AZ-Neu

Die Informationsplattform für ArbeiterInnen, Angestellte, KMUs, EPUs und PensionistInnen

Wien wird Bundesland 

Die Wiener Stadtverfassung 1920 und die Trennung von Niederösterreich

Der umfangreiche Sammelband beleuchtet zahlreiche rechts- und kulturhistorische Aspekte der Herauslösung Wiens aus Niederösterreich sowie die Umsetzung und die weitreichenden Konsequenzen dieses Trennungsprozesses.

Shop

Herausgegeben von: Bernhard Hachleitner
Herausgegeben von: Christian Mertens
Verlag: Residenz
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 200 Seiten
Erscheinungsdatum: 09.11.2020
Preis: € 29,00


Kurzbeschreibung des Verlags:

In der 1918 entstandenen Republik (Deutsch-) Österreich lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Bundesland Niederösterreich, zu dem Wien damals noch gehörte. Dieses Übergewicht und die veränderten politischen Verhältnisse nach den Wahlen 1919 verliehen den Tendenzen einer Verselbständigung Wiens zusätzliche Dynamik. Die Bundesverfassung schuf 1920 den rechtlichen Rahmen dafür, gleichzeitig gab sich Wien eine moderne Stadtverfassung. Nach der Klärung organisatorischer und vermögensrechtlicher Fragen wurde die vollständige Trennung von Wien und Niederösterreich(-Land) mit Jahreswechsel 1921/1922 vollzogen. „Wien wird Bundesland“ umfasst verfassungs- und kulturhistorische Aspekte dieses Trennungsprozesses, dessen Nachwirkungen bis in unsere jüngste Vergangenheit reichen.

Posted by Wilfried Allé Tuesday, March 2, 2021 9:20:00 PM Categories: 20. Jahrhundert (bis 1945) Geschichte Sachbücher
Rate this Content 0 Votes

Tiere im Nationalsozialismus 

von Jan Mohnhaupt

Sprache: Deutsch
Verlag: Hanser, Carl
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 09.03.2020
Preis: € 22,70


Rezension aus FALTER 11/2020

Menschenrechte und „Herrentiere“

Nationalsozialismus: Jan Mohnhaupt über das Verhältnis zu Tieren in der NS-Ideologie

Auch heute noch wird von Tierfreunden gerne – wenn auch hinter vorgehaltener Hand – darauf hingewiesen, dass während des Naziregimes wesentliche Verbesserungen zum Tierwohl eingeführt worden seien. Hitler hatte im ersten Jahr seiner Herrschaft ein neues Tierschutzgesetz erlassen, das damals als fortschrittlich galt und in der Bundesrepublik Deutschland bis 1972 unverändert in Kraft war. Tiere sollten damit „um ihrer selbst willen geschützt werden“, ein Anspruch, den die Nazis aber vielen Menschen nicht zugestanden. Hermann Göring hatte bereits als preußischer Ministerpräsident gegen jede Form von Tierversuchen Position bezogen und den „Vivisektionisten“ mit dem Konzentrationslager gedroht. Dies war zugleich auch eine der ersten Erwähnungen dieser Vernichtungseinrichtungen des Dritten Reichs.

Der Journalist Jan Mohnhaupt zeigt in seinem neuen Buch eine bisher von der Forschung nur mit Zurückhaltung beachtete Seite der NS-Zeit auf, in der ausgesuchte Tiere zu „Herrentieren“ erhoben wurden und gleichzeitig manche Menschen weniger Rechte als Tiere besaßen.

Für Nationalsozialisten stellten Tierschutz und Verbrechen gegen die Menschlichkeit offenbar keinen Widerspruch dar. Heinrich Himmler, Reichsführer SS, formulierte dies in einer seiner Reden so: „Ob beim Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muss: Das ist klar. Wir Deutsche, die als Einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen.“

Wie eng der Tierschutz mit den Grundüberzeugungen der NS-Ideologie verknüpft war und wie sehr es dem Regime half, damit auch im Alltag Terror auszuüben, das erzählt Mohnhaupt im Stil einer Reportage, die stets durch umfangreiche Quellenangaben belegt wird. Das Buch macht sichtbar, wie der auf den ersten Blick paradoxe Tierschutzgedanke dazu beitrug, die Gesellschaft auf völkisch-rassistischer Grundlage neu zu gestalten. Ein zentraler Bestandteil der braunen Gedankenwelt war es vor allem, den „Nutzen“ jedes Lebewesens für die Gesellschaft einzuschätzen und dann darüber zu urteilen, ob Tier oder Mensch ein Recht auf Leben habe oder als „Schädling“ systematisch zu vernichten sei.

Die Basis dafür bildeten krude Ableitungen aus Darwins Evolutionstheorie, die die rassische Zuchtwahl bei Tieren auf Menschen ausweiten sollten. Eine führende Rolle dabei spielte der Arzt und „Rassenhygieniker“ Alfred Ploetz. Auch die SS ging bei der Auswahl ihrer Rekruten wie ein „Saatzüchter“ vor und siebte die Menschen danach aus, ob sie „gebogene Nasen, markante Wangenknochen oder dunkle Haare“ hatten.

