersten Weltkrieg ihre Kriegsschiffe zur Täuschung des Gegners an.

Die allerneueste Antwort auf den Wunsch nach spektakulärer Tarnung sind Yachten mit verspiegelter Außenfläche. Dieser Tage wurde die futuristische "Pegasus" gelauncht. Sie trägt Außenpaneele aus dem 3-D-Drucker, die Himmel und Wasser reflektieren. Laut Pressebericht fährt das Spiegelschiff mit superökologischem Antrieb -Greenwashing Ahoi!

Kunst auf dem Wasser ist schon länger ein großes Thema. Ab Beginn der 2000er-Jahre wurden in fast jedem Bericht von der Biennale von Venedig die vor den Giardini ankernden Yachten erwähnt. Auch die Milliardärin Heidi Horten hatte ihre "Carinthia VII" in der Lagune stehen. Der Trend zur Yacht-Kunstmesse hat sich zwar nicht durchgesetzt, aber dafür gibt es mittlerweile konservatorische Beratungsfirmen, die Gemälde und Skulpturen vor dem salzigen Klima schützen helfen.

Zu den wenigen kritischen Arbeiten über Superyachten zählt die Installation "Post-Social Sea", die letztes Jahr im Wiener Künstlerhaus zu sehen war. Die Konzeptkünstlerin Angela Anderson hat darin die 50 weltweit größten Yachten sowie deren Routen recherchiert.

"Bei einem Besuch in Rijeka 2019 sah ich im Hafen die kaputte Yacht des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Tito liegen", erzählt die in Berlin lebende US-Amerikanerin dem Falter ihr Schlüsselerlebnis. Eines Abends leuchteten weiter draußen am Meer eigenartige Lichter. Damals hatte Anderson bereits eine jener Apps auf ihrem Handy, die Schiffe per Satellit lokalisieren.

Der Tracker "Shipfinder" zeigte ihr an, dass es sich um die "Royal Romance" des ukrainischen Oligarchen und Putin-Verbündeten Wiktor Medwedtschuk handelte. "Ich bekam Gänsehaut", erinnert sich Anderson angesichts des mächtigen Auftritts und der potenziellen Nähe des Separatistenführers.

In früheren Arbeiten hat sich die politische Künstlerin mit der Rohstoffindustrie und deren verheerenden Folgen für Mensch und Natur beschäftigt. Dafür besuchte sie Aktivisten in Ecuador, North Dakota und zuletzt in Griechenland. Unweit von Thessaloniki wurde in Skouris eine Goldmine entdeckt, die eine kanadische Firma ausbeuten sollte. Die heftigen Proteste der lokalen Bevölkerung gegen die Umweltzerstörung beeindruckten die wirtschaftsgebeutelte Regierung in Athen kaum.

Seit Anderson die Eigentümer von Megayachten auf ihrem Radar hat, hat sie viel über Briefkastenfirmen gelernt, mit denen Besitzverhältnisse verschleiert werden. Die Künstlerin stieß aber immer wieder auf Namen, die ihr aus den Bergbauindustrien geläufig waren. "Bald fühlte sich jede einzelne Yacht wie die Geschichte eines Verbrechens an", sagt Anderson.

"Post-Social" im Titel von Andersons Installation bezieht sich auf einen Luxusyacht-Hafen in Montenegro, wohin sie für Videoaufnahmen reiste. Im Jahr 2006 erwarben der Moskauer Oligarch Oleg Deripaska, der französische Milliardär Bernard Arnault (Louis Vuitton, Moët &Chandon u.a.), Peter Munk aus dem Goldbergbau und andere Großunternehmer eine ehemalige Marine-Basis in der Bucht von Kotor.

Seither wurde dort eine hochmoderne Tiefwasser-Marina mit 650 Liegeplätzen (ein Viertel davon für Superyachten) errichtet. Sie bietet Sicherheit auf High-Tech-Niveau, liberale Zollvorschriften und steuerfreien Diesel. Luxusyachten können hier wesentlich günstiger liegen als an der Côte d'Azur oder in Portofino.

Überall an der montenegrinischen Küste herrsche im Sommer viel Trubel, schildert Anderson, nur im Luxushafen war es sonderbar still: "Im Supermarkt wird Champagner und Cognac für tausende Euro angeboten." Die Bucht von Kotor gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Wie verträgt sich dieser Status mit der aus dem Boden gestampften Hafenanlage, deren Schiffe das Wasser versauen?

"Superreiche Yachtbesitzer verursachen an einem Sommertag mehr Umweltverschmutzung als die Mehrheit der Menschen in ihrem ganzen Leben, doch die Politiker lassen sie weiterhin ungeschoren davonkommen", empörte sich kürzlich auch ein Vertreter der NGO Transport & Environment darüber. Selbst Megayachten sind vom europäischen Emissionshandel immer noch ausgenommen.

Auch der Soziologe Salle schildert in einem Kapitel, dass Luxusyachten in Frankreich durch eine Reform der Vermögenssteuer 2018 von Abgaben verschont wurden. Die kapitalfreundliche Fiskalpolitik sei nicht zuletzt das Resultat von Lobbyismus in einer immer ungleicheren Gesellschaft.

"Superyachten sind nicht nur an Offshore-Finanzplätzen registriert und legen gern dort an, sondern sie sind selbst schwimmende Steuerparadiese", sagt Salle über Schiffe, die ständig herumkreuzen, um sich nirgends registrieren zu müssen.

In der Not -etwa bei einer Pandemie - drehen Milliardäre den Motorschlüssel um und dem Rest der Welt den Rücken zu. Wenn das nicht zum Kotzen ist.

Nicole Scheyerer in Falter 6/2023 vom 10.02.2023 (S. 36)

Posted by Wilfried Allé Sunday, February 12, 2023 9:03:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Favoriten 

Auf den Spuren eines Wiener Arbeiterbezirks

von Gitta Tonka

ISBN: 9783854769439
Verlag: Mandelbaum Verlag eG
Format: Buch
Genre: Sachbücher/Geschichte/Regionalgeschichte, Ländergeschichte
Umfang: 144 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.04.2022
Preis: € 18,00
Kurzbeschreibung des Verlags:

Die riesige graue Vorstadt mit dem klin­gen­den Namen »Favoriten« hat eine Ge­schichte. Es ist die Ge­schichte des ar­bei­ten­den Vol­kes, die Ge­schichte von Namen­losen, die diese Stadt mit­ge­formt, sie ver­tei­digt und wie­der auf­ge­baut haben. Hier wurde von Austro­fa­schis­ten auf Ar­bei­ter­häu­ser ge­schos­sen, hier herrsch­ten Ar­beits­losig­keit und Not, und vie­le Fa­vo­rit­ner ließen für ein freies Öster­reich ihr Leben.
Aus persönlichem Blickwinkel erzählt eine Favo­rit­ner Leh­re­rin, de­ren Fa­mi­lie seit der Be­zirks­grün­dung hier lebt, die poli­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Ve­rän­de­run­gen und Um­brü­che ihres Hei­mat­be­zirks. Texte von his­to­ri­schen Per­sön­lich­keiten wie Victor Adler, Adel­heid Popp, Max Winter oder Jo­hann Pöl­zer ver­tie­fen den Blick auf Fa­vo­ri­ten. Die Zeit­reise wird durch hu­mo­rige und emo­tio­nale Fami­lien­ge­schich­ten so­wie die zahl­rei­chen his­to­ri­schen und zeit­ge­nös­si­schen Foto­gra­fien be­son­ders le­bendig.

