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Mehr Gerechtigkeit! 

Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar

von Hans-Jochen Vogel

Klappentext

Bezahlbarer Wohnraum ist das soziale Thema unserer Zeit. Immer mehr Menschen stellt sich die bange Frage, wie lange sie sich ihr Heim noch leisten können. Nicht nur in Großstädten zeigen die Preise nur noch nach oben. Die bisherigen politischen Maßnahmen, wie etwa die Mietpreisbremse, erweisen sich als stumpfes Schwert im Kampf gegen die scheinbar unaufhaltsame Verteuerung des Wohnens. Den eigentlichen Grund hinter den steigenden Preisen hat lange Zeit kaum jemand wahrgenommen: nämlich die explosive Steigerung der Baulandpreise. Erst Hans-Jochen Vogels beharrlicher Kampf setzte das Thema wieder auf die Tagesordnung: Die massive Spekulation mit steigenden Grundstückspreisen führte deutschlandweit in den letzten Jahrzehnten zu einer Erhöhung der Baulandpreise um 1900 Prozent.

Verlag: Verlag Herder
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 80 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.11.2019
Preis: € 12,40

 

Rezension aus FALTER 47/2019

Ein Testament für den Kampf um Grund und Boden

Der deutsche Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel plädiert für eine neue Bodenordnung mit massiven Steuererhöhungen für Grundbesitzer

Der Aufschrei in vielen Großstädten ist unüberhörbar: Wohnen ist zu teuer. Wohnraum ist in Europas Metropolen für viele immer schwerer leistbar. Die Mittelschicht wird an den Stadtrand und ins Umland gedrängt, weit weg von ihren Jobs und vom urbanen Leben. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber ein wesentlicher Preistreiber ist bekannt: Banken, Fonds und Versicherungen investieren in Wohnraum, um möglichst viel Geld zu verdienen. Damit treiben sie den Preis für Bauland immer weiter und schneller in die Höhe. Und der Staat lässt diese Geschäftemacherei auf Kosten der Bürger viel zu oft zu.

Die Preise für Bauland sind in Deutschland seit 1962 um 2300 Prozent gestiegen. Von den Kosten eines Wohnungsbaus entfielen im Jahr 1962 durchschnittlich acht Prozent auf die Grundstückskosten, auf die Baukosten 92 Prozent. Geht es nach Hans-Jochen Vogel, dann sind diese Zahlen ein dringender Auftrag an die Politik, endlich die Bodenfrage zu stellen. Vogel, 93 Jahre alt, hat sich seine ganze politische Laufbahn lang für lebenswertes und leistbares Wohnen eingesetzt; von 1960 bis 1972 als Oberbürgermeister von München, in den 1970ern als deutscher Bundesbau- und Bundesjustizminister, 1983 als SPD-Kanzlerkandidat und von 1987 bis 1991 als Chef der SPD.

Nun hat dieser Mann im biblischen Alter das kleine Buch „Mehr Gerechtigkeit!“ vorgelegt, in dem er energisch für eine neue Bodenordnung in Deutschland eintritt. Vogels zentrale Argumentation: „Grund und Boden ist keine beliebige, je nach Bedarf produzierbare oder auch verzichtbare Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Er ist unvermehrbar und unverzichtbar. Jeder braucht ihn in jedem Augenblick seines Lebens wie das Wasser oder die Luft.“

Dass Grund und Boden eine politisch hochsensible Angelegenheit sind, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht bereits 1967 festgehalten (und seither immer wieder ­bestätigt). Die deutsche Politik, so klagt Vogel, hat diesen von den Verfassungshütern so großzügig ausgelegten Handlungsspielraum niemals genutzt oder gar ausgeschöpft. Dabei liegt für Vogel – grob verkürzt – auf der Hand, was für eine gerechtere Bodenordnung zu tun wäre. Erstens: Verbot und strenge Ausnahmereglementierung für den Verkauf von Grund und Boden durch die öffentliche Hand. Zweitens: massive Wiederbelebung des öffentlich geförderten Wohnungsbaus inklusive legistischer Unterstützung und steuerlicher Begünstigung. Drittens: rigorose Besteuerung des Gewinns aus Steigerungen des Bodenwertes.

Wer sich aus Wiener Sicht Vogels Forderungen für eine neue Bodenordnung ansieht, darf grundsätzlich den Kurs der Stadt bestätigt sehen (der Autor dieser Zeilen ist der Sprecher der Wiener Wohnbaustadt­rätin). 220.000 Gemeindebauwohnungen im Besitz der Stadt und der wirtschaftlich starke Sektor der gemeinnützigen Bauvereinigungen sind für Vogel der Hauptgrund, warum die Wohnsituation in Wien besser ist als in anderen Metropolen.

Vogels Argumentation liest sich überdies geradezu wie eine Empfehlung für die Wiener Widmungskategorie „Geförderter Wohnbau“. Mit der 2018 beschlossenen Bauordnung wurde geregelt, dass bei Neubauprojekten in Zukunft grundsätzlich zwei Drittel der Wohnungen gefördert sind und damit leistbar bleiben. Aber auch Wien ist keine Insel, an der internationale Trends spurlos vorbeiziehen. Auch in Wien wird Wohnen im frei finanzierten Sektor teurer. Vogels politisches Testament ist daher eine gute Erinnerung daran, dass alte Errungenschaften immer wieder aufs Neue verteidigt und an den Lauf der Zeit angepasst werden müssen.

Wolfgang Zwander in FALTER 47/2019 vom 22.11.2019 (S. 23)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, November 20, 2019 6:38:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Wasser Stadt Wien 

Eine Umweltgeschichte

Der Band "Wasser Stadt Wien - Eine Umweltgeschichte" widmet sich der Geschichte Wiens als Stadt am Wasser.

Zahlreiche Illustrationen mit historischen Karten und Ansichten, GIS-Rekonstruktionen der Wiener Landschaften und aktuelle Fotos zeigen den Wandel der Stadt und ihrer Gewässer seit der frühen Neuzeit.

Das Buch ist eine Reise durch Zeiten und Räume - eine Reise, die bis in das Römische Vindobona, zum Schwarzen Meer und an die Nordsee führt. Gezeigt wird die sich verändernde Rolle der Donau und der Wienerwaldbäche für das Leben und Wirtschaften in der Stadt.

Der Band zeigt Praktiken der Gewässernutzung, aber auch die Risiken, die die Gewässer bargen und denen die Stadtbewohnerinnen und -bewohner seit Jahrhunderten mit unterschiedlichsten Mitteln begegneten.

Herausgeber: ZUG – Zentrum für Umweltgeschichte, Universität für Bodenkultur Wien
Verläger: Universität für Bodenkultur Wien: Institut für Hydrobiologie und Gewässermanagement (IHG), Institut für Soziale Ökologie (SEC), Technische Universität Wien / Forschungsbereich Städtebau
Autorinnen und Autoren: Gertrud Haidvogl, Friedrich Hauer, Severin Hohensinner, Erich Raith, Martin Schmid, Christoph Sonnlechner, Christina Spitzbart-Glasl, Verena Winiwarter
Gefördert von: Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus, Stadt Wien (Fachabteilung Wiener Wasser, Fachabteilung Wiener Gewässer)
Projektpartner: Wiener Stadt- und Landesarchiv
Wien Museum
Wienbibliothek im Rathaus
Printausgabe: 496 Seiten, Ganzleinenband mit Lesebändchen
ISBN: 978-3-900932-67-1
Preis: € 39,-

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Bei folgenden Stellen können Sie den Band vor Ort kaufen:

Posted by Wilfried Allé Saturday, November 16, 2019 10:13:00 AM Categories: Gewässermanagement Städtebau Umweltgeschichte
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Globalisten 

Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus

von Quinn Slobodian

Übersetzung: Stephan Gebauer
Verlag: Suhrkamp
Format: Sozialwissenschaften allgemein
Umfang: 522 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.11.2019
Preis: € 32,90

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Nachdem Handelspolitik lange eine Sache spezialisierte Juristen war, ist sie heute ein Feld heftiger politischer Auseinandersetzungen: Beim Brexit steht der freie Warenverkehr auf dem Spiel, Donald Trump droht deutschen Autobauern mit Schutzzöllen.