Rhetorische Techniken, die in der heutigen politischen Diskussion als „Framing“ Beachtung finden, wurden von den Nazis geschickt eingesetzt, indem etwa Juden im Kontext der Hygiene und von Infektionskrankheiten genannt wurden. Hitler bezeichnete sie in „Mein Kampf“ als „Bazillen, die sich immer weiter ausbreiten“, und Himmler stilisierte sie zu Parasiten: „Mit dem Antisemitismus ist es wie mit der Entlausung. Es ist keine Weltanschauungsfrage, dass man Läuse entfernt. Das ist eine Reinlichkeitsangelegenheit.“

Vielleicht auch deswegen überdachte der Pädagoge Janusz Korczak die Beziehung zu diesen Tieren neu. Er schrieb in seinem „Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto“: „Gestern habe ich eine Laus gefangen und sie ohne Skrupel mit einer einzigen schnellen Bewegung der Fingernägel zerquetscht. Wenn ich dazu komme, schreibe ich eine Apologie der Laus, denn unser Verhältnis zu diesem schönen Insekt ist ungerecht und unwürdig. Wer wird den Mut haben und vortreten, um sie zu verteidigen?“

Diese Entmenschung wird auch Kindern kommuniziert. Ernst Hiemer, Chefredakteur der Wochenzeitung Der Stürmer, wies in seinem Kinderbuch „Pudelmopsdackelpinscher“ Tieren „jüdische Eigenschaften“ zu. Neben schmutzigen Mischlingshunden kamen unnütze Drohnen, Heuschrecken und Wanzen vor. Auch die jungen „Pimpfe“ sollten von früh an mit der entmenschlichenden Ideologie der Nazis in Berührung kommen.

Im Unterschied zu reinrassigen, sich unterordnenden Hunden galten Katzen als eine „fremde, unberechenbare Rasse aus dem Orient“. Der Katzenjäger und Journalist Willi Vesper erklärte seinem Sohn, dass man Katzen „keinen menschlichen Charakter anerziehen könne und sie als reine Stadttiere tückisch, falsch, asozial, also die Juden unter den Tieren“ seien. Dies stieß auch auf Resonanz bei den Vogelschützern. Während den Singvögeln „bürgerliche“ Eigenschaften wie Monogamie, Fürsorge und Hausmusik nachgesagt wurden, standen Katzen für alles Zügellose und Lasterhafte. Für viele war daher die Katze niemals ein echtes deutsches Haustier, sondern ein aus dem Osten eingewanderter Feind. Jäger bekamen 1934 daher das (bis heute bestehende) Recht, jede Katze zu erschießen, die sich weiter als 200 Meter vom nächsten bewohnten Haus aufhielt.

Dem Thema der Jagd widmet das Buch einen ausführlichen Teil, denn die Ansichten der Jägerschaft passten bestens in das Konzept von „Blut und Boden“. Die sogenannte Hege mit der Büchse entsprach dem Selektionsprinzip der „Rassenhygiene“. Hermann Göring erkannte die Möglichkeit, eine weitere Bevölkerungsgruppe ideologisch auf die NS-Ideologie einzuschwören. In seiner Funktion als Reichsjägermeister konstruierte er ein „Deutsches Jagdliches Brauchtum“ und neue Begriffe wie die „deutsche Waidgerechtigkeit“, die bestimmte Gruppen wie die Bauernschaft vom Zugang zum Wildbret fernhalten sollte.

Viele angeblich traditionelle Bräuche wurden erfunden und als altdeutsche Tugenden ausgegeben. Und einige NS-Rituale leben bis heute in der Jägerschaft weiter. Etwa dass dem erlegten männlichen Hirsch ein „letzter Bissen“ in den Äser, das Maul, gelegt wird. Meist handelt es sich dabei um einen nadeligen Fichtenzweig, ein Futter, das der Hirsch zu Lebzeiten nie gefressen hätte. Im Vergleich zu Göring, der die Trophäenjagd liebte, erscheint Hitler – so schwer es auch fällt, das zu sagen – mit seiner Abneigung gegen „den letzten Überrest einer abgestorbenen, feudalen Welt“ fast ein wenig sympathisch. Von ihm ist das Zitat überliefert, dass „das Anständigste bei der Jagd das Wild“ sei. Auch hegte er für Wilddiebe eine vermutlich romantisch verklärte Sympathie, weil diese seiner Meinung nach bei der Jagd noch ihr Leben riskieren würden.

Das Buch überzeugt mit seiner geschickten Verflechtung von angenehm lesbaren Geschichten mit gut recherchierten historischen Fakten. Jedes Kapitel befasst sich mit einer bestimmen Tiergruppe, wie zum Beispiel Hunden, Schweinen oder Pferden, der in der Nazizeit besondere Bedeutung zukam. Man begleitet dabei eine konkrete Person wie den Literaturwissenschaftler Victor Klemperer durch diese Terrorjahre und erfährt etwa am Schicksal seines Katers Mucius, wie scheinbar nur dem Naturschutz dienenden Gesetze als Repressionsmittel gegen die jüdische Bevölkerung eingesetzt wurden.

Egal, ob Seidenraupen zu kriegswichtigen Lebewesen gemacht wurden oder Hundezucht als Vorbild für die Rassengesetzgebung diente, das Buch zeigt eine weitere, bisher vernachlässigte Facette davon auf, wie sehr die NS-Ideologie alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang.

