Die Eroberte Landschaft
Die Adria auf 1000 Metern Seehöhe, das war die Idee des 1932 eröffneten „Alpenstrandbads“ auf dem Semmering. Da das kühle Klima ein echtes Freibad nicht erlaubte, bauten die Architekten eine 40 Meter lange Glaswand, die sich bei Schönwetter öffnen ließ. Meeressand und Quellwasser, wilde Berge und geschützte Behaglichkeit: Auf dem Semmering, und in diesem Fall in der Attraktion des Hotels Panhans, hoben sich Gegensätze auf. Auch heute noch staunt man über diesen Geniestreich touristischer Planung.
Der Autor, Historiker und ehemalige Direktor des Wien Museums Wolfgang Kos widmet dem Semmering eine umfassende Studie. Wie in einem Leporello, einem Faltbuch, fügt Kos in „Semmering. Eine exzentrische Landschaft“ Bild an Bild und Erzählung an Erzählung und entwickelt so ein historisches Panorama. Munter von Disziplin zu Disziplin springend, vermittelt er den Ort als Laboratorium der Moderne. Brutale Landnahme geht einher mit romantischer Naturverklärung, rustikale Sentimentalität mit technischem Fortschritt.
In zahlreichen Tiefenbohrungen analysiert Kos die symbolische Ordnung der Landschaft. Er spürt die feinen Unterschiede zwischen aristokratischen und bürgerlichen Gästen auf und hält fest, wenn Heimattümelei in Fremdenhass übergeht. Das Buch ist mehr als eine Chronik. Es ist der Versuch, ein Jahrhundert unter das Mikroskop zu legen.
Kos begann sich um 1980 mit dem Ort zu beschäftigen. Er war damals ein auf Popmusik spezialisierter Radiojournalist, der den Semmering bis dahin vor allem aus den Erzählungen des eisenbahnbegeisterten Vaters kannte. Die seit Jahrzehnten andauernde Abwärtsspirale hatte damals ihren Tiefpunkt erreicht. Ausflüge führten in das zum Gespenst gewordene Südbahnhotel, das ebenso wie die anderen drei Grand Hotels leer stand. Ein Schild warnte vor herabstürzenden Dachziegeln, in den Räumen türmten sich Gebirge von Matratzen und demontierten Lustern. Die Holzkonstruktion des legendären Alpenstrandbads beim Hotel Panhans war eine Ruine.
In der Zeit düsterer New-Wave-Visionen übte der Lost Place eine morbide Faszination aus. Eine Fotografin schlug vor, im Südbahnhotel ein Erholungsheim für Punks einzurichten. Kos gab sich mit der Leichenbeschau nicht zufrieden und begann zu recherchieren.
Im Jahr 1992 breitete der studierte Historiker das Material in der Landesausstellung „Die Eroberung der Landschaft“ aus, die in Gloggnitz stattfand, einer der Nachbargemeinden des Semmerings. Hier griff der Kurator das vom Ausstellungsmacher Harald Szeemann (1933–2005) entwickelte Konzept auf, mehrere Stränge – Gesellschaft, Kultur, Politik – zu verknüpfen. Die Schau erzählte vom Elend der Arbeiter, die Tunnel in den Felsen trieben und Abgründe mit Steinbrücken überspannten. „Die Eroberung der Landschaft“ rief auch die Begeisterung in Erinnerung, die bereits der Bau der Eisenbahnstrecke auf den Semmering in den Jahren von 1848 bis 1854 auslöste.
Hunderttausende Fahrgäste erlebten die bis dahin als unwirtlich geltende Landschaft als theatralisches Spektakel. Die Anbindung an die Metropole war die Voraussetzung für die erst um 1880 einsetzende touristische Erschließung des Semmerings, der bis dahin nicht mehr als die topografische Bezeichnung für eine Passhöhe war. Die von Kos kuratierte Schau löste jene bis heute anhaltende Diskussion aus, wie sich ein von Geschichte überfrachteter und dennoch merkwürdig geschichtsloser Ort revitalisieren lässt.