FALTER-Rezension:
Von Sandlern, Heldinnen und dem Eissalon Tichy

Die zumeist aus Böhmen zuge­wan­der­ten Ziegel­ar­bei­ter am Laaer Berg und am Wiener­berg waren vor 150 Jahren die Aus­ge­beu­tetsten der Aus­ge­beu­teten. Zu­sam­men­ge­pfercht ar­bei­teten sie für ein paar Hel­ler, leb­ten in Ge­mein­schafts­unter­künf­ten und wur­den auch noch mit Blech­mar­ken be­zahlt, mit denen sie den über­teu­er­ten, schlech­ten Fraß in den Werks­kan­ti­nen kau­fen mussten. Victor Adler, spä­ter der Eini­ger der So­zial­demo­kra­ten, schlich sich in­kog­ni­to ein und schrieb eine packen­de Repor­tage über das Elend der Zie­gel­ar­bei­ter - die Auf­decker­story legte die Grund­lage zu sei­ner spä­te­ren Po­pu­la­ri­tät und Le­gen­de. Auf der unters­ten Stufe der Elen­den stan­den jene, die die Zie­gel­for­men mit Sand aus­fül­len mussten. Sie wurden "Sandler" ge­nannt, und der Be­griff bür­ger­te sich spä­ter für alle auf der un­ters­ten Spros­se der so­zi­a­len Lei­ter ein. Nach­dem im­mer mehr Ar­beits­rechte durch­ge­setzt wur­den, blie­ben die Werks­kan­ti­nen be­ste­hen, ver­wan­del­ten sich aber nach und nach zu nor­ma­len Wirts­häu­sern, und um das Publi­kum zu hal­ten, dach­ten sich die fin­dig­sten Wirts­leute am Laaer Wald ein paar zu­sätz­li­che Attrak­tio­nen aus und stell­ten Spiel­ge­räte auf. Der Grund­stein des Böh­mi­schen Pra­ters war ge­legt.

Die Geschichte des Böhmischen Praters, die Ar­beiter­kul­tur im "zehn­ten Hieb", der Straßen­gangs und Volks­bild­ner - das und vie­les mehr kann man in Gitta Tonkas Buch "Favo­riten - Auf den Spuren eines Wie­ner Ar­bei­ter­be­zir­kes" nachl­esen. Wenn sie er­zählt, dann blickt sie auf eine un­glaub­liche, 170-jäh­rige Fa­mi­lien­ge­schichte zu­rück.

Tonkas Urgroßvater Jakob Sokopp kam in den 1870er-Jahren nach Wien. Er lernte Me­tall­dru­cker und war schon in der aller­ers­ten Gene­ra­tion der Ar­beiter­be­we­gung und der Ge­werk­schaften ak­tiv. Jakob Reu­mann, spä­ter der erste Bür­ger­meis­ter des Ro­ten Wien, war einer sei­ner engs­ten Freunde. Die Fa­mi­lie lebte in Elends­quar­tieren, bis sie in einer klei­nen Woh­nung mit Werk­statt in der Buchen­gasse 100 unter­kam.

Die ganze Familie, Großeltern und Groß­tan­ten von Gitta Tonka waren in den lin­ken Be­we­gungen und im Wider­stand ak­tiv. Vor eini­gen Jah­ren hat sie schon die Lebens­er­in­ne­rungen ihrer Mut­ter Ossy Tonka heraus­ge­bracht. Revo­lu­tio­näre, spä­ter Schutz­bünd­ler, ille­ga­le Sozi­a­lis­ten, todes­ver­ach­tende Kons­pi­ra­teure ge­gen die Nazis, sie alle gin­gen ein und aus in der Buchen­gas­se 100. Tonkas Mut­ter schlägt sich - blut­jung -zu den Par­ti­sa­nen nach Jugos­la­wien durch, kämpft auf deren Sei­te, und in der Nach­kriegs­zeit lan­det sie bei Bertolt Brecht als Mit­ar­bei­terin im Thea­ter Scala. Gitta saß noch bei Brecht am Schoß.

Gitta Tonkas Buch ist ein packendes Por­trät eines Be­zirks ge­wor­den. Seiner ver­ruch­tes­ten Vier­tel etwa, wie "das Kreta", wo die här­tes­ten Gangs die Straße be­herrsch­ten und das heute noch übel be­leu­mun­det ist, auch wenn das städte­bau­lich ambi­tio­nier­te Sonn­wend­vier­tel fast di­rekt an­grenzt. Als eins­tige Leh­rerin und Direk­to­rin einer Favo­rit­ner Volks­schule kennt Tonka den so­zia­len Wan­del der ver­gan­ge­nen Jahr­zehnte. Zu je­der Fa­brik, je­dem Ge­mein­de­bau, je­der Gar­ten­stadt, zum Tichy, zu Ober­laa - zu allem hat Tonka Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die auch für Ken­ner neu sind. Zu bril­lan­ten Fi­gu­ren, die dem Bez­irk eng ver­bun­den wa­ren, wie dem Jour­na­lis­ten Max Win­ter, Grün­der der Kinder­freunde und in den 1920er-Jahren Vize­bür­ger­meis­ter. Oder Schani Pölzer, Schnei­der, Ge­werk­schaf­ter, Ar­beiter­bild­ner, und sei­ner Frau Amalie, Ge­werk­schaf­terin und radi­kale Femi­ni­stin - nach ihr wur­de das Amalien­bad be­nannt, heute ein Denk­mal avan­cier­ter Archi­tek­tur.