Peter Iwaniewicz in FALTER 11/2020 vom 13.03.2020 (S. 40)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 11, 2020 3:59:00 PM Categories: 20. Jahrhundert (bis 1945) Geschichte Sachbücher
Rate this Content 0 Votes

Unser Land 

Wie wir Heimat herstellen

von Christoph Bartmann, Matthias Dusini, Lisa Eckhart, Rainer Gross, Sibylle Hamann, Sebastian Hofer, Klaus Nüchtern, Renata Schmidt-Kunz, Armin Thurnher, Thomas Walach: Klaus Nüchtern (Hg.), Thomas Walach (Hg.)

 

EAN: 9783854396673
Verlag: Falter Verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Reihe: Fachbücher
Erscheinungsdatum: 24.02.2020
Preis (Papier): € 19,90
Preis (ePUB): € 14,99

 

Man werde „sich wundern, was alles gehen wird“, fasste der damalige Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer im Herbst 2016 sein Amtsverständnis zusammen. Obwohl er dann doch nicht zum Bundespräsidenten gewählt wurde, sollte er recht behalten. Nach der Nationalratswahl 2017 verfügt Österreich über eine deutliche Parlamentsmehrheit, die von rechts der Mitte bis ins rechtsextreme Lager reicht. Die Politik der Koalitionsparteien nutzt rassistische und chauvinistische Ressentiments. Das Regierungsprogramm zielt gegen sozialstaatliche und sozialpartnerschaftliche Institutionen. Es bestärkt die anti-europäischen Reflexe und heizt die nationalistischen Divergenzen in Südtirol und auf dem Balkan an. Von Anfang an wurde gegen kritische Redaktionen und gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehetzt. All das geschieht unter dem Vorwand, „unser Land“ gegen seine vorgeblichen äußeren wie inneren Feinde in Schutz zu nehmen.

Dieses Land ist aber nicht nur das Land der Illiberalen, Nationalkonservativen und Rechtspopulisten. Es ist auch die Heimat von Menschen, die das Abdriften des öffentlichen Diskurses in die Wort- und Themenwahl der extremen Rechten nicht länger hinzunehmen bereit sind. Heimat, das ist kein Begriff nationalistischer Propaganda, weil die Sache Heimat an sich kein Exklusivrecht der populistischen Rechten ist. Heimat, das kann auch sein: ein freies Land im Rahmen eines friedlich vereinten Europa, das den Rechtsgütern der Gleichheit, des Pluralismus und der Solidarität und den Werten der Aufklärung verpflichtet ist, und dessen Bewohnerinnen und Bewohner unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Religion die Teilhabe am Gemeinwesen und am kreativen und kulturellen Reichtum des Landes ermöglicht werden soll.

Die Menschen in diesem Land haben ein Recht darauf, dass diese vor Generationen errichteten Grundsätze weiter unser Gemeinwesen tragen, und es ist ohne Zweifel „res publica“, also eine Sache der Allgemeinheit, über dieses Fundament zu wachen. Wir sehen es als unsere Aufgabe, stellvertretend Position zu beziehen für eine Heimat, die mehr ist, als die propagandistischen Versatzstücke nationalistischer Rhetorik: Unser Land, das andere, das offene und freie Österreich.

Wir verzichten bei diesem Buch im Sinne der Umwelt auf die Verpackung mit Plastikfolie.

 

Rezension aus FALTER 11/2020

HALT, DA IST EIN SPALT!

Den Heimatbegriff hinterfragen? Ja eh. Besser aber noch: eine lebenswerte Heimat herstellen

Zweihundertdreiundvierzig zu sechs. Was für eine Niederlage! Herbert Kickl rechnet es der neuen, türkis-grünen Regierung am Tag von deren Angelobung vor und kreidet es ihr an: 243 Mal „Klima“, bloß sechs Mal „Heimat“ – „und das jedes Mal nur in einem Zusammenhang mit Zuwanderung. Da ist nichts zu finden von einem positiven Heimatbegriff in Zusammenhang mit der österreichischen Bevölkerung.“

Werner Kogler, der als Nachfolger des Selbstsprengungsopfers Heinz-Christian Strache den Neuen an der Seite des frischverpartnerten Kanzlers gibt, nimmt den Angriff zur Kenntnis und wehrt ihn ab: „Möglicherweise“, so sinniert er, „ist Heimat auch der Ort, wo die Herzen groß genug sind und die Hirne weit genug denken können, um zu erkennen, dass das möglich und sinnvoll ist, was hier gelungen ist.“ Und er zititert einen Satz Alexander Van der Bellens aus dem Wahlkampf von 2016: „Wer seine Heimat liebt, der spaltet sie nicht.“

Der spätere Bundespräsident hatte auf den für einen eher dem linksliberalen Lager zugerechneten Kandidaten nicht ganz unheiklen Begriff gesetzt: „Heimat“, einen für lange Zeit diskreditierten, im schlimmsten Fall mit nazistischer Blut-und-Boden-Ideologie assoziierten Begriff, den die Parteigänger der politischen Rechten für sich gepachtet zu haben schienen – nicht zuletzt, weil man ihn ihr auch taxfrei überlassen hatte.

Über die Frage, ob oder wie der Heimatbegriff neu besetzt werden könne, herrscht naturgemäß Uneinigkeit. Van der Bellens Slogan etwa bezeichnet Max Czollek in seinem Buch „Desintegriert euch“ etwas süffisant als „Rhetorik der Zärtlichkeit“. Für ihn ist diese lediglich Ausdruck der Hilflosigkeit, mit der man nun auch links der Mitte auf die Herausforderung der AfD zu reagieren versucht.