„Man konnte zwischen Reichenau und Semmering ältere Damen treffen, die in überdimensionierten Villen residierten und im Winter nur ein Zimmer bewohnten, weil sie die Heizkosten nicht aufbringen konnten“, erinnert sich Kos. Wenn er angesichts vernachlässigter Landhäuser lästige Fragen stellte, hieß es, die Besitzer seien wahrscheinlich in Mexiko: „Arisierung und Vertreibung der Juden waren verdrängt.“
In „Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft“ geht Kos vertraute Pfade ab. Er beginnt mit dem Bau der Eisenbahn, einer der großen Ingenieursleistungen des industriellen Zeitalters. Bereits 1842 erreichte der Zug Gloggnitz am Fuße des Semmerings, das sich zum „Tor zu den Alpen“ entwickelte. Die Streckenbetreiber verzeichneten 1846 bereits 1,2 Millionen Passagiere, in erster Linie „Vergnügungszügler“. Man war, so ein Reiseführer von 1842, „noch mit dem Staub der Residenzstadt bedeckt“, aber „zugleich schon mitten in der Alpennatur“ und bereit zum „großen Körper- und Seelenbade“.
Gloggnitz und Reichenau entwickelten sich zu Zentren der Sommerfrische. Der Eindruck eines entspannten Rückzugs trügt, denn die Städter brachten ihre sozialen Konventionen mit. Wie später auf dem Semmering fand hier die sogenannte zweite Gesellschaft, das aufstrebende jüdische Bürgertum, eine neue, historisch relativ unbelastete Bühne. Unternehmer und Bankiers bauten Villen und spazierten mit Komponisten und Schriftstellern. Auf Wanderungen und bei Kaffeekränzchen wurden Kontakte geknüpft und Ehen eingefädelt. Die Ringstraße, Symbol der gründerzeitlichen Expansion Wiens, fand eine alpine Spielwiese. Am Beispiel zweier imposanter Gebäude, der kaiserlichen Villa Wartholz und des von Baron Nathaniel Rothschild in Auftrag gegebenen Schlosses Hinterleiten, beschreibt Kos den Wettbewerb um Rang und Aussicht. Rax und Schneeberg bildeten die malerische Kulisse für diese Urszene der Freizeitgesellschaft.
Der Semmering beschleunigte das süße Nichtstun, machte aus geduldigen Sommerfrischlern gestresste Kurzurlauber. Die Gäste brachten Arbeit und Gewohnheiten mit ins Gebirge, Industrielle, Bankiers und Künstler kamen selten ohne Aktenmappe ins glamouröse Homeoffice. „Der Reiz bestand darin, der Natur im Abendkleid und mit dem Sektglas in der Hand gegenüberzutreten“, schreibt Kos. Clevere Gründer wie der Hotelier Vinzenz Panhans stellten eine moderne Infrastruktur zur Verfügung: Telefon und Telegrafenamt beschleunigten die Kommunikation, Ski- und Rodelpisten und Österreichs erster Golfplatz lockerten den täglichen Rhythmus von Spaziergang, Besuch und Souper auf.
Das Buch entziffert die oft rätselhaften Fassaden, die sich keinem bestimmten Stil zuordnen lassen. Es beschreibt die Erfindung der Semmeringvilla als wilde Kombination aus Tiroler und Schweizer Elementen, zwischen denen durchaus auch ein gotischer Tupfer Platz fand. Soziologie mit Ideologiegeschichte verknüpfend, blendet Kos den kritischen Sound ein, der den Einbruch von Urbanität in die ehemals bäuerliche Umgebung begleitete.
Er berichtet vom Kopfschütteln des Schriftstellers Peter Rosegger (1843–1918), der in der nahen „Waldheimat“ die Auflösung der Scholle erlebte, die Fabrikschloten wich: „Heute stellt sich das Semmeringgebiet so dar, dass man nicht weiß, ist es ein Land mit Stadthäusern oder eine Stadt von Landhäusern.“ In den 1920er-Jahren erfasst der Gegensatz zwischen Konservativismus und Fortschritt auch diese künstliche Enklave. Die arbeitende Bevölkerung begehrte gegen das Regime der Luxusbetriebe auf, die ersten Nazis protestierten gegen das jüdische „Schlemmering“.
