von Robert Misik
Inhalt
Alte Parteien verschwinden, neue tauchen auf, die Leitplanken des Diskurses verschieben sich. So chaotisch die politische Situation sich darstellt, so unübersichtlich ist das Angebot an Deutungen für den Aufstieg des autoritären Nationalismus: Die einen erklären ihn mit Politikverdrossenheit und amorpher Wut, andere mit ökonomischen Faktoren wie Globalisierung und wachsender Ungleichheit, wieder andere führen ihn auf die vermeintliche kulturelle Abwertung von Menschen mit konventionellen Werten und Lebensstilen zurück.
Für sich genommen, so Robert Misik, ist jede dieser Erklärungen viel zu simpel gedacht. Ökonomische und psychopolitische Dynamiken schaukeln sich hoch. Die verborgenen Verwundungen in einer Klassengesellschaft brauchen multikausale Erklärungen – und radikale Antworten.
Verlag: |
Suhrkamp |
Format: |
Taschenbuch |
Genre: |
Politikwissenschaft/Politik, Wirtschaft |
Umfang: |
138 Seiten |
Erscheinungsdatum: |
11.11.2019 |
Preis: |
ca. 14,40 € |
Lieferbar:: |
ab 11.11.2019 |
Rezension aus FALTER 44/2019
Die sogenannten einfachen Leute
Warum die mediale Darstellung der Arbeiterschaft als ignorant, rassistisch und intolerant nicht nur falsch ist, sondern auch die falschen Parteien stärkt
In vielen europäischen Städten machen Menschen mit Migrationshintergrund rund 50 Prozent der Einwohnerschaft aus. Längst gibt es auch eine eingewanderte Mittelschicht, doch unter den verwundbarsten Arbeitnehmern und unter denen, die am Arbeitsmarkt keine Chance haben, sind Migranten häufiger vertreten, als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Der verletzbarste Teil der Arbeiterklasse, das sind Teile der alten weißen Arbeiterklasse und das neue, zugewanderte Proletariat.
Ihre Lage ist oft sogar frappierend ähnlich: Das beginnt mit der Chancenarmut, mit der sie bereits ins Schulleben starten. Es geht weiter mit den abwertenden Zuschreibungen und Projektionen, der Herablassung, mit der sie täglich konfrontiert sind. Setzt sich fort mit dem Hangeln von schlechtem Job zu schlechtem Job und dem – wenn überhaupt – verspäteten Eintritt in ein stabiles Beschäftigungsleben.
Betrachtet man die Dinge so, könnte man beinahe meinen, diese verschiedenen besonders verwundbaren Gruppen müssten sich zusammentun, ein instinktives Solidaritätsgefühl entwickeln. Und tatsächlich ist das ja auch manchmal der Fall: Spricht man mit Angehörigen der weißen Arbeiterklasse, die sich als Verlierer fühlen, kann man von ein und derselben Person hören, dass durch „die vielen Ausländer“ alles schlechter werde, dass „sie“ (die Eliten) all die Zuwanderer reinlassen, der türkische Kollege im Betrieb aber ein klasser Kerl sei, auf den sie nichts kommen lassen, und dass der syrische Ladenbesitzer im Nebenhaus bewundernswert fleißig sei oder der serbische Elektroinstallateur, der sich so um die Kinder kümmert und keinen Elternabend in der Schule versäumt, oder der mobile albanische Altenpfleger, der täglich die eigene Mutter besucht und wäscht.
Es ist, horcht man genau hin, ja keineswegs so, dass es kein Solidaritätsgefühl gibt. Selbst wenn man dieselben Lebenswelten bewohnt, existiert zwar eine Fremdheit, die selten vollends überwunden wird, aber durchaus auch wechselseitiger Respekt.
„Gute Leute“, das hört man von den Zuwanderern auf die Einheimischen gemünzt. „Gute Leute“, hört man genauso oft von den Einheimischen auf die Zuwanderer gemünzt.
Und dennoch wird gerne behauptet, Migration sei „das Thema“ schlechthin, es würde für Polarisierung sorgen, sei der entscheidende Faktor für die Entfremdung der „weißen Arbeiterklasse“, ihren Zorn und ihre Wut. Und das ist auch nicht völlig falsch.
Deswegen ist es wichtig zu verstehen, was da abgeht. Es ist ein seltsames Amalgam aus Vorurteilen, richtigen Urteilen, Empfindungen, aus Normen, Werten und Konflikten, aus Übersetzungen und Interpretationen von Verwundungserfahrungen.