Die Heimat, die die Rechten meinen, wird als etwas „Ursprüngliches“ verstanden, obwohl es die Personen, Dinge und Rituale, die man mit ihr assoziiert – Mozart, Schnitzel oder den von Andreas Gabalier nostalgisch besungenen Brauch des Scheitelkniens –, auch nicht „immer schon“ gegeben hat. Irgendwann aber hat sich „Heimat“ offenbar aus der Geschichte verabschiedet und beansprucht fürderhin Unveränderlichkeit, weswegen sich die Kickls und Vilimskys dieses Landes (wo kommt jemand dieses Namens eigentlich her?) auch unentwegt anheischig machen, als Einzige „das wahre Rot-Weiß-Rot“ in ungebrochener Strahlkraft zu erhalten.

Da müssen sich all jene, die unter „Heimat“ etwas anderes verstehen als einen Besitzstand, der einem qua genetisch festgeschriebenem „Austriernachweis“ zukäme, schon etwas mehr anstrengen. Denn selbstverständlich lässt sich der Heimatbegriff der Rechten nicht einfach „auf links drehen“. Dass dieser Versuch zu peinlichem Scheitern verdammt ist, belegt das Plakat, mit dem die Salzburger Grünen unter dem Slogan „Heimat beschützen“ ihren Landtagswahlkampf im Jahr 2018 bestritten – und das genauso gut von der FPÖ hätte stammen können.

Der schweizerisch-israelische Psychologe, Philosoph und Publizist Carlo Strenger hat in einem 2015 erschienenen Essay Anstoß daran genommen, dass weite Teile der unter dem Einfluss der „Ideologie der politischen Korrektheit“ stehenden europäischen und amerikanischen Linken die „Grundpfeiler der Aufklärung nicht länger selbstbewusst und voller Stolz verteidigen“ würden (womit er nicht unrecht hat). Er möchte dieses Manko durch etwas behoben wissen, was er „zivilisierte Verachtung“ nennt: „Sie muss erstens auf Argumenten beruhen, die zeigen, dass derjenige, der sie vorbringt, sich ernsthaft darum bemüht hat, den aktuellen Wissensstand in relevanten Disziplinen zu reflektieren [...]. Zweitens muss sie sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten und nicht gegen Menschen, die sie vertreten.“

Dazu eine Anekdote aus eigenem Erleben. Im November 2018 hielt Heinz-Christian Strache eine Signierstunde in einer Wiener Buchhandlung ab, die ich aus professionellen Gründen besuchte. Neben mir unterhielt man sich ganz ungezwungen, und ein Mann hielt mit seiner Einsicht, dass „das alles gesteuert“ sei, nicht hinterm Berg. Er wisse verbindlich, dass die syrischen Flüchtlinge von George Soros mit Smartphones, fünf- bis zehntausend Dollar und dem Auftrag zum Auswandern ausgestattet worden waren – „bloß nicht in die USA“.

Tatsächlich aber ging es ihm um etwas ganz anderes. In einer Klarsichthülle hatte er diverse Dokumente bei sich, die belegten, dass er für die Pflege seiner Eltern – beide über neunzig Jahre alt – „nicht einmal die Mindestsicherung“ bekomme. Die wollte er dem H.-C. vorlegen, damit ... Ich dachte mir damals, dass der Mann unter den Demonstranten, die an diesem Donnerstag gegen die von der „Sozial“ministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) betriebene Auflösung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) protestiert hatten, besser aufgehoben gewesen wäre. Dennoch: Ein Mann, frustriert und vielleicht sogar verzweifelt darüber, dass er nicht genug Geld bekommt, um seine greisen Eltern zuhause zu pflegen. Wie genau würde hier „zivile Verachtung“ weiterhelfen?

In seinem jüngsten Buch unternimmt Carlo Strenger den Versuch, „Diese verdammten liberalen Eliten“ (2019) zu verteidigen, kann ihnen aber einen Vorwurf nicht ersparen: „Sie haben die wahrhaft destruktive Neigung, stärker traditionsverbundene Gesellschaftsgruppen, die ihre aufgeklärten Ansichten nicht teilen, geringzuschätzen und runterzumachen.“ Darüber hinaus muss sich Strenger resigniert eingestehen, dass es fruchtlos ist, Politiker à la Trump anzugreifen und deren Lügen zu entlarven: „Es ist praktisch unmöglich, solche Anführer zu attackieren, ohne dass sich auch ihre Wähler angegriffen fühlen.“

Das ist zwar frustrierend, aber ich denke, dass der Versuch, die verfahrene Situation zu ändern, das Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit zur Voraussetzung haben muss. Aus diesen Gründen gilt es auch den beliebten Sündenfall-Narrativen zu misstrauen, die auf den Siegeszug des Neoliberalismus und darauf hinauslaufen, dass die Sozialdemokratie sich mit Blair und Schröder freiwillig in dessen Fahrwasser begeben hätte. Nicht, dass das falsch wäre, bloß hilft es auch nicht weiter, wenn man so tut, als könne man das Rad der Geschichte zurückdrehen und müsse dann nur die richtige Abzweigung nehmen, um alles wiedergutzumachen.