Robert Misik in Falter 21/2022 vom 27.05.2022 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Friday, January 27, 2023 8:56:00 PM Categories: Ländergeschichte Sachbücher/Geschichte/Regionalgeschichte
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Earth for All 

Ein Survivalguide für unseren Planeten

Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«

ISBN: 9783962383879
Verlag: oekom verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 06.09.2022
Übersetzung: Rita Seuß
Übersetzung: Club of Rome, Barbara Steckhan
Preis: € 25,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

»Wohlstand innerhalb der Grenzen unseres Pla­neten ist mög­lich!« Jørgen Randers
1972 er­schüt­ter­te ein Buch die Fort­schritts­gläu­big­keit der Welt: »Die Gren­zen des Wachs­tums«. Der erste Be­richt an den Club of Rome gilt seit­her als die ein­fluss­reichs­te Publi­ka­tion zur dro­hen­den Über­las­tung un­se­res Pla­ne­ten. Zum 50-jäh­rigen Jubi­läum blicken reno­mmier­te Wis­sen­schaft­ler*innen wie Jørgen Randers, Sandrine Dixson-Declève und Johan Rock­ström aber­mals in die Zu­kunft – und le­gen ein Ge­ne­sungs­pro­gramm für un­sere kri­sen­ge­schüt­tel­te Welt vor.
Um den trägen »Tanker Erde« von seinem zer­störe­ri­schen Kurs ab­zu­brin­gen, ver­bin­den sie ak­tuel­le wis­sen­schaft­liche Er­kennt­nis­se mit in­no­va­ti­ven Ideen für eine an­dere Wirt­schaft. Der ak­tu­el­le Be­richt an den Club of Rome lie­fert eine poli­ti­sche Ge­brauchs­an­wei­sung für fünf we­sent­liche Hand­lungs­fel­der, in de­nen mit ver­gleich­bar klei­nen Wei­chen­stel­lun­gen große Ver­än­de­run­gen er­reicht wer­den können

  • gegen die Armut im globalen Süden,
  • gegen grassierende Ungleichheit,
  • für eine regenerative und natur­ver­träg­liche Land­wirt­schaft,
  • für eine umfassende Energiewende
  • und für die Gleichstellung der Frauen.

Wer wissen will, wie sich eine gute Zu­kunft rea­li­sie­ren lässt, kommt an »Earth for All« nicht vorbei.

FALTER-Rezension:

Über eine Erde, wie wir sie nicht kennen wollen

Shu, Samiha, Carla und Ayotola: Sie alle wurden am selben Tag im Au­gust 2020 ge­boren. Samiha kam in einem Slum in Bangla­desch zur Welt, Ayotola in einem Armen­vier­tel im ni­geria­ni­schen Lagos. Die Fa­mi­lien von Shu und Carla hin­ge­gen sind bes­ser­ge­stellt. Shu wächst in der chi­ne­si­schen Stadt Chang­sha auf, Carla im kali­for­ni­schen Los An­geles. Wie es ihnen er­ge­hen wird, wie alt sie wer­den – all das wird maß­geb­lich da­von ab­hän­gen, um wie viel Grad die glo­ba­le Durch­schnitts­tem­pe­ra­tur stei­gen wird. Die vier Mäd­chen sind fik­ti­ve Fi­gu­ren; Wis­sen­schaft­ler:innen ha­ben aber an­hand zwei­er Klima­sze­na­rien ty­pi­sche Lebens­wege für sie nach­ge­zeich­net. Nach­zu­le­sen sind diese im Buch „Earth for All“, dem neu­en Be­richt an den Club of Rome, der vor 50 Jah­ren mit „Die Grenzen des Wachstums“ auf­rüt­telte.

Die Klimabücher dieses Herbstes machen klar: Ein Zu­rück zu ei­nem ge­mäßig­ten Kli­ma gibt es nicht mehr, ex­tre­me Wet­ter­er­eig­nis­se wer­den wei­ter zu­nehmen. Jetzt geht es da­rum, ob die Mensch­heit den­noch einiger­maßen ge­deih­lich wei­ter­le­ben kann – oder ob die heu­ti­gen Kin­der und Jugend­li­chen in einer Plus-drei-Grad-Welt wer­den le­ben müs­sen. „Eine Erde, wie wir sie nicht ken­nen wol­len“, so Stefan Rahmstorf, ei­ner der Leit­au­to­ren des vier­ten Sach­stands­be­richts des Welt­kli­ma­rates (IPCC). Und, da sind sich die Auto­rin­nen und Auto­ren der Bü­cher „Earth for All“, „Sturm­no­ma­den“ und „3 Grad mehr“ einig: Herum­reißen las­se sich das Ruder nur, wenn die Kluft zwi­schen Arm und Reich klei­ner wird. Die drei Bü­cher ge­hö­ren zum Wich­tigs­ten, das ein Mensch der­zeit lesen kann.

„3 Grad mehr“ lautet der Titel des Sammel­ban­des von 19 Au­to­ren, da­run­ter die Klima­for­scher Stephan Rahmstorf und Hans Joachim Schelln­huber so­wie die Sozial­for­sche­rin Jutta Allmen­dinger. Aber wa­rum sol­len wir uns über­haupt ein Drei-Grad-Sze­na­rio an­sehen, se­hen doch die Pari­ser Klima­ziele eine Er­wär­mung von 1,5, höchs­tens zwei Grad vor? Weil wir laut jüngs­tem Welt­kli­ma­be­richt be­reits auf dem bes­ten Weg in Rich­tung drei Grad plus sind.

Was das bedeutet, müssten die Menschen wissen, findet Heraus­geber Klaus Wiegandt. Viel zu lange habe die Po­li­tik die Kri­se ver­harm­lost, und so glau­bten vie­le im­mer noch, es gehe „bloß“ um Eis­bären und ein paar ver­sin­kende Insel­chen. „Wüssten die Men­schen, was den Enkel­kin­dern be­vor­steht, würde das keiner wol­len“, sagte Wiegandt ein­mal: näm­lich „eine Radi­kali­sie­rung des Wet­ter­ge­sche­hens“. Wüssten sie es, ist er sich sicher, wür­den sie eine völ­lig an­de­re Poli­tik ein­fordern.

Stakkatoartig zählt Stephan Rahmstorf auf, in wel­cher Welt seine Kin­der, der­zeit Gymna­sias­ten, da le­ben müssten – und mit ihnen rund vier Mil­liar­den Men­schen, die heu­te jün­ger als 20 Jahre alt sind. Drei Grad glo­ba­le Er­wär­mung, das be­deu­tet für viele Land­ge­biete sechs Grad mehr, so auch für Deutsch­land und Öster­reich. „Damit wäre Ber­lin wär­mer, als es Ma­drid heute ist.“ An den heißes­ten Ta­gen müssten die Deut­schen dann um die 45 Grad er­tra­gen. Rund um den Erd­ball wür­den sich „die wäh­rend Hitze­wel­len töd­lich heißen Ge­biete mas­siv aus­wei­ten“. Ex­trem­wet­ter­er­eig­nis­se näh­men über­pro­por­tio­nal zu. Stark­regen, Dürre­peri­oden, Tro­pen­stür­me – sie alle kä­men öf­ter, wür­den hef­ti­ger und blie­ben länger.