Im Unterschied zu den migrantischen arbeitenden Klassen haben die weißen arbeitenden Klassen eine Abstiegserfahrung gemacht. Das kann ein ganz persönlicher Abstieg sein oder ein symbolisch empfundener – wenn die Aufstiegshoffnung, die frühere Generationen hegen durften, verschwindet, wird das als Verlust erlebt, der in gewisser Weise einem Abstieg gleichkommt. Menschen sind eher frustriert über das, was sie verloren haben, als über etwas, das sie nie besaßen.
Das Gefühl, an den Rand gedrängt worden zu sein, verbindet sich dann mit Erfahrungen, die Menschen in Gesellschaften mit Massenmigration machen. „Wir sollten im Zentrum stehen. Ich denke, andere Leute sollen die gleichen Möglichkeiten haben wie wir, aber wir sollten schon als Erste drankommen“, meint ein Gesprächspartner in East London gegenüber dem Sozialforscher Justin Gest. Die Minderheiten stellen jedoch denselben Anspruch, zumindest scheint es so, als wäre der als natürlich empfundene Anspruch der „Hiesigen“, als „Erste dranzukommen“, heute nicht mehr gewährleistet. Das lässt das Gefühl entstehen, „selbst Opfer von Diskriminierung“ zu sein. Die hiesigen „einfachen Leute“ haben das Gefühl, sie seien „eine neue Minderheit“.
„Bei uns sieht es aus wie in einem Vorort von Nairobi. Aber was können wir schon dagegen machen?“, sagt eine resignierte Gesprächspartnerin in East London. In der Wahrnehmung der Betroffenen werden der ökonomische Stress und die migrationsbedingten Veränderungen im Viertel dabei zu Symptomen ein und desselben Prozesses. Wenn diejenigen, die sich als Verlierer dieser Entwicklungen sehen, sagen „ich komme nicht mehr mit“, ist das oft ein Code für Immigration. Zugleich ist die Immigration aber in gewisser Hinsicht selbst nur ein Code für das ganze Set an Veränderungen, die mit diesem Abstieg verbunden werden.
Seit je hat die Arbeiterklasse einen eigenen Leistungsbegriff hochgehalten, nämlich dass man sich Respekt, Selbstrespekt und den Anspruch auf Einkommen durch Anpacken und die Bereitschaft verdient, die eigenen Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Durch Disziplin und Selbstdisziplin. Im „alten“ Klassenkampf war das ein schlagkräftiges Argument: Lohnsteigerungen setzte man nicht mit der Begründung durch, dass einen mehr Kohle fröhlicher macht, sondern man stellte sich auf die Position, dass einem ein fairer Anteil am Kuchen „zusteht“ – und zwar eben wegen der Anstrengung und der eigenen Lebensleistung. Dieses Leistungsprinzip der Arbeiterklasse führte im Übrigen dazu, dass Werte in der Realität oft in widersprüchlichen Schattierungen und mit vielen Graustufen auftraten: Einerseits gab es nicht nur das egalitäre Ideal, sondern regelrechte egalitäre Instinkte, andererseits das Bewusstsein für feine Unterschiede. Hierarchien fanden durchaus Akzeptanz.
Staatliche Gelder für Arbeitslose, chronisch Gescheiterte oder „die Armen“ waren in der Arbeiterklasse oft sogar weniger akzeptiert als in bürgerlichen Schichten. Für Angehörige der Arbeiterklasse waren die Armen Leute aus der eigenen Umgebung, die sich primär dadurch von ihnen unterschieden, dass sie sich weniger anstrengten oder es an Disziplin vermissen ließen. „Ich stehe ja auch um sechs Uhr morgens auf und mache einen Job, der eigentlich eine Qual ist – warum soll der andere eine Unterstützung bekommen, nur weil er sich diese Qual erspart?“ Gerade wer harte Arbeit leistet, will nicht, dass andere „auf meine Kosten leben“.
In Gesellschaften mit Massenmigration kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Nicht nur Leistung begründet Ansprüche an die Gemeinschaft, sondern auch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft selbst. Diese volle Zugehörigkeit wird bei Migranten oft – manchmal begründeter, manchmal unbegründeter – infrage gestellt. Hört man genau hin, stößt man auf ganz unterschiedliche Erscheinungsformen einer zerrissenen Solidarität. Für den Arbeitslosen aus der weißen Arbeiterklasse sind die Migranten, die das soziale Netz in Anspruch nehmen, Konkurrenten um Transferleistungen; für den, der zwölf Stunden am Tag malocht und seine Steuern und Sozialbeiträge zahlt, sind sie die Verursacher seiner Abgabenlast.
