Was hat Frau Merkel geschafft?
Alice Schwarzer war kurz in Wien, für einen Dreh zu einem Dokumentarfilm über sie von Sabine Derflinger. Zeit für eine Melange mit dem Falter und ein Gespräch über die deutsche Wahl, die scheidende Kanzlerin Angela Merkel, die von dieser verwaltete Flüchtlingskrise und die neuen totalitären Tendenzen an den Universitäten.
Falter: Frau Schwarzer, am 26. September wird in Deutschland gewählt. Muss man als Feministin bei Annalena Baerbock ankreuzen?
Alice Schwarzer: Nein, man muss gar nichts. Ich habe noch nie einen Menschen gewählt, weil der Mensch eine Frau ist. Wenn ich allerdings die Wahl hätte zwischen einem Mann und einer Frau, bei gleicher Qualität, würde ich die Frau wählen.
Sie sagen, die Grünen haben derzeit keine feministische Agenda?
Schwarzer: Die Grünen sagen gerne, sie hätten „den Feminismus in der DNA“, aber das genügt nicht. Wir haben in der aktuellen Emma die Parteiprogramme verglichen und den drei Kanzlerkandidaten 20 gleiche Fragen gestellt – Baerbock fällt da im Vergleich zu ihren Mitbewerbern leider nicht als hervorragend feministisch auf.
Immerhin musste der grüne
Co-Parteichef Robert Habeck auf die Spitzenkandidatur verzichten, weil er der Mann war.
Schwarzer: Tja … Diese Quoten sind, wie man an dem Beispiel sieht, grundsätzlich nicht unproblematisch. Ich sehe sie mittlerweile kritisch. Die bessere Lösung wäre vermutlich, gezielt benachteiligte Gruppen, allen voran die Frauen, strukturell zu fördern. Habeck hat ja nie gesagt, er habe verzichtet, weil Baerbock die bessere Wahl sei, sondern weil sie eine Frau sei. Eine vergiftete pseudofeministische Geste. Das wendet sich jetzt gegen sie, indem man nun sagt: Er wäre eigentlich der bessere Kandidat gewesen, aber weil sie eine Frau sei … Und auch Habeck selbst lässt das mehr als durchblicken.
Kommen wir zu den grünen Inhalten.
Schwarzer: Natürlich ist Baerbock für Ganztagskrippen und -schulen und für gleichen Lohn. Bei den heiklen Fragen aber, und da denke ich etwa an die Sexualpolitik, sind die Grünen aus meiner Sicht hochproblematisch. Zum Beispiel die Prostitution. Für sie ist das „Sexarbeit“ – ein Beruf wie jeder andere. Ich weiß nicht, was sich die privilegierten Frauen in Berlin-Mitte dabei denken. Ist denen wirklich nicht klar, dass 95 Prozent der Frauen in der Prostitution aus den ärmsten Ländern der Welt kommen, aus Osteuropa, Afrika? Diese Ausbeutung! Prostituierte sind heute, durchaus im Sinne von Fanon, die „Verdammten dieser Erde“, die Ärmsten der Armen. Darüber hinaus ist Prostitution ein Kernthema im Verhältnis der Geschlechter. Eine Gesellschaft, in der man Frauen kaufen kann, kann niemals emanzipiert sein. Die Akzeptanz von Prostitution macht alle Frauen zum käuflichen Geschlecht und vergiftet die Fantasie der Männer, auch derjenigen, die der Versuchung widerstehen, Freier zu sein. Der Freier kauft ja nicht Sex, er kauft Macht.
Wäre es bei der SPD anders? Deren Spitzenkandidat Olaf Scholz wirbt mit dem Spruch „Ich kann Kanzlerin“.
Schwarzer: In allen sexualpolitischen Fragen plappert die SPD den Grünen nach. Sie hält das vermutlich für modern. Leider. Obwohl Scholz klug ist, und ich glaube wirklich Feminist. Zumindest sagt er das schon lange. Aber letztendlich bleibt auch er bei den Fragen, die mich vorrangig interessieren, vage. Zum Beispiel bei der Debatte um den Gender-Pay-Gap. Ja verdammt noch einmal, Deutschland ist seit vielen Jahrzehnten das Schlusslicht in Europa, wir liegen sogar hinter Rumänien. Warum? Weil wir das Land der „Rabenmütter“ sind. Es gilt immer noch: Eine gute Mutter bleibt zuhause bzw. macht heutzutage Teilzeit. Weil es auch im Jahr 2021 immer noch nicht ausreichend Krippen, Kindergärten und Ganztagsschulen gibt. Es ist ein strukturelles Problem – und das muss behoben werden. Aber das haben lange auch die Konservativen, hat die CDU/CSU verhindert.