Beim Meeresspiegel wäre schon ein Meter Anstieg „eine Katas­trophe“, schreibt Rahmstorf: Weil an den Küsten­li­nien mehr als 130 Mil­lio­nen­städte lie­gen, da­zu Häfen, Flug­häfen und 200 Kern­kraft­werke. Bei drei Grad plus stie­gen die Meere laut IPCC-Be­richt je­den­falls um 70 Zenti­me­ter. Er­reicht aller­dings das Grön­land­eis sei­nen Kipp­punkt und schmilzt kom­plett ab, steigt der Meeres­spie­gel um sie­ben Meter. Auch welt­weite Hun­ger­kri­sen be­fürch­tet Rahmstorf. „Ich per­sön­lich“, schließt er sei­nen furi­osen Text, „halte eine 3-Grad-Welt für eine exis­ten­ziel­le Ge­fahr für die mensch­liche Zi­vi­li­sation“.

Was heißt eine solche Heißzeit nun für unsere vier Mäd­chen? In „Earth for All“ schaut sich der Club of Rome zwei Sze­na­rien an. Das schlech­tere, „Too little, too late“, er­scheint gar nicht so pessi­mis­tisch. Da pas­siert bis 2050 durch­aus eini­ges: Wind­räder und Foto­vol­taik­an­lagen ge­hen in Be­trieb, auch in Asien schließen die Kohle­kraft­werke. Den­noch ist alles zu we­nig und zu spät. Fos­sile Brenn­stof­fe kom­men im­mer noch zum Ein­satz, die Men­schen kle­ben an ihren Au­tos und es­sen viel zu viel ro­tes Fleisch. Ins­ge­samt ist es mehr ein Durch­la­vie­ren. Kommt Ihnen be­kannt vor?

Mithilfe aufwendiger Simulationsprogramme haben die For­scher er­rech­net, was das für die Tem­pe­ra­turen, die Welt­be­völ­ke­rung, die Ver­füg­bar­keit von Nah­rungs­mit­teln und vie­les mehr be­deutet. Dem­nach über­springt die Erde mit „Too little, too late“ be­reits 2050 die Zwei-Grad-Grenze.

In diesem Jahr sind unsere Mädchen 30 Jahre alt. Shu ist Was­ser­wirt­schafts­in­genieu­rin, häu­fige Über­schwem­mun­gen be­dro­hen Chinas Nahrungs­mit­tel­sicher­heit. Carla zieht von Kali­for­nien in den Nor­den, hat je­doch das Ge­fühl, dass Brän­de und Hitze ihr fol­gen. In Bangla­desch hat Samiha ihren Job in ei­ner Klei­der­fa­brik ver­loren, weil die Küsten­re­gion we­gen der Flut­katas­tro­phen all­mäh­lich auf­ge­ge­ben wird. Ayotola lebt mit vier Kin­dern im Armen­vier­tel, nur der Sohn wird zur Schu­le ge­hen können.

Noch weiter in die Zukunft geschaut, stirbt Carla mit 65 an Krebs. Samiha lei­det im Slum unter Was­ser- und Es­sens­knapp­heit. Im ni­geria­ni­schen Lagos mussten Ayotola und ihr Mann ihre Unter­kunft we­gen immer ge­fähr­li­cherer Flu­ten auf­geben. Noch am bes­ten geht es Shu, deren Kom­pe­ten­zen im Hoch­was­ser­manage­ment sehr ge­fragt sind.

Wie realistisch solche Lebensläufe sind, hat Kira Vinke rund um den Erd­ball re­cher­chiert. Die Lei­te­rin des Zen­trums für Kli­ma und Außen­poli­tik der Deut­schen Ge­sell­schaft für Aus­wär­tige Poli­tik hat zahl­reiche Län­der be­sucht, sie er­zählt von Hir­ten im Sahel, von Fi­schern auf den Philip­pinen – und von der Flut im deut­schen Ahrtal 2021.

Längst haben Millionen ihre Heimat ver­lassen, weil Tai­fune oder Dür­ren ihnen die Exis­tenz raub­ten. Viele blei­ben da­bei in­ner­halb ihrer Her­kunfts­län­der, so wie in Bangla­desch: Im Korail-Slum in Dhaka trifft Vinke zwei jun­ge Frau­en, die aus dem Sü­den des Landes hier­her kamen, weil ihre alte Hei­mat im­mer wie­der über­flu­tet wur­de. Aber auch in ihren Hüt­ten sind sie nicht si­cher. „Bin­nen Minu­ten“, be­schreibt Vinke einen Stark­regen, „steigt das Was­ser ge­fähr­lich hoch und schwappt lang­sam in die Hüt­te.“ So sei es hier eben, „es gibt keine rich­ti­ge Kana­li­sation“, er­klärt eine Frau. Vinke watet durch Dreck und Fä­ka­lien. Die Men­schen in den Slums wer­den nicht alt.

Und was jetzt?

„3 Grad mehr“ setzt vor allem auf „natur­ba­sier­te Lö­sun­gen“: Auf­fors­tung, nach­hal­tige Holz­nutzung, Wieder­ver­näs­sung der Moore, re­gene­ra­ti­ve Land­wirt­schaft. Zum Wich­tigs­ten aber ge­höre der Schutz des Regen­wal­des. Ein ver­bind­li­ches Ab­kom­men zum Stopp der Ab­hol­zung der Regen­wäl­der in­ner­halb der nächs­ten Jah­re könnte ein glo­ba­les Auf­bruchs­sig­nal ein, schreibt Wie­gandt: Es wür­de die CO2-Emis­sio­nen so dras­tisch re­du­zie­ren, „als würde Europa bis spätes­tens 2026 klima­neu­tral“.

Doch all das braucht Investitionen, und dafür fordern alle drei Bücher eine Um­ver­tei­lung. Die müs­se so­wohl vom glo­ba­len Nor­den in den Süden statt­fin­den als auch in­ner­halb der ein­zel­nen Län­der. „3 Grad mehr“ geht da­von aus, dass zu­min­dest zwei Pro­zent des Welt­so­zial­pro­dukts nö­tig sein wer­den, „Earth for All“ schätzt zwei bis vier Pro­zent. Nichts, was nicht zu stem­men wäre, ar­gu­men­tie­ren sie.

Nun wird jenen, die den Kampf gegen die Klima­krise ein­for­dern, ja gern vor­ge­wor­fen, sie wollten rein ideo­lo­gisch moti­viert auch gleich den so­zia­len Um­sturz durch­drücken. Aller­dings nen­nen die For­scher nach­voll­zieh­ba­re Argu­men­te: Är­mere Län­der kön­nen sich sonst kei­nen Klima- oder Wald­schutz leis­ten. Und auch in den bes­ser­ge­stellten Län­dern wer­den jene, die un­ver­hältnis­mäßig un­ter den Kos­ten etwa der Ener­gie­wende lei­den, pro­tes­tie­ren und den Kurs­wech­sel nicht mit­tra­gen. Ob in Eu­ro­pa oder den USA, in Afri­ka oder Süd­ameri­ka: Eine zu große Ver­mögens­kluft führt über­all zu De­sta­bi­li­sie­rung und Auf­stän­den, das Ver­trauen in die Re­gie­run­gen sinkt, au­tori­täre Po­pu­lis­ten ge­lan­gen an die Macht.