In seinem Buch, das in der englischsprachigen Welt für Furore sorgt, wirft Quinn Slobodian einen neuen Blick auf die Geschichte von Freihandel und neoliberaler Globalisierung. Im Mittelpunkt steht dabei eine Gruppe von Ökonomen um Friedrich von Hayek und Wilhelm Röpke. Getrieben von der Angst, nationale Massendemokratien könnten durch Zölle oder Kapitalverkehrskontrollen das reibungslose Funktionieren der Weltwirtschaft stören, bestand ihre Vision darin, den Markt auf der globalen Ebene zu verrechtlichen und so zu schützen.

Slobodian begleitet seine Protagonisten durch das 20. Jahrhundert. Er zeigt, wie sie auf neue Herausforderungen – die Entkolonialisierung etwa oder die europäische Integration – reagierten und aus einer Außenseiterposition heraus die Deutungshoheit eroberten. Quinn Slobodian, geboren 1978 im kanadischen Edmonton, ist Associate Professor am Department of History des Wellesley College. Seine Spezialgebiete sind deutsche Geschichte, soziale Bewegungen und das Verhältnis zwischen den Industrieländern und dem globalen Süden.

Rezension zu "Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus" von Quinn Slobodian

Der Erste Weltkrieg wird oft als Urkatastrophe des kurzen 20. Jahrhunderts bezeichnet. Wie Quinn Slobodian in seinem Buch Globalisten zeigt, wurde diese Einschätzung auch und gerade von einer Gruppe von Denkern geteilt, die gemeinhin als Neoliberale adressiert werden – wenn auch aus ganz besonderen Gründen. Aus ihrer Perspektive war 1914 nämlich eine ganze liberale Welt zusammengebrochen. Es handelte sich um eine Welt, die größtenteils aus Nationalstaaten bestand, allerdings von Imperien dominiert wurde und in der britische Kriegsschiffe die Pax Britannica durchsetzten. Dieser ‚hundertjährige Friede‘ (Karl Polanyi) ermöglichte in Kombination mit dem Goldstandard Welthandel in einer Größenordnung, wie sie erst wieder im Zeitalter der gegenwärtigen Globalisierung erreicht werden sollte.

Die Kernthese Slobodians lautet, dass diese globale Dimension, die von derart großer Bedeutung für die Existenz der mit dem Ersten Weltkrieg zerstörten liberalen Welt gewesen war, nach wie vor eine herausragende Rolle im Denken jener Gruppe von Neoliberalen spielte, die er als „Genfer Schule“ bezeichnet: es sind diese Globalisten, auf die sich der Titel des Buchs bezieht.

Den Genfern, zu denen Slobodian bekanntere Denker wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises und Wilhelm Röpke, aber auch unbekanntere wie etwa Michael Heilperin und Gottfried Haberler zählt, erschien die Welt am Ende des ‚Großen Krieges‘ als eine, die zunehmend unter rivalisierenden Nationalstaaten aufgeteilt war, deren Massendemokratien auf bedenkliche Weise dem Sozialismus oder ‚ökonomischen Nationalismus‘ zuneigten – sei es, weil sie planwirtschaftliche Elemente ins Spiel brachten oder bereit waren, Handelsbarrieren zu errichten. Diese Situation verschärfte sich durch eine weitere Zäsur, auf deren Auswirkungen die Genfer reagierten: die Weltwirtschaftskrise, angesichts derer das liberale Credo von den Vorzügen freier Märkte zunehmend zynisch wirkte und die zudem den zaghaften Versuchen, die ökonomischen Grundbedingungen der liberalen Welt des 19. Jahrhunderts etwa in Form des Goldstandards wiederherzustellen, eine Ende bereitete. Die dritte jener Zäsuren, die von zentraler Bedeutung in Slobodians Narrativ sind, ereignete sich allerdings erst sehr viel später, nämlich in den 1970er-Jahren, als eine Gruppe gerade entkolonialisierter Länder bessere Konditionen im Welthandel einforderte und kraft der mit diesen Ansprüchen verbundenen Agenda einer Neuen Weltwirtschaftsordnung das GATT-Regime faktisch in Frage stellte. Wie Slobodian in meisterhafter Manier zeigt, reagierte die Genfer Schule auf jede dieser Zäsuren mit Strategien, die nicht so sehr darauf abzielten, einen wie auch immer gearteten liberalen Status Quo ante wiederherzustellen – handelte es sich doch um Neo- und nicht um Retroliberale. Vielmehr sollte sichergestellt werden, dass der globale Handel unabhängig von und ungestört durch die jeweiligen politischen Ordnungen vonstattengehen konnte. Ausgedrückt in der konzeptionellen Sprache des Römischen Rechts, die Röpke und andere Neoliberale aufgriffen, galt es, die Welt des dominium, das heißt von Eigentum, Handel und Finanzen, vor den Beeinträchtigungen zu schützen, die von der Welt des imperium, das heißt von Nationen, Ländern und Völkern ausgingen. Konkret lief diese Programmatik darauf hinaus, die Rechte des Kapitals gegenüber (postkolonialen) Demokratien in Schutz zu nehmen; diese Demokratien also gewissermaßen im Interesse eines unbehelligten Welthandels zu ‚ummanteln‘.

Slobodian vollzieht nach, wie die Genfer Schule auf die genannten Zäsuren mit neuen Überlegungen und Entwürfen reagiert. In den 1920er-Jahren besteht die Antwort darin, die Weltwirtschaft in einer Weise zu modellieren und zu visualisieren, dass die vielfältigen Nachteile von Protektionismus und ‚Zollmauern‘ (tariff walls) möglichst suggestiv in Erscheinung treten. Doch ist diesen Versuchen kein nachhaltiger Erfolg beschieden, wie nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise und der mit ihr verbundene, grassierende Protektionismus belegen.

Die Lehre, die die Genfer aus den Unzulänglichkeiten jener „Welt der Zahlen“ (S. 81) zieht, lautet, dass sich die widerstreitenden Logiken von imperium und dominium am besten im Rahmen einer supranationalen Föderation ausbalancieren lassen. Unterschiedliche Entwürfe einer solchen Föderation finden sich etwa in den Werken von Lionel Robbins, Hayek oder Röpke, die freilich auf dieselbe Quintessenz hinauslaufen: Falls die supranationale Ebene solcher Föderationen ausschließlich die Macht habe, ‚nein zu sagen‘, wie Hayek formulierte, und damit die ungestörte Mobilität von Waren und Menschen zwischen womöglich divergierenden Jurisdiktionen sicherzustellen, dann ließen sich auf einem derartigen Binnenmarkt diverse Ziele verwirklichen: Es könnte sich nicht nur eine transnationale Arbeitsteilung mit den entsprechenden Spezialisierungseffekten entwickeln, vielmehr würde ein solcher Binnenmarkt einzelnen Jurisdiktionen auch die Macht entziehen, über ökonomische Akteure und ihre grenzübergreifenden Aktivitäten zu bestimmen. Sozusagen als Kompensation für diese Souveränitätsverluste bliebe den Menschen freilich vorbehalten, über kulturelle Fragen zu entscheiden, um etwaige nationalistische Bedürfnisse zu befriedigen.