Die Ära Merkel geht zu Ende. Was hat sie denn für die Frauen getan?
Schwarzer: Angela Merkel hat gezeigt, dass eine Frau es kann – ohne sich bei den Männern anzubiedern. Es gibt ein Davor und ein Danach.
Das hat Margaret Thatcher auch schon.
Schwarzer: Nein, Thatcher hat die Domina gemimt. Und sie hat eine menschenfeindliche Politik gemacht, nur im Interesse des Geldes. Das hat Merkel nicht, auch wenn es zunächst, 2005, so aussah. Ihr CDU-Kontrahent Merz hat einmal gesagt: „Merkel ist der beste sozialdemokratische Kanzler, den Deutschland je hatte.“ Er hat das ironisch und beleidigend gemeint, aber ich finde, es ist ein Kompliment. Merkel ist über 16 Jahre durch die unterschiedlichsten Krisen gegangen. Sie hat versucht, sachorientiert und mit Anstand zu regieren. Sie hat weder das Weibchen gespielt noch den Kerl gemimt. Das bringt ja auch nichts. Wenn die Jungs Wettpissen machen, sind wir eh draußen. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen. Praktisch, bequem; die flachen Schuhe, die Hosen, die Jacketts. Aber es stimmt: Sie hätte offensiver sein können als Frau.
Oder als Frauenpolitikerin …
Schwarzer: Das meine ich. Doch immerhin hat sie 2005 sofort eine andere Familienpolitik möglich gemacht. Die damalige Familienministerin und heutige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen konnte mit Merkels Unterstützung eine sehr moderne Frauen- und Familienpolitik umsetzen. Merkel hat auch einen neuen Stil eingeführt in Berlin: sachorientiert, bescheiden, respektvoll. Frauen durften ja unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer den Mund gar nicht erst aufmachen.
Merkel hat vor sechs Jahren diesen einen Satz gesagt: „Wir schaffen das.“ Haben wir es geschafft?
Schwarzer: Da müssen wir präzisieren, was geschafft werden sollte. In einem hat Merkel auf jeden Fall dramatisch versagt: bei der Unterscheidung zwischen Islam, dem Glauben, und Islamismus, der Ideologie. Ich habe im Frühsommer zusammen mit dem Wissenschaftszentrum Berlin eine Allensbach-Umfrage initiiert, die zwischen Islam und Islamismus unterschieden hat. Und da ist herausgekommen, dass der Prozentsatz der echten Rassisten, die etwas gegen den Islam als Religion oder Muslime an sich haben, ziemlich gering ist, also eine einstellige Prozentzahl. Aber eine gewaltige Mehrheit verspürt ein enormes Unbehagen in Bezug auf die islamistische Agitation. Seit den 90ern versucht ja der politische Islam, auch im Westen seine Werte zu infiltrieren. Das geht von der Akzeptanz der Scharia im Familienrecht über die Trennung der Geschlechter in der Schule bis zur Forderung des Kopftuchs für Lehrerinnen, ja sogar zur Akzeptanz der Burka im öffentlichen Raum. In unserer repräsentativen Allensbach-Studie sind 61 Prozent der Menschen für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen und 90 Prozent für ein generelles Burkaverbot! Und die Politik? Dass es überhaupt noch Frauen im Westen gibt, die die Burka „freiwillig“ tragen, statt sie sich spätestens angesichts des Dramas in Afghanistan solidarisch vom Leib zu reißen, ist für mich schwer nachvollziehbar.
Die damalige türkis-blaue Regierung hat in Österreich die Burka verboten – das war vor allem auch eine populistische Geste.
Schwarzer: Populistisch? Es ist schlimm genug für die Linke, dass sie sich über diese Gefahr keine Gedanken zu machen scheint. Damit lassen wir auch die Millionen aufgeklärter Musliminnen und Muslime auf der Welt im Stich, die die ersten Opfer dieser Fanatiker sind. Die christlichen Fundamentalisten sind nicht besser, die haben zu 80 Prozent Trump gewählt. Außerdem ist es ein Wahnsinnsproblem, dass da jetzt mit einem Schlag hunderttausende junge Männer aus Ländern hergekommen sind, in denen Frauenrechte schon qua Gesetz nicht existieren; in denen Gewalt gegen Frauen und Kinder die Norm ist. Verschärfend hinzu kommt: Diese Männer sind oftmals durch Bürgerkriege brutalisiert und traumatisiert. Als Opfer oder Täter – oder beides.