Für seine Expeditionen wählte Kos ein gemächliches Tempo. Er ist weniger Gipfelstürmer als Bankerlhocker, lässt sich von Ortskundigen die Wasserrohre zeigen, die der Fürst Liechtenstein für einen längst verschwundenen künstlichen Wasserfall bauen ließ, oder die versenkte Deckenbeleuchtung im neusachlichen Foyer des Südbahnhotels. Er stöbert in alten Reiseführern und Prospekten, um die Schlagwörter auszugraben, die diesen Nicht-Ort definierten, vom „Dorado für Sportler“ bis zum „Zauberberg“. 1930 textet eine Werbung für den Golfplatz kühl: „9 holes, 1000 m Seehöhe, 90 km von Wien.“
Die literarischen Darstellungen durch berühmte Gäste wie den Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler (1862–1932) trugen zum Mythos bei. In der Textsammlung „Semmering 1912“ des Dichters und Bohemiens Peter Altenberg (1859–1919) findet Kos eine stimmige Beschreibung ohne Klischees. Altenberg feiert das Schmelzwasser, das von den Dachrinnen tropft, und den Schneesturm, „der in das Gesicht nadelt und staubt“. Was Kos über Altenbergs Stil schreibt, lässt sich auf seinen eigenen Ansatz übertragen: „Kleinigkeiten und kaum Bemerktes interessieren ihn grundsätzlich mehr als das Große und Ganze.“ Ohne die Feder zu tief ins Metaphernfass zu tauchen, gelingen ihm Kleinode der Beschreibung, etwa über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: „In der biederen Emsigkeit der Wiederaufbaujahre zehrten Häuser wie das Panhans noch einmal von ihrem Unwirklichkeitsbonus.“
Wer heute die Höhenstraße, die die Villen und Hotels des Semmering verbindet, entlanggeht, wähnt sich auf einem Friedhof. Die großen Hotels sind geschlossen, auch das in den 1980er-Jahren erneuerte Hotel Panhans stellte seinen Betrieb ein. In den vergangenen Jahrzehnten kamen viele Investoren, die viel versprachen und wenig hielten. Architektonische Scheußlichkeiten zerstören die Aura, die die trotz aller Wunden doch beeindruckenden Bauwerke der Pionierzeit besitzen.
Der Historiker hält sich nicht mit Nostalgie auf. Ohne die traurige Gegenwart zu beschönigen, sucht Kos nach Chancen. So sei das Alleinstellungsmerkmal Großstadtnähe und erstklassige Verkehrsanbindung noch immer aktuell. In wenigen Jahren werden die internationalen Züge zwar in einem Tunnel verschwinden, aber die ÖBB möchten den Zugverkehr über die spektakuläre Trasse des genialen Ingenieurs Carl von Ghega (1802–1869) weiterführen. Der Titel Welterbe gibt dem Verkehrsbauwerk und seiner Umgebung zusätzliche Bedeutung. Mit dem Kultursommer Semmering gibt es ein reizvolles Festival, das die Fans von Theater und Musik auf den Berg holt. Auch die Wintersaison hat nicht ausgedient; der Zug hält nahe der Skipiste.
Kos empfiehlt Interventionen zeitgenössischer Architekten und Designer, um die Mottenkiste zu lüften. Er nennt Orte mit vergleichbaren Problemen und deren Lösungen, etwa Aussichtsrampen in den Tiroler Bergen oder Schweizer Modelleisenbahnen, die jährlich hunderttausende Besucher anziehen.
Noch ist der Semmering nicht verloren. Der Klimawandel steigert die Nachfrage nach kühlen Plätzen, das schlechte Image billiger Flugtickets macht das Bahnfahren attraktiv. Das lässt die Destination für Investoren reizvoll erscheinen. Einen ersten Schritt setzte der Grazer Hotelier Florian Weitzer, der das Kurhaus Semmering kaufte. Der stilbewusste Unternehmer erstand eine dieser dem Verfall preisgegebenen Megastrukturen, die, dezent renoviert, den Zeitgeist von Verlangsamung und Vintage treffen könnten.
In Anspielung auf „The Grand Budapest Hotel“, eine filmische Hommage des Regisseurs Wes Anderson an den Luxus der Belle Époque, nennt Weitzer das Kurhaus in Grand Semmering um. Auch für das zentrale Südbahnhotel zeichnet sich eine Lösung ab. Eine Gesellschaft, die bereits an der kroatischen Küste Hotels der Kaiserzeit renoviert, scheint an einem Kauf interessiert. Der ehemalige aristokratische Kurort Bad Gastein ging mit gutem Beispiel voran und versucht, die Historie mit attraktiver Gegenwart aufzuladen.
Wenn einiges gut aufgeht, könnte auch der Semmering wieder leben. „Die These, dass es am Semmering so viel Aufbruchstimmung gibt wie schon lange nicht, wird von vielen geteilt“, kommentiert der Semmeringkundler den Status quo, ohne seine Vorsicht zu verhehlen. In 40 Jahren Forschung hat Wolfgang Kos bereits zu viele Züge erlebt, die zu spät kamen oder erst gar nicht stehen blieben.
Matthias Dusini in Falter 27/2021 vom 09.07.2021 (S. 26)