Nicht nur die Rechten hoffen, dass es endlich wieder so wird, wie es nie war, auch die Linke „sehnt sich nach der größeren sozialen Gleichheit, der starken Industriearbeiterschaft und dem Wohlfahrtsstaat der alten Industriegesellschaft“, konstatiert der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz und hat auch das passende Wort dafür parat: „Nostalgie“. Jetzt, wo die Arbeiterschaft (oder das, was aus ihr geworden ist) zu überwiegenden Teilen im rechten Lager steht, tragen selbst Linke, die mit dem Proletariat bislang herzlich wenig am Hut hatten, eine Träne im Knopfloch und hätten gerne ihren „Hackler“ zurück – auch wenn sie sich gekränkt oder erbost darob zeigen, dass der auf einmal so blöd ist und „gegen die eigenen Interessen“ wählt.

„Wenn Sie Populisten in Faschisten verwandeln wollen, dann erklären Sie ihnen, dass sie falsch gewählt haben und dass ihre Gefühle ungerechtfertigt oder nicht einmal erlaubt sind.“ Das Zitat stammt vom belgischen Historiker David Van Reybrouck, der in Robert Schabus’ Dokumentarfilm „Mind the Gap“ (2020) zu Wort kommt. Van Reybrouck legt damit den Finger auf einen wunden Punkt: Warum sollten Menschen ausgerechnet auf jene hören oder sich gar mit ihnen zusammentun, von denen sie jahre- und jahrzehntelang belehrt, gemaßregelt, herablassend behandelt und verachtet worden sind?

Mit „Fremd in ihrem Land“ hat Arlie Russell Hochschild eine sozialanalytische Reportage vorgelegt, die sie über fünf Jahre lang immer wieder nach Louisiana führte, wo Donald Trump 2016, als das Buch erschien, einen klaren Wahlsieg feiern sollte. Als Cicerone diente ihr Mike Schaff – männlich, weiß, Mitte sechzig und Sympathisant der Tea-Party-Bewegung. „Ich komme aus Berkeley, Kalifornien, ich bin Soziologin und versuche, die tiefer werdende Spaltung in unserem Land zu verstehen, erklärt sie sich. „Bei dem Wort ,Spaltung‘ nickte Mike und stichelte dann: ,Berkeley? Da seid ihr ja wohl alle Kommunisten!‘ Er grinste, als wollte er sagen: ,Wir Cajuns haben Humor, ich hoffe, ihr auch.‘“

Apropos Spaltung. In der deutschen Übersetzung hat sich der Untertitel von Russells Buch auf eigenartige Weise verändert: Aus „A Journey to the Heart of Our Political Divide“ wurde „Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten“. Nicht nur die Spaltung ist also verloren gegangen, sondern auch das besitzanzeigende Fürwort. Auf Deutsch begibt man sich auf fremdes Terrain oder gar ins Feindesland, während im amerikanischen Original die Phrase „our political divide“ die Verantwortung für die Spaltung nicht einfach einer Seite zuweist, sondern paradoxerweise das Trennende zur gemeinsamen Sache macht.

Das ist ein kleiner, aber signifikanter Unterschied, der nichts mit falscher Versöhnung zu tun hat (Stichwort: „Rhetorik der Zärtlichkeit“). „Wir müssen reden. Und streiten“, ist auf dem Cover von Czolleks „Desintegriert euch!“ zu lesen. Dem kann man nur zustimmen. Selbstverständlich kann „Streit“ auch zur „Spaltung“ führen, er ist seinem Wesen nach aber etwas anderes. Im besten Fall führt er zu produktiven Kompromissen. Im schlimmsten Fall läuft er auf „Spaltung“, auf Lähmung und autistische Isolation hinaus.

In ihrem Buch „Ich und die Anderen“ denkt Isolde Charim darüber nach, welche Ikonografie für einen neuen Heimatbegriff, für eine „Heimat der Unähnlichen“ tragfähig wäre, und verfällt dabei auf das verkehrspolitische Modell der Begegnungszone: „Durch räumliche Gestaltung – wie dem Wegfall von eindeutig zugeordneten Straßenflächen – erzeugt man beim Einzelnen ganz absichtlich das Gefühl von Unsicherheit. Denn genau das führt zu verändertem Verhalten. Die Unsicherheit des Einzelnen erzeugt eine sicherere Gesamtsituation.“

Die Linke täte gut daran, würde sie sich und den anderen wieder etwas mehr Unsicherheit zubilligen und dem Gegenüber einfach auch einmal zuhören oder mit diesem zu interagieren, ohne davor ein präventives Gesinnungsscreening durchzuführen. Und auch hierzu hätte ich noch eine Anekdote aus eigener Anschauung parat.

Schauplatz ist diesmal die Filiale eines Wiener Bio-Supermarktes. Im Theater nebenan findet eine Veranstaltung im Rahmen eines Tanzfestivals statt, dessen Besucherinnen und Besucher sich vor der Vorstellung noch mit Getränken und Snacks versorgen und die an ihrer Kleidung und ihren schlaffen Baumwollbeuteln unschwer als Vertreter der Spezies „Hipster“ zu identifizieren sind. Als sich ein junger Mann mit dunklerer Hautfarbe anschickt zu bezahlen, bittet ihn die Verkäuferin, seine Tasche kontrollieren zu dürfen. Der Mann ist sichtlich genervt und will wissen, warum ausgerechnet er. Die Kassiererin reagiert ebenfalls unrund, deutet an, den Chef holen zu müssen, erste Unmutsäußerungen werden gezischt: „This is racist!“

Ich habe auch in diesem Fall „versagt“. Dabei wäre es eigentlich ziemlich leicht gewesen. Ich hätte bloß darauf hinzuweisen brauchen, dass die Frau am Förderband eben Dienst nach Vorschrift mache und man ihr deswegen vielleicht nicht unbedingt gleich mit dem Rassismusvorwurf kommen müsse. Der Kassiererin aber hätte ich sagen können, dass der junge Mann vermutlich wesentlich öfter als andere dazu angehalten werde, seine Tasche vorzuweisen, dass die Gründe dafür unschön auf der Hand lägen, seine unwirsche Reaktion leicht nachzuvollziehen sei und sie darauf etwas sensibler hätte reagieren können.