Um das Geld für die nötigen Investitionen zu erhalten, schlagen Wiegandt & Co vor, sol­len die Re­gie­rungen die Sub­ven­tio­nen in fos­si­le Ener­gie­trä­ger strei­chen, Mili­tär­bud­gets re­du­zie­ren und Steu­er­schlupf­lö­cher schließen. Für Deutsch­land schwe­ben ihnen vor al­lem die Fi­nanz­trans­aktions- und Erb­schafts­steuer als Hebel vor. Un­ge­recht? Zwei Zahlen aus dem Buch: In Deutsch­land war 2015 das reichs­te Zehn­tel der Be­völ­ke­rung für mehr Emis­sio­nen ver­ant­wort­lich als die ge­sam­te är­mere Hälf­te. Und: Bei drei Grad mehr wer­den die ma­teriel­len Schä­den jähr­lich min­des­tens zehn Pro­zent des Welt­sozial­pro­dukts aus­ma­chen, eher viel mehr. Da geht es auch den Aller­reichs­ten nicht mehr gut.

In „Earth for All“ lautet die Lösung: „Giant Leap“, ein Riesen­sprung. Den reichs­ten zehn Pro­zent dürfe nicht mehr als 40 Pro­zent des je­wei­li­gen Natio­nal­ein­kom­mens zu­ste­hen. In­dus­trien müs­sen da für das Nutzen von Ge­mein­gü­tern zah­len, das Geld da­raus fließt auch hier in Bür­ger­fonds und Grund­ein­kom­men. Die For­scher se­hen fünf Haupt­stra­te­gien: ex­tre­me Ar­mut be­kämp­fen, Un­gleich­heit und Gender-Gaps ver­rin­gern, die Her­stel­lung von Nah­rungs­mit­teln und Ener­gie re­vo­lutio­nie­ren. Da­mit wür­den sich die Tempe­ra­turen um 2050 bei unter zwei Grad sta­bi­li­sie­ren.

Alle drei Bücher sind dicht, kein Spaziergang – jeder sollte aber ihre we­sent­lichs­ten In­hal­te ken­nen, be­son­ders Ent­schei­dungs­trä­ger. Reiz­voll an „Earth for All“ sind die Bio­gra­fien der Mäd­chen. Die­ses Buch und „3 Grad mehr“ bie­ten so­wohl ei­nen Ge­samt­über­blick als auch Spe­zial­wis­sen zum Bauen oder zur Ener­gie­wende. Die meis­ten Men­schen ler­nen wir bei Vinke kennen.

Und unsere Mädchen? Beim „Riesensprung“ können auch Samiha und Ayotola als Kin­der in neue Woh­nun­gen um­zie­hen. Alle vier er­hal­ten gu­te Aus­bil­dun­gen, keine lebt in einem Armen­vier­tel. Auch ein sta­bi­les Kli­ma kennt keine, ex­treme Wet­ter­er­eig­nis­se ge­hö­ren zum Le­ben. Doch viel Leid wird mit­tler­weile ge­lin­dert, und die Ge­fahr eines es­ka­lie­ren­den Klima­wan­dels ist nicht mehr so groß. Wel­ches Sze­na­rio ein­tritt, das wird die Mensch­heit vor al­lem in der al­ler­nächs­ten Zu­kunft ent­schei­den: noch vor 2030.

Gerlinde Pölsler in Falter 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 32)

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

Posted by Wilfried Allé Friday, January 20, 2023 2:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Außer Kontrolle 

Deutschland 1923

von Peter Longerich

ISBN: 9783222151026
Verlag: Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.11.2022
Preis: € 33,00

Kurzbeschreibung des Verlags:

Hyperinflation, Staatskrise, Hitler-Putsch: Ohn­mäch­tig wankt die junge deut­sche Re­pu­blik im Jahr 1923 Rich­tung Ab­grund. Der Ein­marsch fran­zö­si­scher Trup­pen ins Ruhr­ge­biet treibt Ex­tre­mis­ten von Rechts und Links auf die Bar­ri­ka­den, das Land steht vor Bür­ger­krieg und Dik­ta­tur. Es ist eine „Toll­haus­zeit“ (Stefan Zweig), in der sich Kri­sen­ge­winn­ler de­ka­den­ten Ver­gnü­gun­gen hin­ge­ben, wäh­rend die Be­völ­ke­rung ins Elend stürzt.
Kenntnisreich und gestützt auf reich­hal­ti­ge Quel­len er­zählt Zeit­his­to­ri­ker Peter Longe­rich die Chro­no­lo­gie eines Staats­ver­sa­gens. Da­bei se­ziert der Best­seller­au­tor nicht bloß Ur­sa­chen und Ab­läu­fe, son­dern auch die Fol­gen: das bis heute an­hal­ten­de In­fla­tions­trauma – und den Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lis­mus.

FALTER-Rezension:

"Es war ein verzweifeltes Abstrampeln"

Die Jahre 1923 und 2023 ähneln sich auf den ers­ten Blick. Zum Hun­dert­jahres­ge­den­ken sind gleich meh­rere Bü­cher zu die­sem schick­sals­haf­ten Jahr er­schie­nen. Den deut­schen His­to­ri­ker Peter Longe­rich in­ter­es­siert vor allem, wie Eli­ten in Kri­sen­zei­ten agie­ren - und er­schreck­end häu­fig auch ver­sagen.
Falter: Vertrauens-, Energie-, Flüchtlings-, Teuerungs­krise: Sie plä­die­ren in Ihrem neuen Buch "Außer Kon­trol­le" über das Jahr 1923 da­für, mit dem Be­griff "Krise" spar­sam um­zu­gehen. Warum?

Peter Longerich: Es ist ja ein geradezu ma­gi­scher Be­griff, der von Me­dien, aber auch von Wis­sen­schaft­lern sehr gerne ver­wen­det wird, der aber nicht sehr ana­ly­tisch ist. Er kommt dort zum Ein­satz, wo man mit dem Er­klä­ren nicht wei­ter­kommt. Als His­to­ri­ker inter­es­sie­ren mich Kri­sen eher als sich rasch ent­wickelnde Pro­zes­se, und ich fra­ge nach den po­li­ti­schen Hinter­grün­den und vor allem nach dem Han­deln und den Re­ak­tio­nen der Ak­teure, die Macht be­sitzen. Wenn die Krise erst ein­mal fort­ge­schrit­ten ist, kön­nen sie meist nur mehr rea­gie­ren und nicht mehr vor­aus­schau­end han­deln.

Wenn uns der Begriff überhaupt nicht weiter­hilft, ver­wen­den wir ihn dann nur als Aus­druck von Hilf­lo­sig­keit so oft?

