AZ-Neu

Die Informationsplattform für ArbeiterInnen, Angestellte, KMUs, EPUs und PensionistInnen

Praktischer Journalismus 

Ein Lehrbuch für den Berufseinstieg und alle, die wissen wollen, wie Medien arbeiten

Ingrid Brodnig (Hg.), Florian Klenk (Hg.), Gabi Waldner (Hg.), Armin Wolf (Hg.)

EAN: 9783991660071
Verlag: Falter Verlag
Umfang: 264 Seiten
Format: Gebundene Ausgabe Preis: € 29,90
Format: ePUB Preis: € 24,99
Genre: Lehr- und Handbuch
Herausgeber: Ingrid Brodnig, Florian Klenk,
Gabi Waldner, Armin Wolf
Erscheinungsdatum: 29.07.2024


Ein Lehr- und Handbuch, verfasst von den angesehensten und erfahrensten Journalist:innen und Expert:innen Österreichs zu allen Mediengattungen in über 50 Beiträgen.

Das Buch enthält in zahlreichen leicht verständlich geschriebenen Kapiteln alles zum Thema Journalismus: vom Grundsätzlichen (Was ist Journalismus - und was nicht?) über die verschiedenen Ressorts (von Außenpolitik bis Lokales oder Wissenschaft), die verschiedenen Darstellungsformen (von den Nachrichten bis zum Podcast oder Social Media) und das Thema Journalismus als Beruf (Ethik, Medienrecht, Arbeitsrecht, Journalist:innen als Entrepreneur:innen).

Inhaltsverzeichnis

1. Grundlagen
· Was ist Journalismus (und was nicht)? (Andreas Koller)
· Geschichte und Vorbilder des Journalismus (Armin Thurnher)
· Themenfindung (Alexandra Föderl-Schmid)
· Online-Recherche-Techniken (Ingrid Brodnig)
· Investigative Recherche (Florian Klenk)
· Studien lesen (Elke Ziegler)
· Journalistisches Schreiben (Stefan Kaltenbrunner)
· Konstruktiver Journalismus (Ulrik Haagerup)

2. Ressorts
· Innenpolitik (Eva Linsinger)
· Außenpolitik (Raimund Löw)
· Wirtschaft (Michael Nikbakhsh)
· Chronik und Gericht (Petra Pichler)
· Lokales (Antonia Gössinger)
· Sport (Alina Zellhofer)
· Wissenschaft (Klaus Taschwer)
· Kultur (Judith Hoffmann)
· Medien (Stefan Niggemeier)
· Gesellschaft (Angelika Hager)
· Fotografie (Matthias Cremer)
· Karikatur (Michael Pammesberger)

3. Darstellungsformen
· Nachricht und Bericht (Katharina Schell)
· Gebauter Beitrag in Radio und TV (Peter Fritz)
· Reportagen schreiben (Karin Steinberger)
· Reportage in Radio und TV (Andreas Pfeifer)
· Porträts schreiben (Christa Zöchling)
· Radiofeature und Porträt (Eva Roither)
· Interviews führen (Renate Graber)
· (Kontroversielle) Interviews in Radio und TV (Armin Wolf)
· Diskussion und Streitgespräch (Corinna Milborn)
· Advokatorischer Journalismus (Peter Resetarits)
· Moderation in Radio und TV (Rainer Hazivar)
· Leitartikel und Kommentar (Hans Rauscher)
· Analyse in Radio und TV (Raffaela Schaidreiter)
· Satire (Christian Nusser)
· Glosse und Kolumne (Florian Asamer)
· Kritik und Rezension (Sigrid Löffler)
· Titel und Teaser (Jonas Vogt)
· Redigieren und Schlussredaktion (Bettina Eibel-Steiner)

4. Digitaler Journalismus
· Online-Journalismus (Gerold Riedmann)
· Multimediale Darstellungsformen (Elisabeth Gamperl)
· Podcast (Patrick Stegemann)
· Newsletter (Matthias Punz)
· Social Media (Melisa Erkurt)
· Mobile Reporting (Martin Heller)
· Datenjournalismus (Martin Thür/Jakob Weichenberger)
· Fact-Checking und Verification (Ingrid Brodnig)
· Künstliche Intelligenz im Journalismus (Christina Elmer) 

5. Journalismus als Beruf
· Redaktionsmanagement (Martin Kotynek)
· Journalistische Ethik (Wolfgang Wagner)
· Fehlerkultur und Transparenz (Dennis Bühler)
· Medien und Recht (Maria Windhager)
· Journalistische Selbstkontrolle (Alexander Warzilek)
· Arbeitsrecht (Andreas Schmidt/Verena Weilharter)
· Medienökonomie (Anita Zielina)
· Journalistisches Unternehmertum (Florian Skrabal)
· Personal Branding (Richard Gutjahr)
· Ausbildungswege (Nikolaus Koller)
· Medienlandschaft Österreich (Harald Fidler)
 