Um eine solche Situation zu entspannen, bedarf es lediglich eines gewissen Maßes an Einfühlungsvermögen und der Bereitschaft, den Konflikt auf Augenhöhe untereinander zu lösen oder sich einfach persönlich zu wehren, anstatt einen Shitstorm zu entfesseln oder die nächste Beschwerdestelle damit zu befassen.

Gerade jenen Linken und Liberalen, die sich als erfolgreiche Repräsentanten einer „Gesellschaft der Singularitäten“ oft genug in einer privilegierten Position befinden, stünde ein geringeres Maß an beschämungsbereiter Selbstgefälligkeit nicht übel an. Anstatt danach zu trachten, es besser zu wissen, sollten sie versuchen, es besser zu machen.

Der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty beklagt in seinen Vorlesungen, die in der leider vergriffenen deutschen Übersetzung unter dem Titel „Stolz auf unser Land“ erschienen sind, dass er unter vielen seiner Kollegen und den Studenten „eine zuschauerhafte, angeekelte, ironische Linke“ antrifft „statt einer, die von der Vervollkommnung unseres Landes träumt“.

An dieser zu arbeiten ist das, worauf der Sammelband „Unser Land“ gerne Lust machen würde. Ganz im Sinne der „Kinderhymne“, der wohl schönsten Hymne, die je gedichtet (Bert Brecht) und komponiert (Hanns Eisler) wurde: „Und weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s / Und das Liebste mag’s uns scheinen / So wie andern Völkern ihrs.“

Klaus Nüchtern in FALTER 11/2020 vom 13.03.2020 (S. 38)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 11, 2020 12:12:00 PM Categories: 20. Jahrhundert (bis 1945) Geschichte Sachbücher
Rate this Content 0 Votes

Die Schwarz-Blaue Wende in Österreich 

Eine Bilanz

von Emmerich Tálos (Hg.)

Ein Déjà-vu in Schwarz, Blau, Orange und Türkis

Verlag: LIT
Genre: Politik Geschichte
Umfang: 480
Erscheinungsdatum: 15.06.2019
Preis: € 30,80

 

Rezension aus FALTER 36/2019

Ein Déjà-vu in Schwarz, Blau, Orange und Türkis

Ein überaus spannender Vergleich der Politik von Schwarz-Blau und Türkis-Blau, herausgegeben vom Politologen Emmerich Tálos

Der Politologe Emmerich Tálos hat nicht vergessen. Der langjährige Professor für Politikwissenschaft am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien hat bereits 2006 den Sammelband „Schwarz-Blau. Eine Bilanz des ‚Neu-Regierens‘“ herausgegeben, der sich mit der Politik der damaligen schwarz-blauen Bundesregierung (seit der Gründung des BZÖ im April 2005 schwarz-orange Bundesregierung) beschäftigte und als Standardwerk über diese Periode in Österreich gilt.

Nun hat Tálos einen Vergleich gewagt zwischen der Politik der ersten ÖVP-FPÖ-Regierung ab dem „Wendejahr“ 2000 und jenen 17 Monaten ab Dezember 2017, in denen ÖVP-Chef Sebastian Kurz und der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache das Land regierten.

Beleuchtet werden verschiedene Politikfelder, von der Budgetpolitik über Frauenpolitik, Kulturpolitik, der Einwanderungs- und Integrationspolitik bis zum Umgang der rechtskonservativen Regierung mit der österreichischen Neutralität.

Entmachtung der Arbeitnehmer

In vielen Bereichen finden die Autorinnen und Autoren Parallelen zwischen damals und heute. So wurden von beiden Regierungen nicht die Sozialpartner als Ganzes entmachtet, sondern jener Flügel, der die Interessen der Arbeitnehmer vertritt.

Arbeiterkammer und Gewerkschaft verloren an Einfluss, während manche der türkis-blauen Gesetzesentwürfe, etwa die Reform der gesetzlich zugelassenen Höchstarbeitszeit oder der Umweltverträglichkeitsprüfung bei Unternehmen, „den Eindruck erweckten, weniger aus den legistischen Abteilungen der Ministerien zu stammen als vielmehr auf Entwürfe von Interessenvertretungen (im konkreten Fall der Industriellenvereinigung und der Wirtschaftskammer) zurückzugehen“, schreibt der Politologe Hubert Sickinger in seinem Beitrag.

Auch das ist eine Parallele zum Jahr 2000, ebenso wie die Tendenz von Schwarz-Blau und Türkis-Blau, Gesetzesvorhaben wie den Zwölfstundentag, bei denen mit Protest zu rechnen ist, möglichst rasch durch das Parlament zu peitschen.