Longerich: Eher als Aus­druck großer Zu­kunfts­ängste. Denn was heißt Krise wirk­lich? Wenn wir his­to­ri­sche Fäl­le be­mühen und ver­su­chen, sie in ihren Di­men­sio­nen auf heute zu über­tra­gen, dann wäre Krise, wenn wir tage­langen Strom­aus­fall hät­ten, große Men­schen­mas­sen plün­dernd und maro­die­rend durch die Straßen zie­hen oder mas­sen­haft ihre Woh­nung ver­lie­ren wür­den. All das pas­siert zum Glück ge­rade nicht. Im Grun­de geht es uns noch ganz gut. Wel­ches an­dere Wort wol­len wir ver­wen­den, wenn es wirk­lich so weit ist?

In Ihrem Buch zeigen Sie am Bei­spiel des Jahres 1923, dass eine Krise im­mer in vier Stu­fen ab­läuft. Be­vor wir ge­nau­er da­rü­ber spre­chen und da­rü­ber, was wir aus 1923 über 2023 lernen kön­nen, möchte ich Sie grund­sätz­lich fra­gen: Machen diese Jahres­zahlen­ver­glei­che über­haupt Sinn?

Longerich: Zu Jahresbeginn ist ja nicht nur meines, son­dern auch eine ganze Reihe an­de­rer Bü­cher zum Kri­sen­jahr 1923 er­schie­nen. Im Grun­de ge­nom­men ist es ein Ri­tu­al, an dem ich mich aber gerne be­tei­lige, durch­aus mit Ab­sicht, denn sol­che Er­in­ne­rungs­jahre füh­ren zu einer ge­wis­sen Fokus­sie­rung der De­bat­te über his­to­ri­sche Er­eig­nis­se. Ich hät­te die­ses Buch auch schon vor zwei Jah­ren ver­öf­fent­li­chen kön­nen, aber es wäre weni­ger wahr­ge­nom­men wor­den. Un­ab­hän­gig von sei­ner 100. Wieder­kehr ist das Jahr 1923 sehr inter­es­sant, vor al­lem für Deutsch­land, aber auch aus öster­reichi­scher Sicht, weil es zeigt, wie schnell ein Staat ins Kip­pen kommt.

In den 1920er-Jahren sind fast alle Strö­mun­gen und The­men der Mo­der­ne an­ge­legt: Femi­nis­mus, Sozi­a­lis­mus, Um­welt-und Lebens­re­form­be­we­gun­gen, Natio­na­lis­mus, In­dus­tri­a­li­sie­rung, Ur­bani­sie­rung. Sind sie des­halb so reiz­voll, selbst 100 Jahre spät­er?

Longerich: All das und die totale Wider­sprüch­lich­keit die­ser Ent­wick­lungen, die Un­be­rechen­bar­keit und Un­über­sicht­lich­keit sind da­mals schon vor­han­den, und wir kön­nen unser frü­heres ge­sell­schaft­li­ches Selbst wie in einem Spie­gel an­schauen. Das macht dieses Jahr­zehnt für uns so inter­es­sant. Wir sehen stark­e ge­sell­schaft­li­che Eman­zi­pations­be­we­gun­gen und eben­so starke Ge­gen­be­we­gun­gen, die dann in Deutsch­land 1933 tri­umphie­ren. Im Rück­blick sehen wir klar, wer die Guten und Bösen waren, wo­bei die Bösen na­tür­lich auch ge­glaubt ha­ben, dass sie die Guten sind.

Tauchen wir ein ins Jahr 1923. Eine Krise zeigt sich in ihrer ers­ten Stu­fe im­mer als struk­tu­rel­ler Kon­flikt. Wie war das da­mals?

Longerich: Die Deutschen fanden sich nach dem Ersten Welt­krieg - wie die Öster­reicher übri­gens auch -in einer neuen Staats­form wie­der, mit der große Teile der Be­völ­ke­rung nichts an­fan­gen konnten. Die Wei­ma­rer Repu­blik war bei vie­len un­be­liebt. So wie die Erste Re­pu­blik in Öster­reich. Die Ge­sell­schaft war ge­spal­ten, pola­ri­siert zwi­schen stark rech­ten und lin­ken Ex­tre­men, die sich auch in be­waff­ne­ten Ein­heiten zu­sam­men­schlos­sen, jeder­zeit putsch­be­reit. Wir haben die un­be­wäl­tig­ten öko­no­mi­schen Fol­gen des Krie­ges, mit hohen Re­pa­ra­tions­zah­lungen und der großen of­fenen Frage: Wer be­zahlt eigent­lich die Kriegs­kosten? Und wir haben tiefe Trau­ma­ta, auf per­sön­li­cher Ebene durch die Grauen des Krie­ges. Auf natio­na­ler Ebene gab es das Ge­fühl, un­ver­dien­ter­weise in einem Rumpf­staat zu leben, als Volk ge­de­mü­tigt wor­den zu sein. Deutsch­land war ein Land mit Mil­lio­nen von Wit­wen, Kriegs­opfern und Kriegs­ver­sehr­ten. Dass unter sol­chen Be­din­gun­gen eine Über­tra­gung von Ge­walt in die In­nen­poli­tik pas­siert, ist nicht über­ra­schend.

Auch heute ist immer wieder von einer ge­spal­tenen Ge­sell­schaft die Rede, die sich in ihren "Medien-Bub­bles" noch wei­ter radi­ka­li­siert. Ist das gen­au­so über­trie­ben wie das Kri­sen­ge­rede?

Longerich: Ich bin da vorsichtig, denn im Grunde ge­nom­men sind Ge­sell­schaf­ten im­mer irgend­wie ge­spalten. In den USA gibt es seit Jahr­zehnten starke rechts­kon­ser­va­tive und popu­lis­ti­sche Kräfte, Rechts­radi­kale und Rechts­ex­tre­misten, das be­gann nicht mit Donald Trump. Auch in Deutsch­land fin­den wir in den 1970er-und 1980er-Jahren star­ke Grup­pen­bil­dungen. Die CDU ist bei den Wah­len 1976 zum Bei­spiel mit dem Slogan "Frei­heit statt So­zi­a­lis­mus" an­ge­tre­ten, und na­tür­lich hat es auch eine linke Lager­bil­dung ge­ge­ben. So ge­sehen ist das also nichts Un­ge­wöhn­liches.

Was ist dann der Unterschied zu damals?

Longerich: Was damals noch gravierender war, war die Un­ver­söhn­lich­keit in den so­zial-mora­li­schen Milieus: Sozia­listen, Reak­tio­näre, Katho­liken, bür­ger­liche Libe­rale. Einer der schwers­ten poli­ti­schen Kon­flikte ent­zün­dete sich zum Bei­spiel an der Fra­ge der Auf­he­bung des Acht-Stun­den-Ar­beits­tages, für Ge­werk­schaf­ten wie Ar­beit­ge­ber eine Pres­tige­fra­ge mit ho­hem sym­bo­li­schem Wert. Dass zum Bei­spiel ein Katho­lik eine Nicht­katho­li­kin hei­ra­tete oder um­ge­kehrt, konnte einen Skan­dal aus­lösen. Die Ab­gren­zung zeigte sich nicht nur in der unter­schied­lichen "Welt­an­schauung", son­dern all­täg­lich in der Sprache, im Auf­tre­ten, bis zur Klei­dung. Das ging also viel tie­fer als heute.