FALTER-Rezension

"Das war nicht meine Frage"

Armin Wolf in Falter 32/2024 vom 2024-08-09 (S. 21)

Von höherer Stelle könnte die Definition kaum kommen: Ein Inter­view ist eine "Sende­form, die aus kontro­ver­siel­ler Rede und Gegen­rede be­steht". So hat es 1989 der Ver­fas­sungs­ge­richts­hof fest­ge­schrie­ben, nach einer Be­schwerde ge­gen das bis da­hin wohl um­strit­tenste Inter­view der öster­rei­chi­schen Fern­seh­ge­schichte. Die bei­den ORF-Jour­na­lis­ten Peter Rabl und Hans Bene­dict hat­ten im Haupt­abend­pro­gramm Bundes­prä­si­dent Kurt Wald­heim zum Um­gang mit sei­ner Kriegs­ver­gan­gen­heit be­fragt. Wald­heim war von den durch­aus har­ten Fra­gen not amused und et­li­che Fans des Prä­si­den­ten be­schwer­ten sich bei der da­mals zu­stän­di­gen Rund­funk­kom­mis­sion we­gen an­geb­li­cher Ver­stöße ge­gen das Objek­tivi­täts­gebot.
Der Fall ging durch die Instanzen bis zum Ver­fas­sungs­ge­richt, das die Be­schwer­de schließ­lich ab­wies. Mit einer Be­grün­dung, die bis heute de­fi­niert, was bei Inter­views im (öf­fent­lich-recht­li­chen) Radio und Fern­sehen zu­läs­sig ist.

Gerade im Interesse von Objektivität und Unpartei­lich­keit müssten kon­tro­ver­siel­le Mei­nun­gen und Kri­tik vor­kom­men, hieß es da, "zu­mal die Form des Inter­views dem Be­trof­fe­nen Ge­legen­heit zur Rich­tig­stel­lung und Ver­tre­tung sei­ner ei­ge­nen Posi­tion gibt". Ge­rade weil die Be­frag­ten un­mit­tel­bar rea­gie­ren kön­nen, müssten sich die Fra­gen­den "nicht in der Bei­steue­rung neu­tra­ler Stich­worte für State­ments des Inter­viewten er­schöp­fen, viel­mehr kön­nen in al­le ge­wähl­ten Fra­gen -aus be­rech­tig­tem Inter­es­se an of­fener Wechsel­rede - durch­aus auch scharf aus­ge­präg­te Stand­punkte und provo­kant-kri­ti­sche Stel­lung­nah­men [...] (mit-)ein­fließen", er­klärte das Höchst­gericht.

Selbstverständlich muss nicht jedes Interview kontrover­siell, also kri­tisch sein. Es gibt auch das ex­plo­ra­tive oder nar­ra­tive Ge­spräch, in dem es pri­­mär darum geht, Men­schen zum Er­zäh­len zu brin­gen. Oder das Ex­per­ten-Inter­view, das im sach­li­chen Dia­log kom­plexe The­men er­klärt. Kontro­ver­siel­le Inter­views wer­den in der Re­gel mit Ver­ant­wor­tungs­trä­gern und Ent­schei­der­innen ge­führt, um ihre Hand­lungen, Aus­sa­gen oder Vor­haben mit Kri­tik, Ge­gen­argu­men­ten und Wider­spruch zu kon­fron­tieren.

Damit ist auch das Wichtigste über ein Interview gesagt: Es hat nicht zwei Betei­ligte - auch wenn es auf den ers­ten Blick so aus­sieht -, son­dern stets drei: Frage­stel­lerin, Be­frag­ten und Publi­kum. Je­des Inter­view ist eine Dienst­leis­tung für Dritte.

Wen fragen? Die Entscheidung, wer befragt werden soll, ist für ein ge­lun­ge­nes Inter­view zen­tral. Zu poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen Beamte kri­tisch zu be­fragen, ist meist sinn­los, sie haben da­rauf wenig Ein­fluss. Ideale­rweise sind die Be­frag­ten auch elo­quent. Das spielt im Print-Inter­view weni­ger eine Rolle, da lässt sich in der Trans­krip­tion vieles schön­schrei­ben, in Radio und Fern­sehen ist es wichtig.