Sie haben das Buch „Der Schock – die Silvesternacht in Köln“ herausgegeben. Hat sich Ihr Schock im Nachhinein etwas relativiert?
Schwarzer: Im Gegenteil. Ich kann das im Mai 2016 erschienene Buch heute, fünf Jahre später, veröffentlichen, ohne auch nur ein Komma zu ändern. Alle Fakten und Analysen stimmen. Was ist denn in der Kölner Silvesternacht passiert? Über 600 Frauen haben nach der Nacht Anzeige wegen sexueller Gewalt erstattet. 95 Prozent waren jüngere Männer aus islamischen Ländern, vor allem aus Marokko und Algerien, das ich gut kenne. Ich habe ja 2018 ein ganzes Buch über „Meine algerische Familie“ geschrieben. Das Motiv dieser Männer war Frauenhass; sie wollten die Frauen aus dem öffentlichen Raum verjagen, so wie sie das auch in Kairo auf dem Tahrir-Platz getan haben. Das sind junge Männer, die zuhause in ihren Ländern keine Chance haben. Sie kommen überwiegend – legitimerweise, was das Motiv angeht – aus wirtschaftlichen Gründen. Sie erhoffen sich ein besseres Leben. Sie sind gewohnt, dass Frauen in ihren Ländern Untermenschen sind. Jetzt kommen sie zu uns, es geht ihnen schlecht, und sie sollen nun auch noch die Frauen als gleichberechtigt akzeptieren. Zusätzlich werden sie in den Moscheen von Islamisten verhetzt. Die predigen, dass das Huren sind, die da abends auf die Straße gehen. Und da soll es Rassismus sein, wenn man das benennt? Das Gegenteil ist rassistisch: wenn man es nicht sagt! Wenn man diesen jungen Männern einen gönnerhaften Freibrief gibt, Stil „Die sind so. Bei denen ist das nun mal so!“. Damit gibt man ihnen ja auch nicht die Chance, sich zu ändern, das Unrecht zu begreifen und dazuzulernen. Wie der Koautor von „Schock“, der Algerier Kamel Daoud, der von den Islamisten mit dem Tode bedroht wird, so treffend gesagt hat: Die vielen tausend Kilometer, die diese jungen Männer nach Europa mit ihren Füßen gegangen sind, müssen sie nun auch noch im Kopf gehen, um wirklich bei uns anzukommen.
Jetzt würden viele Ihrer Kritiker einwenden, dass wir uns zu stark auf die Flüchtlinge konzentrieren. Auf dem Oktoberfest gehe es auch nicht anders zu.
Schwarzer: Ja, ich kenne dieses gerade in unserem Fall ziemlich komische Argument. Wer, wenn nicht die Emma, schreibt seit über 40 Jahren über die Männergewalt?! Die hat leider keine Hautfarbe, keine Klasse und keinen Glauben – Männergewalt gegen Frauen und Kinder ist universell. Nur bei uns sehen wir das hierzulande nach 50 Jahren Feminismus immerhin kritisch – und schließen gewalttätigen Männern die Türen, bevor sie loslegen. Aber in diesen enthemmt patriarchalen Kulturen wird die Gewalt gegen Frauen auch noch stolz öffentlich demonstriert.
Sie verwenden keinen Genderstern in Ihrem Buch. Warum?
Schwarzer: Ich bin Journalistin, ich arbeite mit Sprache. Sprache ist mein Stoff. Sicher, Sprache spiegelt und beeinflusst die Machtverhältnisse. Aber ich finde, mit Sternchen und Unterstrichen verhunzt man die Sprache. Wir bei Emma benutzen das Binnen-I. Auch eine Krücke.
Selbst bei uns in der Redaktion würden jetzt einige einwenden, dadurch werden die Geschlechter und die Diversität in einer Gesellschaft nicht sichtbar gemacht.