Zu all diesen strukturellen Konflikten kommt 1923 dann die In­fla­tion. Noch eine Par­al­lele zur Ge­gen­wart?

Longerich: Ja, wobei wir auch da auf­pass­en müs­sen. In­fla­tion hieß da­mals Hyper­in­fla­tion. Das Geld ve­lor so viel an Wert, dass es als Zahlungs­mit­tel über­haupt nicht mehr funk­tio­nier­te, es wurde in Scheib­tru­hen herum­ge­fahren. Da­durch ver­lo­ren Men­schen jeg­liche Orien­tierung bei der Or­gani­sation ihres Lebens. Über Gene­ratio­nen Er­spar­tes war weg. Da­von sind wir heute noch weit ent­fernt. Wir sehen in An­sätzen, dass Men­schen Lebens­mit­tel auf Vor­rat kau­fen, viele machen sich Sor­gen, wie sie die Ener­gie­rech­nungen be­zahlen sollen. Aber da be­we­gen wir uns heute eher im Ver­gleich mit den 1970er-Jah­ren und der da­ma­li­gen In­fla­tion, die man poli­tisch als klei­ne­res Übel zu ver­kau­fen suchte, etwa mit­hilfe des be­kannten Aus­spruchs des da­ma­ligen sozial­demo­kra­tischen Bun­des­kanz­lers Helmut Schmidt: "Fünf Pro­zent In­fla­tion sind mir lie­ber als fünf Pro­zent Ar­beits­losig­keit."

Oder Bruno Kreiskys "Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als 100.000 Arbeitslose". In den 1920er-Jahren spitzte der Ausbruch eines territorialen Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich die Lage dann aber dramatisch zu. Damit tritt die zweite Krisenstufe ein, die aber immer noch keine echte Krise ist. Sie nennen sie den Vorraum zur Krise.

Longerich: Ja, diese Unterscheidung ist wichtig. In den Vor­raum der Krise tre­ten wir ein, wenn struk­tu­relle Kon­flikte kul­mi­nieren. In Deutsch­land pas­siert das 1923 mit dem so­ge­nannten "Ruhr-Kampf". Weil Frank­reich der Mei­nung war, dass Deutsch­land seine Repa­rations­zah­lungen nicht or­dent­lich leis­tete, be­setzte es 1923 einen Teil des deut­schen Staats­ge­bietes.

Lässt sich das mit der Invasion Russlands in der Ukraine ver­gleichen?

Longerich: Insofern, als damit das Moment einer äußeren Be­dro­hung hinzu­kam, denn die Be­setzung des Ruhr­ge­biets löste in Deutsch­land große Kriegs­ängste aus. Man fürch­tete, dass das zu einem neuen Krieg mit Frank­reich aus­arten könnte; während die poli­tische Rechte in einer sol­chen Es­ka­la­tion zum Teil den Schlüs­sel zur Lö­sung der Krise sah. Ak­tu­ell be­findet sich Eu­ro­pa damit also im Vor­raum einer Krise, denn es gibt doch eine weit­ver­brei­tete Angst, in diesen Krieg hinein­ge­zogen oder doch zu­min­dest von Kriegs­folgen gra­vie­rend ge­trof­fen zu werden. Da­mals war Kohle der Grund­stock der ge­samten Volks­wirt­schaft, von der Stahl­er­zeu­gung über die Eisen­bahn bis zum Haus­brand. Durch die Ab­sper­rung des Ruhr­ge­biets gab es keine Kohle mehr.

Eine weitere Parallele zur Gasversorgung aus Russ­land, die durch Putins An­griff auf die Ukra­ine ab­ge­schnit­ten wurde.

Longerich: Genau. Deutschland musste britische Kohle impor­tie­ren, mit ent­spre­chen­der Preis­steige­rung. Und na­tür­lich war da­mals auch das Kal­kül der rechts­ex­tre­men Mili­eus, dass sich die Un­zu­frie­denen zu­sam­men­rot­ten und die Lage es­ka­lie­ren las­sen, bis zum Staats­streich.

Es muss also mehr als ein Faktor zusammenkommen, damit eine Krise ent­steht und die drit­te Stufe ein­tritt: die Krise, die wirk­lich die Exis­tenz des Landes be­droht. Was kann die Poli­tik in so einer Phase tun?

Longerich: Wenig. Die Ereignisse des Jahres 1923 lehren uns, dass es in dieser Phase sehr schwer ist ge­gen­zu­steuern. Der eigent­liche Höhe­punkt der Krise von 1923 war ein ver­such­ter Um­sturz von Teilen der al­ten Eli­ten ge­mein­sam mit den Rechts­ex­tre­mis­ten, also der NSDAP unter ihren An­führern Adolf Hitler und Erich Luden­dorff. Das Mili­tär spielte eine un­durch­sich­tige Rolle. Aber dieser Ver­such schei­ter­te. Nach­dem Hitlers Putsch nieder­ge­schla­gen worden war, er­schienen auch alle ande­ren Staats­strei­che und Putsch­pläne obsolet.

Was aber, wie wir heute wissen, seine Machtübernahme dann doch nur um zehn Jahre ver­zögerte.

Longerich: Wir sehen zu Beginn des Herbstes 1923 zunächst Putsch­vor­be­rei­tungen rund um Berlin, sehr wahr­schein­lich mit Wis­sen der Reichs­wehr. Gleich­zei­tig zet­telt Hitler in Mün­chen Un­ruhen an. Die baye­rische Re­gie­rung ver­hängt den Aus­nahme­zu­stand, die Reichs­re­gie­rung rea­giert eben­falls mit einem Aus­nahme­zu­stand, der wie­derum den Ber­li­ner Putsch­ver­such ver­eitelt. Alles treibt nun auf die vier­te Phase der Krise zu, die eigent­liche Ent­schei­dung: Krieg, Bürger­krieg, Kampf aller gegen alle? Doch tat­säch­lich be­endet der miss­lun­gene Hitler-Putsch alle Um­sturz­be­stre­bun­gen, und es tritt eine wirt­schaft­liche und poli­ti­sche Stabi­li­sie­rung ein.

Was zeigt sich hier?

Longerich: Im Rückblick ist klar: Die Regie­rung in Berlin hat die Krise nur glück­lich über­standen. Sie und vor allem schon ihre Vor­gän­gerin hät­ten von vorn­herein scharf han­deln müs­sen, also etwa nicht dulden dür­fen, dass sich die Rechts­ex­tre­mis­ten unter dem Vor­wand des "Ruhr-Kampfes" be­waffnen und mobil­machen. Doch die Re­gie­rungen han­del­ten nicht vor­aus­schau­end, und Reichs­kanz­ler Gustav Strese­mann war schließ­lich völ­lig über­for­dert von der Situa­tion.