Was fragen? Das Themenspektrum hängt wesentlich von der Länge des Inter­views ab. Rea­lis­tisch ist mit Inter­view-Profis durch­schnitt­lich etwa eine Frage/Ant­wort pro Mi­nute. Das heißt aber auch: Für ein Drei-oder Vier-Mi­nu­ten-Inter­view ist nicht mehr als ein The­ma sinn­voll, wenn man auch kri­tisch nach­fra­gen will. In acht bis zehn Minu­ten sind auch zwei bis drei Themen­kom­plexe mög­lich, in 30-oder 45-minü­ti­gen Inter­views na­türl­ich sehr viel mehr. Ein abso­lutes No-Go ist es, Fra­gen vor­ab zu ver­ein­ba­ren oder be­kannt­zu­geben. Auch nicht die Ein­stiegs­frage.

Gibt es Vereinbarungen? Dürfen Themenkomplexe von den Befragten aus­ge­schlos­sen wer­den? Wenn sie für das Ge­spräch nicht rele­vant sind und man das Inter­view sonst nicht be­kommt: mög­lich. Wenn die The­men wich­tig sind: nein.

Einzige Ausnahme: das super-relevante Exklusivinterview, das alle wol­len, aber noch nie­mand be­kom­men hat. Alle zen­tra­len Fra­gen kön­nen ge­stellt wer­den, nur ein wich­tiger Punkt dürfte nicht be­spro­chen wer­den. Das kann man even­tuell und wohl­über­legt ak­zep­tie­ren, muss die Ver­ein­ba­rung dann aber fürs Publi­kum of­fen­legen (das sich sonst wun­dert, wo die wich­tige Frage bleibt).

Live oder aufgezeichnet? Ein Live-Gespräch ist unmit­tel­bar und bie­tet Be­frag­ten kei­nen Grund, sich über den Um­gang mit ihren Ant­wor­ten zu be­schwe­ren. Für die Fra­gen­den ist es schwie­riger: Vor je­der ein­zel­nen Fra­ge muss ent­schie­den wer­den, ob sie eine sinn­vol­le Ant­wort brin­gen kann oder mög­li­cher­weise nur Zeit­ver­schwen­dung ist.

Zu viele Nachfragen kosten Zeit. Wiederholte Unter­brechungen, um die Sende­zeit nicht zu über­zie­hen, ver­är­gern zu­min­dest Teile des Publi­kums. Auf­zeich­nun­gen las­sen deut­lich mehr Mög­lich­kei­ten, The­men­as­pekte oder Frage­vari­anten aus­zu­pro­bieren. Was nicht er­gie­big ist, wird spä­ter gekürzt.

Tipp: Nicht mehr als zwei-,maximal dreimal so viel aufnehmen, wie gesendet werden soll. 20 Minuten lassen sich kaum sinnvoll auf fünf Minuten schneiden, 30 oder 40 Minuten schon gar nicht.

Zwei Dinge sind für kontroversielle Interviews wichtiger als alles andere. Wäh­rend des Ge­sprächs: zu­hören. Vor dem Ge­spräch: die Vor­be­rei­tung. Wer mög­lichst "blank" und kenntnis­frei in ein Inter­view geht, mit der Ab­sicht, "so naiv wie das Publi­kum" zu fra­gen, wird kein kri­ti­sches Ge­spräch füh­ren kön­nen. Weil jede Chance fehlt, zu er­ken­nen, wo Be­fragte aus­wei­chen, Wesent­li­­ches auslas­sen, schlicht nicht die Wahr­heit oder etwas an­deres sa­gen, als sie frü­her ge­sagt haben.

Im Idealfall hat man auch das Interviewziel der Befragten und deren mög­liche Ge­sprächs­stra­te­gien durch­dacht, hat al­les ge­le­sen, was die Inter­viewten zum The­ma öf­fent­lich ge­sagt ha­ben, kennt die wich­tigs­ten Ge­gen­argu­mente und hat frü­here Aus­sagen fakten­ge­checkt. Zah­len und Zi­tate (und ihre Quel­len plus Datum) im­mer mit­brin­gen, bei be­son­ders schwie­ri­gen "Fäl­len" auch phy­sisch (Zei­tungs­ar­tikel, Video­clips).