Schwarzer: Wollen wir mal auf dem Teppich bleiben. „Geschlechter nicht sichtbar gemacht“ – also es gibt in dieser Welt vor allem biologische Männer und Frauen und eine verschwindende biologische Minderheit dazwischen. Und dann kommt noch eine Minderheit dazu, früher 0,002 Prozent der Bevölkerung, die einen ernsthaften seelischen Konflikt haben. Sie fühlen sich „im falschen Geschlecht“. Das kann bis zu Selbstverstümmelungen führen. Ich war schon in den 80er-Jahren dafür, dass diese Transsexuellen ihren Personenstand wechseln können. 1991 haben laut einer sexualwissenschaftlichen Studie 1100 Transsexuelle in Deutschland gelebt. Heute beträgt die Zahl der Menschen, vor allem der Mädchen, die sich für transsexuell halten, das Hundertfache. Jede sehr verständliche Geschlechtsrollenirritation – Mädchen, die Fußball spielen oder sich in ihre Freundin verlieben – wird schon als Transsexualität interpretiert. Mit der Folge von lebenslangen Hormongaben und schweren körperlichen Eingriffen. Grüne und SPD plädieren in ihren Parteiprogrammen dafür, dass man schon ab 14 das Geschlecht wechseln kann, ohne die eigenen Eltern auch nur zu informieren. Das ist unverantwortlich. Wir Feministinnen sind mit dem Anspruch angetreten, die Geschlechterrollen (Gender) abzuschaffen, für die die Biologie (Sex) nur der Vorwand ist. Sicher, von diesem Ziel sind wir leider auch im Westen noch weit entfernt, und in Ländern wie Afghanistan Lichtjahre. Aber in unserem Kulturkreis haben wir immerhin inzwischen die Freiheit, es zu versuchen. Was ich begrüße. In meinen Texten können Sie seit 1971 tausendmal den Satz lesen: „Mein Ziel ist, dass Männer und Frauen Menschen werden“, also dass die Geschlechterrollen abgeschafft werden, das biologische Geschlecht Menschen nicht länger definiert. Dass Frauen sich zugestehen können, sogenannte männliche Eigenschaften zu haben, und Männer, dass sie sogenannte weibliche haben.
Das heißt, die Kategorie bleibt Frau und nicht FLINT*?
Schwarzer: Ich weiß, so ist von politisch Korrekten in Österreich eine 14-Jährige bezeichnet worden, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden ist. Diese Szenesprache nimmt ja schon zynische Züge an. Wir haben früher, in den 70ern und 80ern, repressive Sprache und Herrschaftssprache kritisch analysiert. Das ist Herrschaftssprache. Verschleiernd und unverständlich. Kein Mensch auf der Straße versteht das.
Das heißt, die Linke hat mit dieser Szenesprache ihr eigenes Kirchenlatein geschaffen und mit dem Begriff des „strukturellen Rassismus“ die Erbsünde wiederentdeckt?
Schwarzer: Sie sagen es treffender, als ich es sagen könnte.
Und gepredigt wird mit dem Rücken zum Volk?
Schwarzer: Genau so ist es. Und das Schlimme ist, dass dieser ganze Quatsch jetzt dem guten alten Feminismus auf die Füße fällt. Die sprechen im Namen des Feminismus, was ich unerhört finde. Und die Menschen glauben, dass die Feministinnen alle verrückt geworden sind.
Beim letzten Wien-Besuch wollten Aktivistinnen Ihren Auftritt an der Angewandten verhindern, weil Sie sich, so die ÖH, „sexarbeitsfeindlich, transphob und antimuslimisch“ geäußert hätten. Hat Sie das überrascht?
Schwarzer: Diese Leute, die hinten rumgegrölt haben, sind wenige Minuten später zwei Etagen höher gegangen zu einem Auftritt von Kübra Gümüşay, der elegantesten Vertreterin eines sehr orthodoxen Islam in Deutschland. Tief verschleiert, man sieht nichts, kein sündiges Haar, keinen sündigen Körper, nur ihren Laptop und ihre pastellfarbenen Tücher. Anfang der 70er erkannte man die geschulten Marxisten, Maoisten und Trotzkisten nicht nur an der Sprache, sondern auch an ihrem völlig unberührbaren Auftritt. Die sagten immer das Gleiche und waren nicht zu erschüttern. Heutzutage stelle ich bei manchen meiner Kritiker und Kritikerinnen dasselbe fest.
Die bekannte französische Journalistin und Feministin Caroline Fourest hat die Art und Weise, wie Leute auf den Unis ausgeladen werden oder nicht auftreten dürfen, mit den Terrorprozessen der 30er-Jahre in Moskau verglichen. Das ist ein ziemlich harter Vorwurf. Würden Sie so weit gehen?
Schwarzer: Caroline ist nicht zufällig eine Freundin. Ich unterstreiche jedes Wort ihres letzten Buches „Generation beleidigt“. Wir haben es ja auch in Emma vorabgedruckt. Ich bin in Paris Mitglied eines sogenannten Salons, wo Intellektuelle kontroverse Fragen diskutieren. Eines der Themen ist der politische Islam. Etliche Professorinnen und Professoren von der Sorbonne haben Finsteres zu berichten: Tabus, Sprachverbote, Hetzkampagnen. Also das erreicht fast das Niveau von Houellebecqs „Unterwerfung“.