„Menschen aus der ‚weißen Arbeiterklasse‘ tendieren in Gesprächen dazu, als Vorwort gewissermaßen hinzuzufügen, dass sie keine Rassisten seien und keine Vorurteile hätten. (…) Sie haben Angst, dass ihre Ansichten disqualifiziert werden könnten, obwohl diese Ansichten in der Realität ja authentische Ausdrücke dessen sind, was sie erleben, wie sie leben und wie sich ihre Leben verändern“, resümiert Justin Gest.
Der Vorwurf des Rassismus wird als weiteres Mittel verstanden, die Artikulation der Arbeiterklasse zu kontrollieren und ihre Empfindungen als bedeutungslos hinzustellen. Einer sagt: „Ich arbeite seit 38 Jahren und sehe immer mehr Leute auf der Straße, bei denen ich das Gefühl habe, dass ich die mit durchziehe.“ Ein anderer: „Sie tun so, als gehöre ihnen die Straße.“
Ein ganzes Panorama psychopolitischer Dynamiken tut sich dann auf. Es geht bergab, und man fühlt sich auch noch unsichtbar gemacht. „Jeder tut so, als wäre man als Weißer eh gut gestellt.“ Alle anderen dürfen sich beklagen, aber man selber soll die Klappe halten.
Man sieht sich selbst als das „einfache Volk“, als „echt“, „authentisch“ und „normal“, aber die moderne Mittel- und die Oberschicht schaut nur mehr auf einen herunter. So kommt unter den „einfachen Leuten“ der Eindruck auf, Buntheit und Multikulturalität würden als „Diversity“ gefeiert, während sie selbst einen Statusverlust hinnehmen müssen.
„Die weiße Arbeiterklasse fühlt sich von den elitären weißen ‚Brüdern‘ verraten, die sie als Arbeiter ausbeuten, die sie während wirtschaftlicher Krisen hängenlassen und die sich nur für die sozialen Verwundungen von Minoritäten interessieren.“
Wenn progressive Sozialinitiativen Nachhilfe, Ausflüge oder Ferien für Kinder aus unterprivilegierten migrantischen Familien organisieren, fragen die Hiesigen sich: „Warum tun sie das nicht auch für uns?“ Und wenn sie in den Nachrichten junge Leute aus wohlhabenderen Milieus sehen, die an Bahnhöfen Hilfsaktionen für Flüchtlinge organisieren, betrachten sie das mit dem insgeheimen Wissen: „Für uns würden sie so etwas nie tun.“ Für diese Teile der alten einheimischen Arbeiterklasse stellt sich die Welt dann als eine Art Dreieck dar: Es gibt die einheimischen Eliten, die Migranten und die „einfachen Leute“. Und die ersten beiden stecken irgendwie zum Schaden Letzterer unter einer Decke.
Es gibt übersteigerten Nationalismus. Es gibt Rassismus. Es gibt die rechtsradikale Ideologie, dass Weiße mehr wert sind als Schwarze. Es gibt aber auch das Gefühl des Bedrängtseins, Leute, die finden, das Ausmaß der Zuwanderung und der Veränderung gehe zu weit.
Den Eindruck, von den Eliten verkauft worden zu sein. Ein Denken in Insider-Outsider-Kategorien, das sich mit den lange tradierten Werten der Arbeiterklasse verbindet, etwa dem lokalen Gemeinschaftsgeist, und oft zu scheinbar paradoxen Haltungen führt. So ergaben Studien unter Sympathisanten rechter Parteien in der deutschen Arbeiterschaft, dass sich „das Gesellschaftsbild der rechtsaffinen jungen Arbeiter kaum von demjenigen sozialdemokratisch orientierter Altersgenossen unterschied.
Man fühlte sich ungerecht behandelt und übte deshalb Kritik am ‚System‘. Im Grunde sehnte man sich jedoch nach einer Republik zurück, in der Arbeiter respektiert waren und Leistung gerecht vergütet wurde.“ Ein Rosenheimer Mechaniker sagt im Interview: „Man könnte mich in etwa so einschätzen, dass ich leicht rechts, leicht links orientiert bin.“ Keiner der Befragten hatte etwas gegen „die Ausländer“: „(E)inige der jungen Arbeiter waren mit migrantischen Altersgenossen befreundet. Doch es gab eine klare Scheidelinie.