Jedoch brachte das Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs eine „Welt der Föderationen“ (S. 133), sondern die Institutionalisierung der Vereinten Nationen, die auf ganz anderen Prinzipien beruhte. Slobodian zeichnet nach, wie sich die Genfer daraufhin in ihren Überlegungen dem Recht auf Kapitalbesitz und -transfer zuwenden, um das spannungsreiche Verhältnis zwischen imperium und dominium in ihrem Sinne auszutarieren. Michael Heilperin, ein langjähriges Mitglied der Mont Pèlerin Society, betonte etwa die Notwendigkeit, Kapitaleigentümer und ihre Rechte nicht nur vor Enteignungen, sondern auch vor Kapitalverkehrskontrollen zu schützen. Letztlich, so Heilperin, sei das Recht, ein Land zu verlassen und dabei freie Verfügungsgewalt über die Lokalität seines Kapitals zu besitzen, nicht weniger als ein Menschenrecht.

Diese „Welt der Rechte“ (S. 175) nahm im Nachkriegseuropa eine besondere Form an. 1957 wurde mit den Römischen Verträgen ein Binnenmarkt konstituiert, als dessen Rahmen eine ‚ökonomische Verfassung‘ fungierte, von der schon bei deutschen Ordoliberalen wie Walter Eucken und Franz Böhm die Rede gewesen war – wenn auch in nationalstaatlichen Zusammenhängen. Im Rahmen dieser ‚Verfassung‘ wurden die vier Grundfreiheiten (bezogen auf den freien Verkehr von Waren, Menschen, Kapital und Dienstleistungen) mit unmittelbarer Wirksamkeit (‚direct effect‘) ausgestattet, wie es in den entsprechenden Urteilen des Europäischen Gerichtshofs hieß. Dies bedeutet, dass natürliche und juristische Personen das Recht haben, vor nationale und europäische Gerichte zu ziehen, wenn sie der Auffassung sind, dass diese Rechte verletzt werden, sei es durch (nicht-tarifäre) Handelshemmnisse oder Gewerkschaften, die wiederum auf ihre Rechte pochen können – in den einschlägigen Rechtsstreiten aber zumeist unterlagen.

Freilich blieb, wie Slobodian herausarbeitet, die Genfer Schule gespalten was die Frage angeht, ob die Europäische Gemeinschaft tatsächlich das passende Modell für die Re-Liberalisierung des Welthandels darstellte oder doch eher als eine gigantische ökonomische Festung zu verstehen sei, die errichtet wurde, um ungewollte Konkurrenten vom Binnenmarkt fernzuhalten, also eigentlich nur einen ökonomischen Nationalismus auf höherer Ebene manifestiere. Diese Bedenken machten sich unter anderem an der bevorzugten Behandlung fest, die einstmalige imperiale Mächte wie Frankreich ihren ehemaligen Überseeterritorien zuteilwerden ließen. Und damit wendet sich Slobodian der globalistischen Wahrnehmung der ‚Entwicklungsländer‘ und ihrer vorwiegend nicht-weißen Bevölkerungen zu. Diese Perspektive auf eine „Welt der Rassen“ (S. 211) offenbart eine eher ungewöhnliche – oder womöglich durchaus gewöhnliche – Art von Liberalismus, etwa was die Annahmen über das zivilisatorische Niveau der Länder der Sub-Sahara oder die dort umso stärker ins Gewicht fallenden Defizite demokratischer Mehrheitsherrschaft angeht, die unweigerlich in der selbstzerstörerischen Herrschaft des ökonomischen Nationalismus und der damit verbundenen Gefahr für die Regeln des dominium enden müssten.

Den Schwerpunkt des letzten Kapitels legt Slobodian dann auf eine Rekonstruktion der Vorgeschichte der Welthandelsorganisation. Nachgezeichnet wird, wie Hayekianer aus der WTO ein Freihandelsregime zu formen versuchten, das Hayeks Einsichten bezüglich der Komplexität des (Welt-)Marktes als einem riesigen Informationsprozessor Rechnung tragen würde, der zwar einen bestimmten Rahmen benötige, jedoch keinerlei direkte Interventionen dulde. Im Namen einer „Welt der Signale“ (S. 311) sollte dem damaligen Trend in der Entwicklungsökonomik entgegengewirkt werden, die verstärkt auf makroökonomische Modellierungen im Dienste der oben erwähnten Neuen Weltwirtschaftsordnung setzte.

Die Stärken von Slobobians Buch, das von der American Historical Society mit dem „George Louis Beer-Preis“ für das beste Buch im Bereich internationaler europäischer Geschichte ausgezeichnet wurde, sind vielfältig: Globalisten präsentiert eine herausragende Forschungsleistung, die zudem durch außergewöhnlich gut geschriebene Prosa überzeugt. Es handelt sich, anders gesagt, um ein ausgesprochen akademisches Buch, das selbst dort lesbar bleibt, wo es sich mit den teils höchst undurchsichtigen und technischen Fragen des Welthandels befasst. Die Gesamtkomposition des Buches ist dabei überaus elegant; jedes Kapitel widmet sich einer bestimmten ‚Welt‘, so wie die Globalisten sie über die Zeit hinweg imaginierten und zu verwirklichen trachteten. Am wichtigsten sind zweifelsohne die äußerst originellen Funde und Befunde, an denen in Slobodians Studie keinerlei Mangel herrscht: Der Neoliberalismus ist kein anti-staatlicher Marktfundamentalismus, wie es nach wie vor vielerorts behauptet wird. Vielmehr versteht er den Staat als wichtigen Faktor in seinem Bestreben, die Welt des proprium zu sichern – wobei jener Staat gleichzeitig auch deren größte Bedrohung darstellt. Was Slobodians Narrativ hingegen so einzigartig macht, ist seine Refokussierung der Neoliberalismus-Forschung auf Herrschaftsstrukturen jenseits des Nationalstaats im Kontext von untergehenden rassistisch imprägnierten Imperien. Die Bedeutung dieser Ebenen und Kontexte ist in der bisherigen Forschung allenfalls unzureichend berücksichtigt worden. Slobodians Vorschlag, die Variationen des neoliberalen Denkens um eine Genfer Schule zu erweitern, wird zweifellos Folgestudien veranlassen, die uns ein mutmaßlich noch klareres Bild dieser Version von Neoliberalismus vermitteln werden, und zwar nicht nur in seiner Sichtweise auf die OECD-Welt, sondern auch auf den Globalen Süden.