Anti-Ausländer-Kurs in den Schulen

Im Bildungsbereich fuhr Türkis-Blau einen noch schärferen Kurs als die erste ÖVP-FPÖ-Regierung. Unter Schwarz-Blau führten ÖVP und FPÖ noch Sprachförderkurse zum Erlernen der Unterrichtssprache Deutsch in unterrichtsbegleitender Form ein. Unter Türkis-Blau wurden Kinder, die nur mangelhaft Deutsch sprechen, in sogenannten Sprachförderklassen weitestgehend vom Regelunterricht getrennt unterrichtet. In diesem Punkt konnte die FPÖ ihre bereits seit 1993 erhobene Forderung nach eigenen Ausländerklassen mit Unterstützung der ÖVP umsetzen.

Spannend ist der Schwenk der ÖVP in der Europapolitik, der unter ÖVP-Chef Kurz vollzogen wurde. Noch im Grundsatzprogramm, das die Volkspartei 2015 beschlossen hatte, versteht sich die ÖVP klar als „Europapartei“, die „bei jedem weiteren Integrationsschritt eine aktive, die Gemeinschaft fördernde Rolle einnehmen“ soll.

2017 klang das anders. Im Programm zur Nationalratswahl findet sich Europa plötzlich im Kapitel „Ordnung und Sicherheit“. Statt an einer Fortsetzung des Vertiefungsprozesses mitzuwirken, will die ÖVP einen „Kurswechsel in Europa herbeiführen“. Die EU solle sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und die „drückende Last von Regulierungen“ abbauen. Hier hat sich die ÖVP unter Parteichef Kurz weg von der Position der Schüssel-ÖVP und in Richtung FPÖ bewegt.

Ein spannendes Buch mit Beiträgen namhafter Experten zur jüngsten politischen Geschichte Österreichs.

Nina Horaczek in FALTER 36/2019 vom 06.09.2019 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, September 4, 2019 9:45:00 PM Categories: Geschichte Politikwissenschaft/Politik
Rate this Content 0 Votes

Das austrofaschistische Österreich 1933-1938 

von Emmerich Tálos, Florian Wenninger

Verlag: LIT-Verlag
Genre: Politik, Geschichte
Erscheinungsdatum: 01.07.2017
Preis: € 19,80

 

Rezension aus FALTER 13/2018

Österreichs Eigenbaufaschismus

Löst die Übergabe des Dollfuß-Porträts an das Niederösterreichische Haus der Geschichte lästige Fragen nach dem Austrofaschismus, für den der christlich-soziale Ex-Bundeskanzler stand? Hier liest man, eingebettet in einen großen Bogen von der Weltwirtschaftskrise 1929 über den Bruch des Rechtsstaates 1934 bis zum "Anschluss" 1938, eindeutige Sätze wie: "Mit der Ermordung Dollfuß' durch Nationalsozialisten im Juli 1934 wurde der Austrofaschismus seiner unumstrittenen Führerfigur beraubt. Die realpolitischen Folgen waren allerdings überschaubar."

Erich Klein in FALTER 13/2018 vom 30.03.2018 (S. 9)

 

Rezension aus "wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit"

Der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos beschreibt in seinem Buch, unter Mitarbeit des Historikers Florian Wenninger, die Entwicklung und den Aufstieg des Herrschaftssystems des Austrofaschismus zwischen 1933 und 1938 in Österreich. Das knapp 190 Seiten umfassende Werk bietet einen guten Überblick über diese Phase der österreichischen Geschichte, deren historische Einordnung und Bewertung auch heute noch Gegenstand politischer Auseinandersetzungen ist.

Die Konstituierung und Festigung des austrofaschistischen Herrschaftssystems begann mit der Ausschaltung der progressiven Opposition im Februar 1934, allen voran der Sozialdemokratie und der sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften, und setzte sich mit tiefgreifenden Veränderungen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik fort. Der Austrofaschismus schrieb sich als Ziel die Errichtung eines Ständestaates auf die Fahne. Anstelle von Klassenkampf und dem der kapitalistischen Gesellschaft inhärenten Interessensgegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, sollte die harmonische Einheit des Berufsstandes treten (vgl. S. 53ff). De facto betrieb das austrofaschistische Regime eine systematische Umgestaltung der Ökonomie zugunsten der Kapitalfraktionen und zulasten der Arbeiterschaft. Die Wirtschaftspolitik des Austrofaschismus wurde von und für die Interessensträger dieses Regimes – katholische Kirche, Industrie, Finanzkapital und auch Teile der Bauernschaft – betrieben. Diese Politik kann auch als „Ausschaltung des Klassenkampfes bei fortbestehenden kapitalistischen Eigentums-, Produktions- und Verteilungsbedingungen“ (S. 159) beschrieben werden.

Während Banken und große Bauernhöfe zu den Gewinnern zählten, waren ArbeiterInnen, insbesondere Frauen, die VerlierInnen im System des Austrofaschismus: Tálos beleuchtet anhand konkreter Statistiken den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation in Österreich und der Anziehung, die das nationalsozialistische Regime auf die Arbeiterschaft in Österreich ausübte. Die Arbeitslosenrate 1931 betrug 15,4 %, 1933 betrug sie 26 %, und im Jahr 1937 noch immer 22 %. Im nationalsozialistischen Deutschland betrug sie 1937 4,6 %. Dies ist mitunter ein Grund, wieso bei Teilen der Arbeiterklasse der Nationalsozialismus an Attraktivität gewann. (vgl. S. 119)