Willkommen war nur, wer sich anpasste und etwas leistete.“ Ein Betriebsrat mit Sympathie für die radikale Rechte schätzt hart arbeitende Armutsmigranten, „Flüchtlinge“ stehen aus seiner Sicht viel weiter unten in der Hierarchie: „Flüchtlinge müssen (…) raus. Wer hier jetzt herkommt, arbeitet, sich integriert, wer sich einordnet, unterordnet, kein Thema. Da habe ich ja nichts dagegen. Aber die, die nur hierherkommen und die Hand aufhalten und sich benehmen wie das Letzte und denken, die können sich alles erlauben, raus.“
Joan C. Williams berichtet in ihrer Studie über die US-Arbeiterklasse von einem Mann, der seine Klasse durch Aufstieg verlassen hat, der die rassistischen Einstellungen seiner Familienmitglieder sehr wohl kennt, aber auch ihre egalitären Werte und der nicht glaubt, „dass seine Familienmitglieder schlechte Leute sind“.
Sie haben Ansichten, die er für intolerabel hält. Zugleich ist er sicher, dass sie das Herz am rechten Fleck haben. Seine Verwandten bräuchten keine Lektion über Rassismus, sondern ein Gespräch über Angst. „Leuten zu sagen, dass sie rassistisch, sexistisch und xenophob sind, bringt einen exakt nirgendwohin. Es ist eine zu einschüchternde Botschaft. Wenn wir etwas aus der Sozialpsychologie wissen, dann dass Menschen sich nicht ändern, wenn man sie angreift – sie können sich dann nicht ändern.“
Williams zieht daraus den Schluss: „Das Ziel sollte darin bestehen, einen Keil zwischen das Laster des ideologischen Rassismus und Leute zu treiben, die es einfach nur über haben, dass in ihren Augen die ‚politisch Korrekten‘ ihre Probleme ignorieren und alles Mitgefühl – oder jede Empathie – auf diverse andere Gruppen leiten.“
Diese Haltungen finden ihre Begründungen teilweise sogar in den Traditionen und Werten der historischen Arbeiterklassenkultur. Im Bewusstsein, „dass man nichts geschenkt bekommt im Leben“ oder dass, wer „dazugehört“, bevorzugt behandelt werden sollte. Sie wurzeln in den antielitären Affekten gegen „die da oben“, in den vorindustriellen Volkskulturen, im Lokalpatriotismus. Aber eben auch im Konservativismus der Arbeiterklassenkultur.
In der wirklichen Welt dominieren die Graustufen und die Übergänge. Menschen etwa, die es satthaben, dass die Reichen immer reicher werden, während in ihr eigenes Leben immer mehr Unsicherheit einzieht. Leute, die Rassismus ablehnen, aber dennoch finden, dass gegen afghanische Jugendgangs etwas getan werden sollte, und die sich darüber aufregen, dass, wie mir das einmal ein bayerischer Gewerkschafter sagte, „die Oberen, die nichts zum Gemeinwohl beitragen, uns zu allem Überdruss noch erklären wollen, wie wir zu reden haben!“
Wie bei dem oben zitierten Mechaniker aus Oberbayern geht im echten Leben oft alles durcheinander, finden sich „eher rechte“ Auffassungen und zugleich „eher linke“ – und meist keine davon in ihrer radikalen Reinform.
Die mediale Darstellung der „einfachen Leute“ als ignorant, rassistisch und intolerant erregt dann erst recht den Zorn dieser „einfachen Leute“, die als „zornig“ vorgeführt werden (es ist dann gewissermaßen ein Zorn zweiter Ordnung), weil sie sich nicht authentisch wiedergegeben fühlen, sondern auf ungerechte Weise abgewertet sehen.
Sie haben – nicht ganz zu Unrecht – den Eindruck, ihre durchaus durchdachten, auf realen Erfahrungen beruhenden, oft auch sehr abgestuften Urteile würden nicht einmal wahrgenommen, sondern sie würden als Realkarikaturen ihrer selbst vorgeführt wie früher am Jahrmarkt die Verwachsenen oder Menschen mit Wasserkopf.
Robert Misik in FALTER 44/2019 vom 01.11.2019 (S. 18)