Bisweilen überspannt Slobodian, das darf nicht unerwähnt bleiben, den Bogen seiner Kernthese ein wenig, ruft man sich etwa in Erinnerung, dass die meisten Neoliberalen, inklusive Hayek, trotz aller supranationalen Erwägungen vorwiegend eben doch im nationalstaatlichen Rahmen dachten. Aber das sind Vorbehalte und Fragen, die zukünftige Forschungsarbeiten hoffentlich aufgreifen werden, die ansonsten in Slobodians wichtigen Einsichten und Thesen ihren Ausgangspunkt finden sollten. Zweifelsohne liefert Globalisten sowohl (Ideen-)Historiker*innen wie politischen Theoretiker*innen eine überaus anregende Lektüre. Sein Narrativ endet zwar mit der Gründung der Welthandelsorganisation Mitte der 1990er-Jahre, aber es enthält eine Vielzahl von Implikationen für unsere Gegenwart: von Handelsabkommen wie TTIP und CETA bis hin zu einer Europäischen Union, in der die „ordoglobalistische“ Perspektive, wie Slobodian sie nennt, zur Etablierung eines Regimes der Austerität in Reaktion auf die Eurozonenkrise geführt hat, und einem Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, dessen Politik die Genfer zweifellos als ökonomischen Nationalismus und damit als einen Angriff der Welt des imperium auf diejenige des dominium gebrandmarkt hätten.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Posted by Wilfried Allé Thursday, November 14, 2019 3:34:00 PM Categories: Sozialwissenschaften allgemein
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Die unbewohnbare Erde: Leben nach der Erderwärmung 

The Uninhabitable Earth: Life After Warming

von David Wallace-Wells

Zwar werden verschiedene Aspekte der Klimakrise in den Medien häufig thematisiert, doch wie sich die Lebensumstände auf der Erde in den nächsten Jahrzehnten im Detail verändern könnten, spielt in der öffentlichen Diskussion eine eher untergeordnete Rolle. David Wallace-Wells hat konkrete Szenarien für eine möglicherweise unerträgliche Zukunft entwickelt. Der Autor bekennt: „Ich bin kein Umweltschützer und sehe mich nicht einmal als Naturliebhaber“. Er wollte nicht über die wissenschaftlichen Aspekte der Erderwärmung schreiben, beispielsweise die exakten physikalischen Folgeerscheinungen der Kohlenstoffdioxid-Emissionen. Seine Texte beruhen jedoch auf Forschungen und Prognosen anerkannter Wissenschaftler. Daraus entwickelte der Journalist Szenarien, welche konkreten Auswirkungen die Erderhitzung auf die Biosphäre und auf menschliche Gesellschaften haben könnte. Der Autor beschreibt die schlimmstmöglichen Folgen im Rahmen verschiedener Worst Case-Szenarien, zeigt sich jedoch optimistisch, dass die Menschheit in der Lage sein wird, die kommende Krise zu bewältigen.

Verlag: Random House
Genre: Umwelt/Ökologie
Umfang: 310
Erscheinungsdatum: 19.02.2019
Preis: € 14,40



Rezension aus FALTER 44/2019

Wie wird die Erde in fünfzig Jahren aussehen?

Wer glaubt, beim Klimawandel ginge es nur darum, dass der Meeresspiegel ein wenig steigt oder dass es im Sommer um ein paar Grad wärmer wird, hat kaum etwas verstanden. Aufklärung gibt Journalist David Wallace-Wells. Sein Buch ist eine Art futuristischer Reisebericht, ein Streifzug durch die nächsten fünfzig Jahre. Er zeigt, wie die Erde in den kommenden Jahrzehnten aussehen wird – Klimakriege, wirtschaftliche Verwüstung und Nahrungsmittelknappheit nicht ausgeschlossen. Ein Weckruf für alle, die bislang das Thema ignoriert haben.

Emily Walton in FALTER 44/2019 vom 01.11.2019 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Monday, November 4, 2019 12:12:00 PM Categories: Umwelt/Ökologie
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Die falschen Freunde der einfachen Leute  

Es bedarf vielmehr ein Gespräch über Angst, als einer Lektion über Rassismus

von Robert Misik

Inhalt

Alte Parteien verschwinden, neue tauchen auf, die Leitplanken des Diskurses verschieben sich. So chaotisch die politische Situation sich darstellt, so unübersichtlich ist das Angebot an Deutungen für den Aufstieg des autoritären Nationalismus: Die einen erklären ihn mit Politikverdrossenheit und amorpher Wut, andere mit ökonomischen Faktoren wie Globalisierung und wachsender Ungleichheit, wieder andere führen ihn auf die vermeintliche kulturelle Abwertung von Menschen mit konventionellen Werten und Lebensstilen zurück.

Für sich genommen, so Robert Misik, ist jede dieser Erklärungen viel zu simpel gedacht. Ökonomische und psychopolitische Dynamiken schaukeln sich hoch. Die verborgenen Verwundungen in einer Klassengesellschaft brauchen multikausale Erklärungen – und radikale Antworten.

Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Politikwissenschaft/Politik, Wirtschaft
Umfang: 138 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.11.2019
Preis: ca. 14,40 €
Lieferbar:: ab 11.11.2019

Rezension aus FALTER 44/2019

Die sogenannten einfachen Leute

Warum die mediale Darstellung der Arbeiterschaft als ignorant, rassistisch und intolerant nicht nur falsch ist, sondern auch die falschen Parteien stärkt

In vielen europäischen Städten machen Menschen mit Migrationshintergrund rund 50 Prozent der Einwohnerschaft aus. Längst gibt es auch eine eingewanderte Mittelschicht, doch unter den verwundbarsten Arbeitnehmern und unter denen, die am Arbeitsmarkt keine Chance haben, sind Migranten häufiger vertreten, als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Der verletzbarste Teil der Arbeiterklasse, das sind Teile der alten weißen Arbeiterklasse und das neue, zugewanderte Proletariat.

Ihre Lage ist oft sogar frappierend ähnlich: Das beginnt mit der Chancenarmut, mit der sie bereits ins Schulleben starten. Es geht weiter mit den abwertenden Zuschreibungen und Projektionen, der Herablassung, mit der sie täglich konfrontiert sind. Setzt sich fort mit dem Hangeln von schlechtem Job zu schlechtem Job und dem – wenn überhaupt – verspäteten Eintritt in ein stabiles Beschäftigungsleben.

Betrachtet man die Dinge so, könnte man beinahe meinen, diese verschiedenen besonders verwundbaren Gruppen müssten sich zusammentun, ein instinktives Solidaritätsgefühl entwickeln. Und tatsächlich ist das ja auch manchmal der Fall: Spricht man mit Angehörigen der weißen Arbeiterklasse, die sich als Verlierer fühlen, kann man von ein und derselben Person hören, dass durch „die vielen Ausländer“ alles schlechter werde, dass „sie“ (die Eliten) all die Zuwanderer reinlassen, der türkische Kollege im Betrieb aber ein klasser Kerl sei, auf den sie nichts kommen lassen, und dass der syrische Ladenbesitzer im Nebenhaus bewundernswert fleißig sei oder der serbische Elektroinstallateur, der sich so um die Kinder kümmert und keinen Elternabend in der Schule versäumt, oder der mobile albanische Altenpfleger, der täglich die eigene Mutter besucht und wäscht.

Es ist, horcht man genau hin, ja keineswegs so, dass es kein Solidaritätsgefühl gibt. Selbst wenn man dieselben Lebenswelten bewohnt, existiert zwar eine Fremdheit, die selten vollends überwunden wird, aber durchaus auch wechselseitiger Respekt.

„Gute Leute“, das hört man von den Zuwanderern auf die Einheimischen gemünzt. „Gute Leute“, hört man genauso oft von den Einheimischen auf die Zuwanderer gemünzt.

Und dennoch wird gerne behauptet, Migration sei „das Thema“ schlechthin, es würde für Polarisierung sorgen, sei der entscheidende Faktor für die Entfremdung der „weißen Arbeiterklasse“, ihren Zorn und ihre Wut. Und das ist auch nicht völlig falsch.

Deswegen ist es wichtig zu verstehen, was da abgeht. Es ist ein seltsames Amalgam aus Vorurteilen, richtigen Urteilen, Empfindungen, aus Normen, Werten und Konflikten, aus Übersetzungen und Interpretationen von Verwundungserfahrungen.