Erleben wir eine Rückkehr einer sehr totalitär oder eindimensional agierenden Linken – unter dem Deckmantel der Diversität?
Schwarzer: Ja, die Reste der autoritären und totalitären Linken sammeln sich in diesem Becken. Hinzu kommen jetzt die neuen Identitären und die selbsterklärten Antirassisten. Von diesen Kreisen wird ja auch der politische Islamismus geleugnet, ja propagiert.
Aber was ist dagegen einzuwenden, wenn eine junge, selbstbewusste Frau sagt: Ich habe eine gute Ausbildung, ich möchte das Kopftuch tragen, das sind meine Kinder, der Mann wäscht auch ab …
Schwarzer: … und dann kommt schon wieder die Alice Schwarzer und sagt: Das darfst du nicht anziehen! Hahaha! Worum aber geht es wirklich? Nicht um die einzelnen Individuen, sondern um ein politisches Symbol. In den 60er-Jahren gab es schon eine Million Türken in Deutschland. Sie waren konservativ, kamen vom Land. Doch weder haben wir da ein Kopftuch gesehen – höchstens bei einer Bäuerin, wie in Kärnten oder in Bayern –, noch war vom Islam die Rede. Ich glaube, wenn bei Ford der Dieter den Willi gefragt hätte: Du, hör mal, der Mohammed, was hat der eigentlich für eine Religion? – Dann hätte der gesagt: Du, ich weiß nicht, ich frag den mal. Also: Es gab kein Kopftuch, kein öffentliches Beten oder Fasten. Religion war Privatsache! Dann kam – mit Khomeini – Anfang der 80er das weltweite Erstarken des politischen Islam. Und ab Mitte der 90er hatten die Islamisten, die im Gegensatz zu uns anderen sehr gut organisiert sind mit Milliarden Petrodollars, einen Unterwanderungsplan. Seither sehen wir auch verstärkt Kopftücher, für die Islamisten den Eltern so manches Mal sogar Geld geben. Doch lassen Sie mich zwei Ebenen unterscheiden: die subjektive und die objektive. Die Frauen, die in unseren Gesellschaften Kopftuch tragen, tun das, sagen sie, „freiwillig“. Doch es gibt auch den Druck von Familien, von der Community. Diesen Frauen aber will ich keineswegs das Kopftuchtragen verbieten. Das werden Sie bei mir noch nirgendwo gelesen oder gehört haben. Ich will aufklären, über die politische Bedeutung des Kopftuchs im 21. Jahrhundert.
Die da wäre?
Schwarzer: Der politische Islam hat von der ersten Stunde an das Kopftuch zur zentralen Frage gemacht, zu seiner Flagge. Ein paar Wochen nach der Machtergreifung 1979 hat Khomeini die Frauen nachhause geschickt: runter von der Straße, raus aus den Universitäten, den Büros, zieht euch erst einmal anständig an! Denn: Die Haare und der Körper einer Frau sind Sünde, und sie muss das bedecken, um die Männer nicht zu reizen. Es wird Sie jetzt nicht so wahnsinnig überraschen, dass eine Feministin das befremdlich finden und kritisieren muss. Ich rede also über die politische Bedeutung des Kopftuchs und werte nicht das einzelne Individuum, dessen Motive sind vielfältig.
Frau Baerbock entschuldigte sich, dass sie das N-Wort ausgesprochen hatte, und zwar in antirassistischer Motivation.
Schwarzer: Es ist zwar komisch, dass sie sich für ein kritisches Zitat entschuldigen soll, aber es ist absolut richtig, dass man das nicht mehr sagt! Das war immer schon diskriminierend gemeint und ist es weiterhin. Ich finde es erleichternd, dass wir jetzt auch in Bezug auf den Rassismus eine Sensibilität in der Sprache haben.
Die Influencerin DariaDaria hat in einem Schwimmbad zu einem Mädchen- und Frauenbadetag eingeladen. Hätten Sie sich das auch gewünscht?
Schwarzer: Es ist dann wünschenswert, wenn ich beide Möglichkeiten habe: das gemischte Bad und das Frauenbad. Ich verstehe das Bedürfnis vor allem junger Frauen, die da im Visier sind, ihre Ruhe zu haben. Aber perspektivisch träume ich nicht von zwei oder mehreren getrennten Welten für die Geschlechter oder Hautfarben oder Kulturen etc. Denn als Universalistin interessieren mich die Gemeinsamkeiten von Menschen viel mehr als ihre Unterschiede – ohne diese zu leugnen. Ich träume von einer Welt für Menschen.
Eva Konzett in Falter 36/2021 vom 10.09.2021 (S. 22)