Das schon in den 1920er-Jahren bestehende Problem der hohen Arbeitslosigkeit verschärfte sich. Tálos schreibt: „1935 erhielt nur mehr jeder zweiter Arbeitslose eine Unterstützung(..)“ (S. 121). Das Netz der sozialen Sicherung verschlechterte sich stark. Das Krankengeld der Krankenversicherung wurde gekürzt und die Renten wurden reduziert. Eine, wenn auch geringe, allgemeine Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter erfolgte erst 1939 mit Inkrafttreten der Deutschen Reichsversicherungsordnung (vgl. S. 124). Die Bezugsbedingungen für das Arbeitslosengeld wurden massiv verschärft, was auch erklärt, wieso so viele Menschen überhaupt kein Arbeitslosengeld und damit keinerlei staatliche Unterstützung mehr erhielten. Die Interessensorganisationen der Arbeiterschaft wurden zugunsten der austrofaschistischen Herrschaft umgebaut oder gänzlich zerschlagen, das Streikrecht beseitigt. Diese prekäre soziale Situation der ArbeiterInnen, die 1934 erfolgte Ausschaltung der „klassischen“ ArbeiterInnenparteien, also Sozialdemokratie und kommunistische Partei, und die vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenzahlen im nationalsozialistischen Deutschland, sind einige Erklärungsmuster für die Begeisterung, auch unter der Arbeiterklasse, mit der 1938 Hitler und der „Anschluss“ begrüßt wurden. Jedoch sollte eine Analyse, die nach Gründen für Begeisterung und ideologischer Attraktivität des Nationalsozialismus fragt, den vorhanden Antisemitismus und Ressentiments gegen sogenannte „Arbeitsscheue“ oder auch als „Asoziale“ gebrandmarkte Menschen, nicht außer Acht lassen. Die aktuelle mediale Darstellung von Arbeitslosen oder die Diskussion um die Arbeitspflicht für AsylwerberInnen zeigen historische Parallelen auf.

Die konservative katholische Ideologie bildete die Grundlage für gesellschaftliche Ideale und Geschlechterrollen im Austrofaschismus. Daher propagierte das Regime eine „klar getrennte, natur- und gottgewollte Geschlechterrolle“ (S. 126). In diesem ideologischen Verständnis war der Mann für Politik und Arbeit zuständig, die Frau sollte sich auf klassische Reproduktionstätigkeiten konzentrieren. Frauen wurden massiv am Arbeitsmarkt benachteiligt. Beispielweise galt im öffentlichen Dienst ein Doppelverdienerverbot, welches Frauen in die Sphäre des Privaten drängte. Auch in den Lehrplänen schlug sich das reaktionäre Geschlechterverständnis der austrofaschistischen Ideologie nieder und generell sank der Mädchenanteil im Mittelschulbereich. (vgl. S. 127) Dass eine solche Geschlechterpolitik kein Phänomen der Vergangenheit ist, zeigen aktuelle Tendenzen der Politik bzgl. der Abschaffung kostenloser Kinderbetreuung. (vgl. Rohrhofer 2017)

Tálos gibt im letzten Drittel des Buches einen Überblick über die Stimmungslage der Bevölkerung im Austrofaschismus und zeigt anhand des Antisemitismus die verbreiteten politischen Haltungen auf. (vgl. S. 133ff) Insgesamt, so schließt Tálos nach einer Betrachtung der Verhältnisse zum italienischen Faschismus und zum Nationalsozialismus, lässt sich das Herrschaftssystem zwischen 1933/34 und 1938 als eine spezifisch österreichische Variante des Faschismus kennzeichnen. Die nach wie vor gebräuchliche Bezeichnung „Ständestaat“ übernehme nicht nur die Selbstbezeichnung der Austrofaschisten – so Tálos – sondern sei auch historisch falsch, da die Ständegesellschaft nie realisiert wurde und viel mehr Propaganda und politisches Ideal als gesellschaftliche Realität im Austrofaschismus war.

Im Vergleich zu Tálos früheren Werken ist das Buch leicht verständlich verfasst und richtet sich nicht nur an ein akademisches Publikum. Vor allem für jüngere Leser wie Schülerinnen und Schüler und Studentinnen und Studenten (nicht nur der Sozialen Arbeit), eignet sich dieses Buch als Einstieg in den Themenkomplex. Es bietet einen guten historischen Überblick und eine polit-historische Einschätzung des austrofaschistischen Herrschaftssystems. Gerade für angehende SozialarbeiterInnen ist es wichtig, über die Verfehlungen der eigenen Disziplin Bescheid zu wissen. Das berühmte Diktum vom „Lernen aus der Geschichte“ ist nicht nur eine Phrase, sondern eine Aufforderung zum kritischen Reflektieren der Geschichte der eigenen Profession.

Während zu der Rolle und der Involvierung der Fürsorge im Nationalsozialismus schon einige Studien vorliegen (vgl. SiO 2008) ist für die Zeit des Austrofaschismus bisher noch wenig Forschung vorhanden. Tálos leistet mit seinem Werk möglicherweise eine Vorarbeit für künftige Arbeiten zum Verhältnis der Fürsorge-Institutionen zum Austrofaschismus.

Markus Deutsch / 1710743043@fh-burgenland.at

Posted by Wilfried Allé Thursday, December 20, 2018 11:53:00 PM Categories: Geschichte Politik
Rate this Content 0 Votes

Statistics

  • Entries (318)
  • Comments (6)

Categories