Im Unterschied zu den migrantischen arbeitenden Klassen haben die weißen arbeitenden Klassen eine Abstiegserfahrung gemacht. Das kann ein ganz persönlicher Abstieg sein oder ein symbolisch empfundener – wenn die Aufstiegshoffnung, die frühere Generationen hegen durften, verschwindet, wird das als Verlust erlebt, der in gewisser Weise einem Abstieg gleichkommt. Menschen sind eher frustriert über das, was sie verloren haben, als über etwas, das sie nie besaßen.

Das Gefühl, an den Rand gedrängt worden zu sein, verbindet sich dann mit Erfah­rungen, die Menschen in Gesellschaften mit Massenmigration machen. „Wir sollten im Zentrum stehen. Ich denke, andere Leute sollen die gleichen Möglichkeiten haben wie wir, aber wir sollten schon als Erste drankommen“, meint ein Gesprächspartner in East London gegenüber dem Sozialforscher Justin Gest. Die Minderheiten stellen jedoch denselben Anspruch, zumindest scheint es so, als wäre der als natürlich empfundene Anspruch der „Hiesigen“, als „Erste dranzukommen“, heute nicht mehr gewährleistet. Das lässt das Gefühl entstehen, „selbst Opfer von Diskriminierung­“ zu sein. Die hiesigen „einfachen Leute“ haben das Gefühl, sie seien „eine neue Minderheit“.

„Bei uns sieht es aus wie in einem Vorort von Nairobi. Aber was können wir schon dagegen machen?“, sagt eine resignierte Gesprächspartnerin in East London. In der Wahrnehmung der Betroffenen werden der ökonomische Stress und die migrationsbedingten Veränderungen im Viertel dabei zu Symptomen ein und desselben Prozesses. Wenn diejenigen, die sich als Verlierer dieser Entwicklungen sehen, sagen „ich komme nicht mehr mit“, ist das oft ein Code für Immigration. Zugleich ist die Immigration aber in gewisser Hinsicht selbst nur ein Code für das ganze Set an Veränderungen, die mit diesem Abstieg verbunden werden.

Seit je hat die Arbeiterklasse einen eigenen Leistungsbegriff hochgehalten, nämlich dass man sich Respekt, Selbstrespekt und den Anspruch auf Einkommen durch Anpacken und die Bereitschaft verdient, die eigenen Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Durch Disziplin und Selbstdisziplin. Im „alten“ Klassenkampf war das ein schlagkräftiges Argument: Lohnsteigerungen setzte man nicht mit der Begründung durch, dass einen mehr Kohle fröhlicher macht, sondern man stellte sich auf die Position, dass einem ein fairer Anteil am Kuchen „zusteht“ – und zwar eben wegen der Anstrengung und der eigenen Lebensleistung. Dieses Leistungsprinzip der Arbeiterklasse führte­ im Übrigen dazu, dass Werte in der Realität oft in widersprüchlichen Schattierungen und mit vielen Graustufen auftraten: Einerseits gab es nicht nur das egalitäre Ideal, sondern regelrechte egalitäre Instinkte, andererseits das Bewusstsein für feine Unterschiede. Hier­archien fanden durchaus Akzeptanz.

Staatliche Gelder für Arbeitslose, chronisch Gescheiterte oder „die Armen“ waren in der Arbeiterklasse oft sogar weniger akzeptiert als in bürgerlichen Schichten. Für Angehörige der Arbeiterklasse waren die Armen Leute aus der eigenen Umgebung, die sich primär dadurch von ihnen unterschieden, dass sie sich weniger anstrengten oder es an Disziplin vermissen ließen. „Ich stehe ja auch um sechs Uhr morgens auf und mache einen Job, der eigentlich eine Qual ist – warum soll der andere eine Unterstützung bekommen, nur weil er sich diese Qual erspart?“ Gerade wer harte Arbeit leistet, will nicht, dass andere „auf meine Kosten leben“.

In Gesellschaften mit Massenmigration kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Nicht nur Leistung begründet Ansprüche an die Gemeinschaft, sondern auch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft selbst. Diese volle Zugehörigkeit wird bei Migranten oft – manchmal begründeter, manchmal unbegründeter – infrage gestellt. Hört man genau hin, stößt man auf ganz unterschiedliche Erscheinungsformen einer zerrissenen Solidarität. Für den Arbeitslosen aus der weißen Arbeiterklasse sind die Migranten, die das soziale Netz in Anspruch nehmen, Konkurrenten um Transferleistungen; für den, der zwölf Stunden am Tag malocht und seine Steuern und Sozialbeiträge zahlt, sind sie die Verursacher seiner Abgabenlast.

„Menschen aus der ‚weißen Arbeiterklasse‘ tendieren in Gesprächen dazu, als Vorwort gewissermaßen hinzuzufügen, dass sie keine Rassisten seien und keine Vorurteile hätten. (…) Sie haben Angst, dass ihre Ansichten disqualifiziert werden könnten, obwohl diese Ansichten in der Realität ja authentische Ausdrücke dessen sind, was sie erleben, wie sie leben und wie sich ihre Leben verändern“, resümiert Justin Gest.

Der Vorwurf des Rassismus wird als weiteres Mittel verstanden, die Artikulation der Arbeiterklasse zu kontrollieren und ihre Empfindungen als bedeutungslos hinzustellen. Einer sagt: „Ich arbeite seit 38 Jahren und sehe immer mehr Leute auf der Straße, bei denen ich das Gefühl habe, dass ich die mit durchziehe.“ Ein anderer: „Sie tun so, als gehöre ihnen die Straße.“

Ein ganzes Panorama psychopolitischer Dynamiken tut sich dann auf. Es geht bergab, und man fühlt sich auch noch unsichtbar gemacht. „Jeder tut so, als wäre man als Weißer eh gut gestellt.“ Alle anderen dürfen sich beklagen, aber man selber soll die Klappe halten.

Man sieht sich selbst als das „einfache Volk“, als „echt“, „authentisch“ und „normal“, aber die moderne Mittel- und die Oberschicht schaut nur mehr auf einen herunter. So kommt unter den „einfachen Leuten“ der Eindruck auf, Buntheit und Multikulturalität würden als „Diversity“ gefeiert, während sie selbst einen Statusverlust hinnehmen müssen.

„Die weiße Arbeiterklasse fühlt sich von den elitären weißen ‚Brüdern‘ verraten, die sie als Arbeiter ausbeuten, die sie während wirtschaftlicher Krisen hängenlassen und die sich nur für die sozialen Verwundungen von Minoritäten interessieren.“

Wenn progressive Sozialinitiativen Nachhilfe, Ausflüge oder Ferien für Kinder aus unterprivilegierten migrantischen Familien organisieren, fragen die Hiesigen sich: „Warum tun sie das nicht auch für uns?“ Und wenn sie in den Nachrichten junge Leute aus wohlhabenderen Milieus sehen, die an Bahnhöfen Hilfsaktionen für Flüchtlinge organisieren, betrachten sie das mit dem insgeheimen Wissen: „Für uns würden sie so etwas nie tun.“ Für diese Teile der alten einheimischen Arbeiterklasse stellt sich die Welt dann als eine Art Dreieck dar: Es gibt die einheimischen Eliten, die Migranten und die „einfachen Leute“. Und die ersten beiden stecken irgendwie zum Schaden Letzterer unter einer Decke.

Es gibt übersteigerten Nationalismus. Es gibt Rassismus. Es gibt die rechtsradikale Ideologie, dass Weiße mehr wert sind als Schwarze. Es gibt aber auch das Gefühl des Bedrängtseins, Leute, die finden, das Ausmaß der Zuwanderung und der Veränderung gehe zu weit.