Als Sie dazu forschten, dachten Sie wohl nicht an den Sturm aufs Kapitol durch rechts­ex­tre­me Trump-An­hän­ger am 6. Jänner 2021.

Longerich: Soweit es seine Anhänger betrifft, war es ja eigent­lich ein of­fener Auf­stand, um einen ver­fassungs­mäßigen Wahl­vor­gang zu ver­hind­ern. Und es spricht ei­ni­ges da­für, Trumps An­sprache kurz davor als ver­suchten Staats­streich ein­zu­stufen. Noch sind die Unter­suchun­gen hie­rü­ber ja nicht ab­ge­schlos­sen. Doch wie auch immer, es gab keine Unter­stützung bei Poli­zei oder Mili­tär. Das ist ja ein ganz wesent­licher Unter­schied zu 1923.

Ein Hauptproblem in Krisen sind also Politiker, die überfordert bis hand­lungs­un­fähig sind. Genau­so wie Eu­ro­pa nach dem 24. Februar 2022?

Longerich: Und Politiker, die viel Zeit ver­lieren. Im Grunde ge­nom­men hät­te sich die Euro­pä­ische Union schon ein paar Wochen nach der rus­si­schen In­va­sion in der Ukra­ine auf die neuen Ver­hält­nis­se um­stel­len müs­sen. Es hat aber dann mo­na­te­lang ge­dauert, bis ent­schieden wurde, ob und wel­che Waf­fen ge­lie­fert wer­den oder wie man die ei­gene Be­völ­ke­rung vor den Preis­stei­ge­rungen schützt.

Hätte Europa nicht schon 2014, als Putin die Krim angriff, reagieren müssen?

Longerich: Das scheint mir aus heutiger Sicht genauso wenig ver­ständ­lich zu sein wie das Kri­sen­manag­ement im Jahr 1923. Wa­rum blieb man weiter­hin in der Ener­gie­ab­hän­gig­keit von Russ­land? Wie konnte man eini­ger­maßen freund­liche Be­zie­hungen zu Putin unter­hal­ten? Wa­rum haben wir prak­tisch jede mili­tä­ri­sche Rüs­tung ver­nach­lässigt? Gleich­zeitig stel­len Sie sich vor, je­mand hätte 2015 ge­for­dert, an­ge­sichts einer rus­si­schen Be­dro­hung auf­zu­rüs­ten. Er oder sie wäre wahr­schein­lich als der letzte Idiot da­ge­standen.

Und nicht als Hellseher. In Ihrem Buch beschreiben Sie das Ver­sagen der Poli­tik 1923 sehr ge­nau, es fehlt ein Macht­zen­trum, und am Ende herrscht mehr oder weni­ger Chaos. Um­ge­legt auf 2023: Ist die EU krisen­fest?

Longerich: Die Strukturen innerhalb der EU sind ja nicht auf rasche Ent­schluss­bil­dung, in der dann der Mehr­heits­stand­punkt kon­se­quent durch­ge­setzt würde, an­ge­legt. Das sieht man ja heute schon an den vie­len natio­na­len Allein­gän­gen. In einer viru­len­ten Kri­se wür­den die­se gan­zen euro­pä­ischen Mecha­nis­men ver­mut­lich außer Kraft ge­setzt und je­des Land wie­der für sich agie­ren. In Hoch­krisen hin­ken Gre­mien immer hinter­her, Ent­schei­dungs­trä­ger und ihr per­sön­li­ches Wol­len tre­ten in den Vor­der­grund. Das zeigt sich 1923 arche­ty­pisch. Doch auch diese Art von be­schleu­nig­ter, fast schon dik­ta­to­ri­scher Ent­schei­dungs­fin­dung führt nicht zu den ge­wünsch­ten Er­geb­nis­sen. Es wird eher nur noch schlim­mer. Im Nach­hi­nein hat man den Ein­druck eines ver­zwei­fel­ten Ab­stram­pelns. Denn mit oder ohne Gre­mien ist der Pro­zess nicht mehr steuer­bar.

Das heißt, solange alle zu ihren Ministerräten nach Brüssel fliegen, ist das ein gutes Zeichen?

Longerich: Ja, dieses gemeinsame Ringen zeigt uns, dass wir noch immer im Vor­feld der Krise sind. Wenn die echte Krise be­ginnt, dürfte ein anderer Mo­dus herr­schen. In An­sätzen haben wir das ganz zu Be­ginn der Pan­de­mie er­lebt. Die Ber­liner Re­gie­rung hat sich da­mals mit den Minis­ter­prä­si­den­ten kurz­ge­schlos­sen und die Par­la­mente völ­lig über­gangen. Aber wie man ge­se­hen hat, war das nicht un­be­dingt effek­tiver.

Wenn wir zusammenfassen: Was können wir, wenn überhaupt, aus dem Jahr 1923 für 2023 lernen?

Longerich: Die Konsequenzen sind so offen­sichtl­ich, dass sie sich fast schon banal an­hören. Wir sind, wenn man das his­to­risch ver­gleicht, noch nicht in einer schwer­wie­gen­den Krise, son­dern ver­suchen, die Aus­wir­kun­gen einer sol­chen großen Krise zu anti­zi­pieren. Man muss jetzt gegen­steu­ern, so früh wie mög­lich und auch, wenn es un­po­pu­lär ist. Man muss den Men­schen da­bei klar­machen, dass man das alles macht, um künf­tige große Krisen ab­zu­wenden. Die Pläne zur Ener­gie­wende lie­gen ja seit lan­gem auf dem Tisch, sind aber in der Ver­gan­gen­heit ver­nach­läs­sigt worden. Dann muss man na­tür­lich alles tun, damit die Men­schen durch die­se Phase kom­men, ohne zu ver­armen, was un­wei­ger­lich zu schwe­ren innen­po­li­ti­schen Kon­flik­ten füh­ren müsste. Und man muss sich kon­se­quent ge­gen die­jenigen ab­gren­zen, die die Krise für ihre Zwecke aus­nut­zen wol­len.

Sie klingen gar nicht so pessimistisch?

Longerich: Ich bin jetzt sogar wieder optimistisch. Wir sind mitten im Winter, und es läuft doch irgend­wie. Ein­mal mehr: Von einer Krise, in der die Exis­tenz un­se­res ge­sell­schaft­lichen und poli­ti­schen Sys­tems auf dem Spiel steht, sind wir noch weit ent­fernt. Aber das kann nicht heißen, dass wir die Hände in den Schoß legen.

Barbaba Tóth in Falter 1-2/2023 vom 13.01.2023 (S. 27)

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 11, 2023 9:48:00 PM Categories: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
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