Den Eindruck, von den Eliten verkauft worden zu sein. Ein Denken in Insider-Outsider-Kategorien, das sich mit den lange tradierten Werten der Arbeiterklasse verbindet, etwa dem lokalen Gemeinschaftsgeist, und oft zu scheinbar paradoxen Haltungen führt. So ergaben Studien unter Sympathisanten rechter Parteien in der deutschen Arbeiterschaft, dass sich „das Gesellschaftsbild der rechtsaffinen jungen Arbeiter kaum von demjenigen sozialdemokratisch orientierter Altersgenossen unterschied.

Man fühlte sich ungerecht behandelt und übte deshalb Kritik am ‚System‘. Im Grunde sehnte man sich jedoch nach einer Republik zurück, in der Arbeiter respektiert waren und Leistung gerecht vergütet wurde.“ Ein Rosenheimer Mechaniker sagt im Interview: „Man könnte mich in etwa so einschätzen, dass ich leicht rechts, leicht links orientiert bin.“ Keiner der Befragten hatte etwas gegen „die Ausländer“: „(E)inige der jungen Arbeiter waren mit migrantischen Altersgenossen befreundet. Doch es gab eine klare Scheidelinie.

Willkommen war nur, wer sich anpasste und etwas leistete.“ Ein Betriebsrat mit Sympathie für die radikale Rechte schätzt hart arbeitende Armutsmigranten, „Flüchtlinge“ stehen aus seiner Sicht viel weiter unten in der Hierarchie: „Flüchtlinge müssen (…) raus. Wer hier jetzt herkommt, arbeitet, sich integriert, wer sich einordnet, unterordnet, kein Thema. Da habe ich ja nichts dagegen. Aber die, die nur hierherkommen und die Hand aufhalten und sich benehmen wie das Letzte und denken, die können sich alles erlauben, raus.“

Joan C. Williams berichtet in ihrer Studie über die US-Arbeiterklasse von einem Mann, der seine Klasse durch Aufstieg verlassen hat, der die rassistischen Einstellungen seiner Familienmitglieder sehr wohl kennt, aber auch ihre egalitären Werte und der nicht glaubt, „dass seine Familienmitglieder schlechte Leute sind“.

Sie haben Ansichten, die er für intolerabel hält. Zugleich ist er sicher, dass sie das Herz am rechten Fleck haben. Seine Verwandten bräuchten keine Lektion über Rassismus, sondern ein Gespräch über Angst. „Leuten zu sagen, dass sie rassistisch, sexistisch und xenophob sind, bringt einen exakt nirgendwohin. Es ist eine zu einschüchternde Botschaft. Wenn wir etwas aus der Sozialpsychologie wissen, dann dass Menschen sich nicht ändern, wenn man sie angreift – sie können sich dann nicht ändern.“

Williams zieht daraus den Schluss: „Das Ziel sollte darin bestehen, einen Keil zwischen das Laster des ideologischen Rassismus und Leute zu treiben, die es einfach nur über haben, dass in ihren Augen die ‚politisch Korrekten‘ ihre Probleme ignorieren und alles Mitgefühl – oder jede Empathie – auf diverse andere Gruppen leiten.“

Diese Haltungen finden ihre Begründungen teilweise sogar in den Traditionen und Werten der historischen Arbeiterklassenkultur. Im Bewusstsein, „dass man nichts geschenkt bekommt im Leben“ oder dass, wer „dazugehört“, bevorzugt behandelt werden sollte. Sie wurzeln in den antielitären Affekten gegen „die da oben“, in den vorindustriellen Volkskulturen, im Lokalpatriotismus. Aber eben auch im Konservativismus der Arbeiterklassenkultur.

In der wirklichen Welt dominieren die Graustufen und die Übergänge. Menschen etwa, die es satthaben, dass die Reichen immer reicher werden, während in ihr eigenes Leben immer mehr Unsicherheit einzieht. Leute, die Rassismus ablehnen, aber dennoch finden, dass gegen afghanische Jugendgangs etwas getan werden sollte, und die sich darüber aufregen, dass, wie mir das einmal ein bayerischer Gewerkschafter sagte, „die Oberen, die nichts zum Gemeinwohl beitragen, uns zu allem Überdruss noch erklären wollen, wie wir zu reden haben!“

Wie bei dem oben zitierten Mechaniker aus Oberbayern geht im echten Leben oft alles durcheinander, finden sich „eher rechte“ Auffassungen und zugleich „eher linke“ – und meist keine davon in ihrer radikalen Reinform.

Die mediale Darstellung der „einfachen Leute“ als ignorant, rassistisch und intolerant erregt dann erst recht den Zorn dieser „einfachen Leute“, die als „zornig“ vorgeführt werden (es ist dann gewissermaßen ein Zorn zweiter Ordnung), weil sie sich nicht authentisch wiedergegeben fühlen, sondern auf ungerechte Weise abgewertet sehen.

Sie haben – nicht ganz zu Unrecht – den Eindruck, ihre durchaus durchdachten, auf realen Erfahrungen beruhenden, oft auch sehr abgestuften Urteile würden nicht einmal wahrgenommen, sondern sie würden als Realkarikaturen ihrer selbst vorgeführt wie früher am Jahrmarkt die Verwachsenen oder Menschen mit Wasserkopf.

Robert Misik in FALTER 44/2019 vom 01.11.2019 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Saturday, November 2, 2019 8:06:00 PM Categories: Politikwissenschaft/Politik Wirtschaft
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Der globale Green New Deal 

Warum die fossil befeuerte Zivilisation um 2028 kollabiert – und ein kühner ökonomischer Plan das Leben auf der Erde retten kann

von Jeremy Rifkin

Übersetzung: Bernhard Schmid
Verlag: Campus
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 319 Seiten
Erscheinungsdatum: 09.10.2019
Preis: € 27,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das neue Buch des Bestsellerautors Jeremy Rifkin

Rund um den Globus kippt angesichts der drohenden Klimakatastrophe die Stimmung, und der Protest der Millennials gegen eine Politik, die ihre Zukunft zerstört, wird immer lauter. Gleichzeitig sitzt die Welt angesichts alternativer Technologien auf einer 100-Billionen-Dollar-Blase aus Investitionen in fossile Brennstoffe. Zukunftsforscher Jeremy Rifkin zeigt, wie aus dieser Konstellation die einmalige Chance auf einen Green New Deal entsteht. Seine Warnung:

- Der ökonomische Kollaps unserer Zivilisation steht unmittelbar bevor.
- Um 2028 wird die Blase platzen und die Weltökonomie in eine globale Betriebsstörung führen.

Was bedeutet das für uns, wo die Energiewendeschon schon lange auf der Tagesordnung steht? Gelingt ein gemeinsamer radikaler Aufbruch in letzter Minute? Rifkin gibt Antworten. Jeremy Rifkin ist einer der bekanntesten gesellschaftlichen Vordenker. Er ist Gründer und Vorsitzender der Foundation on Economic Trends in Washington. Seine Bücher sind internationale, in 35 Sprachen übersetzte Bestseller und lösten weltweite Debatten zu den großen gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen aus, siehe zum Beispiel ›Das Ende der Arbeit‹ und ›Access‹ und zuletzt ›Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft‹. Rifkin berät zahlreiche Organsisationen und Regierungen - unter anderem Deutschland, die EU, China - und unterrichtet an der renommierten Wharton School der University of Pennsylvania.

Posted by Wilfried Allé Saturday, October 12, 2019 1:34:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Geheime Pfade 

Durchhäuser, Hinterhöfe und versteckte Gassln in Wien

von Gabriele Hasmann, Charlotte Schwarz

Ein Buch über ganz besonders bezaubernde Flecken Wiens: verborgene Durchhäuser, romantische Innenhöfe und stille Gassln, durch die man abseits der Touristenströme entspannt schlendern kann.  Legenden, Anekdoten und viele interessante Geschichten zu den historischen Orten ergänzen die Beschreibungen und die beeindruckenden Fotos machen Lust auf das Erkunden dieser einmaligen Kleinode und Farbtupfen im Grau der Großstadt.

EAN: 9783854396390
Verlag: Falter Verlag
Format: Gebundene Ausgabe
Umfang: 248 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.09.2019
Preis: € 29,90

Pressetext

Im Falter Verlag erscheint ein Buch über ganz besonders bezaubernde Flecken Wiens: verborgene Durchhäuser, romantische Innenhöfe und stille Gassln, durch die man abseits der Touristenströme entspannt schlendern kann. Wenn man an Wien und seine Attraktionen denkt, kommen einem zunächst der Stephansdom, das Riesenrad, der Prater oder Schloss Schönbrunn in den Sinn. Das typische Flair aber, das Wien so reizvoll macht, findet sich nicht so sehr in den touristischen Hauptattraktionen, sondern vielmehr in den charmanten versteckten Hinterhöfen, den Durchhäusern und in den kleinen, stillen Gassln im Stadtzentrum. Die Kombination dieser historischen städtebaulichen Elemente macht einen Teil des Zaubers der österreichischen Metropole aus. Worum aber handelt es sich bei den sogenannten Durchhäuser eigentlich? Entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sind es Bauwerke, die sich zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen befinden und von beiden Seiten her betreten werden können. Sie stellen sowohl eine historische wie auch architektonische Besonderheit dar, sind vielfach mit romantischen Innenhöfen versehen und werden von den Bewohner*innen gerne als Schleichwege und Abkürzungen genutzt. In einigen davon ist mit Geschäften, Handwerksbetrieben, Cafés und Restaurants neues Leben eingezogen. Andere sind nach wie vor Geheimtipps und oft nur den Anrainer*innen bekannt. Die Liebe der Autorinnen zu diesen versteckten Seiten der Stadt hat sie veranlasst, dieses Buch zu schreiben. Es will einerseits die Bewohner*innen an die vielen Grünoasen erinnern, die sie zur Erholung im Großstadttrubel vorfinden. Andererseits dient das Buch Wienbesucher*innen als Wegweiser zu diesen versteckten Juwelen. Legenden, Anekdoten und viele interessante Geschichten zu den historischen Orten ergänzen die Beschreibungen. Zudem machen die beeindruckenden Fotos Lust auf das Erkunden dieser einmaligen Kleinode und Farbtupfen im Grau der Großstadt. Autorin: Gabriele Hasmann, selbstständige Autorin, Lektorin, Pressetexterin, Journalistin und Kolumnistin, außerdem Veranstalterin einer Mystery-Eventreihe. Über dreißig Sachbücher in den Bereichen Gruseliges, Historisches, Regionales und Unterhaltendes. Fotografin: Charlotte Schwarz, Fotografin und Artdirektorin, präsentiert künstlerisch-kreative Fotografie mit einer unverkennbaren Bildsprache. Einige Publikationen zusammen mit Gabriele Hasmann.

Pressekontakt:
Susanne Schwameis
T: 01/536 60-938
E: schwameis@falter.at

Posted by Wilfried Allé Friday, October 4, 2019 11:28:00 PM Categories: Bezaubernde Flecken Wiens Kultur für Genießer
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Die Ökonomie des Alltagslebens 

Für eine neue Infrastrukturpolitik

Mit einem Vorwort von Wolfgang Streeck Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Inhalt

Duschen, Radio an, Espressokanne auf den Herd, Kinder in die Kita, ab in die U-Bahn: Alle diese Handlungen, die wir für selbstverständlich halten, wären ohne komplexe Infrastruktur nicht möglich. Ähnliches gilt für Gesundheitsversorgung und Bildung, die ohne staatliche Investitionen in Gebäude und Personal nicht funktionieren würden. Doch in den vergangenen Jahrzehnten wurden in ganz Europa immer mehr Krankenhäuser, Schulen, Bahnstrecken oder gleich ganze Verkehrsnetze privatisiert und so der Profitlogik unterworfen – mit bisweilen dramatischen Folgen.

Inzwischen wächst der Widerstand; in vielen Ländern formieren sich Bewegungen für eine Rekommunalisierung z. B. der Wasserversorgung. Was wir brauchen, so die Autorinnen und Autoren, ist eine neue, progressive Infrastrukturpolitik. Wir müssen die Ökonomie wieder als etwas begreifen, das zuallererst dem guten Leben der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet ist.

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Erschienen: 12.08.2019
edition suhrkamp 2732, Taschenbuch, 263 Seiten
ISBN: 978-3-518-12732-2
Preis: 18,50 €
Auch als eBook erhältlich

Pressestimmen

»Dieses Buch sollte jeder lesen, der sich für linke Politik interessiert (und vielleicht einmal was anderes, als toxische Antiidentitätspolemiken lesen möchte). Es verschiebt die Perspektiven einer auf Verteilung ausgerichteten Politik zu einer Politik der Infrastrukturen, der vergesellschafteten Ökonomie. Mit solch einer Strategie könnte die Linke am Alltag der Menschen ansetzen ... «
Oliver Nachtwey, Süddeutsche Zeitung

»Eine überzeugende Initiative gegen den Neoliberalismus.«
Wolfgang Streeck, 20.11.2018

Posted by Wilfried Allé Thursday, October 3, 2019 8:49:00 PM Categories: Infrastrukturpolitik Neoliberalismus Rekommunalisierung
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Überreichtum 

von Martin Schürz

Zu viel Reichtum in wenigen Händen zerstört die Demokratie, warnt der Vermögensforscher Martin Schürz in einem neuen Buch – und zieht radikale Schlüsse

Verlag: Campus
Format: Taschenbuch
Genre: Wirtschaft
Umfang: 226 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.09.2019
Preis: € 25,60

Rezension aus FALTER 40/2019

Überreichtum zerstört die Demokratie

Der Ökonom Martin Schürz legt ein faktenreiches und politisch aufrüttelndes Buch über Reichtum und wie man ihn begrenzt vor

Zur Vermögensforschung hat in Österreich kaum jemand so viel beigetragen wie der Wirtschaftswissenschaftler Martin Schürz. Während über die Armen jedes Detail ihrer ökonomischen Verhältnisse amtsbekannt ist, interessierten sich Politik und Wissenschaft über Jahrzehnte nicht für die Verhältnisse der Reichen. Mit dem unter der Leitung von Schürz erhobenen „Household Finance and Consumption Survey“ der Nationalbank wurde die Datenlage besser: Das oberste Prozent der Haushalte besitzt zwischen 30 und 40 Prozent des gesamten Vermögens.

Doch die aufwendig erhobenen Daten ließen den Nationalbankökonomen unzufrieden zurück. Was bedeutet exzessiver Reichtum einiger weniger bei gleichzeitiger Armut so vieler für Gesellschaft und Demokratie? Die Ökonomie kann zur Beantwortung dieser Frage wenig beitragen. Glücklich die Fügung, dass der Autor nicht nur Ökonom, sondern auch Philosoph und Psychoanalytiker ist. So wird ein innovativer Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen des Reichtums möglich.

Schürz führt den Begriff des „Überreichtums“ ein, der dem Buch den wuchtigen Titel gibt und in der gesellschaftlichen Debatte den geeigneten Gegenbegriff zur Armut bildet. Er nimmt bei Platon Anleihe, der als „überreich“ jene Reichen bezeichnet, die nicht tugendhaft sind. Für Schürz sind jene überreich, die zu viel haben, fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien verletzen und die Demokratie zerstören.

Das Buch sucht nach Begründungen des Überreichtums. Die Debatte um Gerechtigkeit zwingt die Überreichen zumindest zur Rechtfertigung, etwa von Leistung, was sie rasch an ihre Grenzen führt. Wie sollte jemand tausendmal leistungsfähiger sein als jemand anderer? Meist wird der Gerechtigkeitsdiskurs deshalb rasch verlassen. Lieber werden beliebige Narrative zum gesellschaftlichen Verdienst der Reichen gesponnen, wie etwa jene vom innovativen Unternehmer oder gutmütigen Charakter. Den Reichen werden Tugenden wie Großzügigkeit und Mitleid zugeschrieben, und vor allem die Philanthropie erweist sich als wirkungsmächtiges Instrument der Rechtfertigung des Überreichtums. Sie signalisiert, der Reichtum käme schlussendlich doch auch den Armen zugute. Doch die aus den Gated Communities der Überreichen geleistete Philanthropie ist nur ein undemokratischer Gegenentwurf zu dem mit Rechten und Ansprüchen der breiten Bevölkerung verbundenen Sozialstaat.

Die Politik beschränkt sich – wenn überhaupt – auf bescheidene Reformvorschläge: Reichensteuern mit niedrigen Sätzen; Bildung, die nur sehr langfristig hilft; die Ideologie der Eigentümergesellschaft, die den Einzelnen mit einem Eigenheim ruhigstellen will. Für Martin Schürz ist eine Erbschaftssteuer, die dann erst wieder mit Ausnahmen durchlöchert wird, zu wenig. Die Eigentumsverhältnisse sind entglitten und dies bedarf nicht nur eines bescheidenen Beitrags der Superreichen, sondern einer demokratischen Grenzsetzung. Damit thematisiert er ein Tabu. Eigentumsfragen sind heute so verpönt wie es die Infragestellung von Ungleichheit noch vor 15 Jahren war.

Der durch die Gleichzeitigkeit von Überreichtum weniger und Armut vieler ausgelöste Zorn kann zusammen mit Mitgefühl eine tragfähige Basis für notwendiges politisches Handeln sein: Regulierung von Märkten zur Vermeidung exzessiver Pro­fite, Trockenlegen von Steuersümpfen, Vermögensregister, -steuern und -obergrenzen. Für das Gelingen ist neben der Basis aus genauen Daten und normativer Analyse vor allem aber Mut notwendig. Die ersten beiden Elemente hat Martin Schürz mit seinem wichtigen Buch bereitgestellt und an Letzterem fehlt es ihm nicht.

Markus Marterbauer in FALTER 40/2019 vom 04.10.2019 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 2, 2019 11:15:00 AM Categories: Wirtschaft
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Die Rhetorik des Sebastian Kurz  

Was steckt dahinter – Manipulation oder Redehandwerk?
Körpersprache verbessern, in Diskussionen überzeugen und Rededuelle gewinnen. Analyse mit dem 4mat-System

von Thomas W. Albrecht

Verlag: Goldegg Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 304 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.08.2019
Preis: € 22,00

Rezension aus FALTER 38/2019

Inszenieren, manipulieren: Wege zum politischen Erfolg?

Sebastian Kurz ist ein Meister der Kommunikation. Für langfristigen politischen Erfolg sollte er sich darauf aber nicht ausruhen

Es muss bei Sebastian Kurz wohl etwas sein, was andere nicht machen“, so beginnt der Trainer und Coach Thomas W. Albrecht sein Buch. Der Titel verrät die Erklärung: Es ist die „Rhetorik des Sebastian Kurz“. Albrecht verwendet ein einfaches Modell: Es besteht aus den Bausteinen, die man in einer Grundausbildung im Neuro-Linguistischen Programmieren (NLP) lernen kann.

Die Darstellung dieser Inhalte macht fast die Hälfte des Buches aus – der Kenner erfährt nichts Neues. Im restlichen Buch werden NLP-Ideen auf Sebastian Kurz, Pamela Rendi-Wagner, Herbert Kickl, Norbert Hofer und Beate Meinl-Reisinger angewandt – vor allem Reden werden im Wortlaut analysiert. Der Vergleich dieser Personen fällt in fast allen Fällen zugunsten von Kurz aus.

Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Zum einen beschreibt Albrecht im Detail Stärken der Inszenierungen von Kurz, wie seine Körpersprache, den Aufbau vieler Reden, die Art, wie Kurz sein Publikum adressiert, wie er dabei Werte und Gefühle anspricht und zielgerichtet und zukunftsorientiert agiert. Alle politischen Gegner von Kurz sind gut beraten, diese Aspekte ernst zu nehmen und ihre Mankos zu mildern.

Aber NLP darf nicht so verstanden werden wie in diesem Buch. Albrecht verbreitet ein Märchen, das NLP-Trainer gerne erzählen, die ihre Kurse verkaufen wollen: dass nämlich bestimmte einzelne Aspekte von Kommunikation (die man schulen kann) unmittelbare und eindeutige Wirkungen haben (müssen).

Aber Menschen sind keine reinen Reiz-Reaktion-Maschinen – jedenfalls nicht immer. In unterschiedlichen Kontexten erzielen z.B. gleiche Auslöser andere Ergebnisse. Für Kurz kann man fragen, in welchen (kontrollierten?) Umgebungen seine Inszenierungen gelingen und in welchen nicht – etwa wenn Kurz mit betagten Frauen im Altersheim nicht einmal ein Smalltalk gelingt.

Der zweite und wichtigste Schutz gegen unerwünschte Beeinflussung sind die eigenen Überzeugungen und das Wissen über politische Inhalte und Hintergründe (und der Einblick in kommunikative Vorgänge). Wer die Hass-Sprache von Donald Trump ablehnt, kann durch eine noch so perfekte Show nicht gewonnen werden – im Gegenteil: Die Ablehnung wächst.

Nach Albrechts Meinung ist Kurz deswegen so beliebt, weil er ein perfekter Kommunikator ist – politische Inhalte werden dabei zur Gänze ausgeklammert.

Aber Politik ist nicht nur Prozess und Form zwischen Personen, sondern drückt auch Inhalte, Wertungen und Weltbilder aus, die in die Machtstruktur einer Gesellschaft eingebettet sind und medial vermittelt werden.

Kurz hat viele Inhalte von der FPÖ übernommen, z.B. eine Rhetorik „des Volkes“. Er praktiziert ebenso „Techniken“ von Kommunikation, die auch eine destruktive Seite besitzen, wie die Dämonisierung von Gegnern. Praktiken dieser Art dienen nicht der Verbesserung, sondern der Zerstörung von Kommunikation – das hat im Wahlkampf 2016 der (frühere) Kommunikationstrainer Norbert Hofer, der jahrelang „Crash-Rhetorik“ und NLP unterrichtet hat, eindrucksvoll demonstriert.

Aber kommunikative Tricks und Show sind nicht alles, und politischer Erfolg kann nicht nur darauf zurückgeführt werden. Christian Kern hatte am 11. Jänner 2017 in der Messehalle Wels seinen „Plan A“ in einer fulminanten Rede präsentiert und das Publikum begeistert. Nach den Kriterien von Albrecht hätte man ihm die Höchstnote geben müssen. Aber wie lange hat Kern davon profitiert?

Walter Otto Ötsch in FALTER 38/2019 vom 20.09.2019 (S. 21)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, September 18, 2019 12:22:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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