Der Frageplan: Idealerweise hat ein Interview ein Ziel: Was kann/will ich in den weni­gen Minu­ten rea­lis­tisch er­rei­chen? Und es hat zwei oder drei "Schlüs­sel­fragen" - die wich­tigs­ten Fra­gen des Ge­sprächs, die jeden­falls vor­kom­men müs­sen. Man stellt sie übli­cher­weise nicht als erste, keines­falls aber als letzte. Es ist sinn­voll, sich die­se Schlüs­sel­fra­gen genau (wört­lich?) zu über­legen, eben­so die Ein­stiegs­frage. Die muss nicht freund­lich sein, "um die Atmos­phäre zu lockern", da­für fehlt in (kür­zeren) Radio-und TV-Inter­views die Zeit. Sie sollte auch nicht so bru­tal sein, dass die Be­frag­ten be­reits in den ers­ten Se­kun­den völ­lig "zu­machen" und nur mehr in Ab­wehr­hal­tung ge­hen. Sie soll jeden­falls inter­essant sein und das Publi­kum neu­gie­rig ma­chen, wie es weitergeht.

Manuskript, ja oder nein? Ein kritisches Interview ganz ohne schriftliche Unter­lagen zu füh­ren, kann man nur Ge­dächt­nis-Akro­ba­tinnen ra­ten. Zu­min­dest Zi­tate und Zah­len sollte man dabei­haben. Aus­ge­schrie­bene Fra­gen kön­nen im Not­fall eines Black­outs hel­fen, aber kaum et­was ist für ein leben­di­ges Ge­spräch furcht­barer, als eine Ab­folge ab­ge­le­sener Fra­gen. In je­dem Fall darf das Manus­kript nur ein (wich­tiges) Hilfs­mittel sein.

Die Technik: Im Radiointerview geht es um den guten Ton. Profis arbeiten (außer­halb des Studios) mit einem Hand­mikro­fon, um stets die Ent­fer­nung zum Inter­view­ten aus­zu­glei­chen. Und mit Kopf­hörer! Ge­rät und Akku vor dem Ge­spräch zu über­prüfen, ist Pflicht. Ein mög­lichst ruhi­ger Auf­nahme­ort ist sinn­voll, Musik im Hinter­grund macht den Schnitt kompli­ziert, Klima­an­la­gen wer­den on tape lau­ter, als sie vor Ort er­schei­nen. Un­mit­tel­bar nach dem Inter­view ist es sinn­voll, die Auf­nahme zu checken, not­falls kann sie noch wieder­holt werden.

Fernsehinterviews leben auch von der Optik. Sinnvollerweise fin­den sie vor einem eher neu­tra­len oder einem thema­tisch pas­sen­den Hinter­grund statt. Alles, was vom Inter­view ab­lenkt, ist mög­lichst zu ver­meiden (gilt auch für das eigene Out­fit) oder not­falls an­zu­spre­chen. Idealer­weise wird ein Inter­view mit mehre­ren Kame­ras ge­filmt, das er­leich­tert den Schnitt un­gemein (auch Handys hel­fen hier). Falls das nicht mög­lich ist: Jeden­falls nach dem Ge­spräch noch "Gegen­schüsse" (beim Zu­hören, evtl. auch bei ein­zel­nen nach­ge­stell­ten Fra­gen) auf­neh­men und Zwi­schen­schnit­te (Hände, Um­gebung, "fal­sche Doppel" - also die Ge­sprächs­situa­tion in der Totalen).

Ein Vorgespräch ist sinnvoll, um wenig routinierte Gesprächs­partner zu be­ruhi­gen und da­ran zu er­in­nern, dass es da­rum geht, mit dem Inter­view Laien zu in­for­mie­ren, und nicht da­rum, ein Fach­publi­kum oder die Kol­legen­schaft zu be­ein­drucken. Län­gere in­halt­liche Vor­ge­sprä­che füh­ren häu­fig zu Inter­view­pas­sagen der Art "Wie schon vor­hin er­wähnt ...". Viele Fra­gende fin­den es auch nicht ganz ein­fach, von freund­li­chem Small­talk direkt in ein har­tes Inter­view um­zu­steigen.

Das Wichtigste und Schwierigste im Interview ist das, was am ein­fachs­ten klingt: zu­hören. Tat­säch­lich ist ein - noch dazu kontro­ver­siel­les - Ge­spräch, das man nicht wie ein Print-Inter­view nach­träg­lich "schön­schrei­ben" kann, eine ziem­lich stres­si­ge An­ge­legen­heit. Man sollte zu oft kom­plexen The­men auch für Laien ver­ständl­iche Fra­gen stel­len, und das ohne große Nach­denk­pau­sen. Die Fra­gen sollten einer nach­voll­zieh­baren Li­nie fol­gen und sich nicht in ir­rele­vanten De­tails ver­hed­dern. Man er­tappt sich schnell da­bei, über die mög­lichst kluge nächste Frage nach­zu­den­ken - statt zu­zu­hören: Ist das jetzt tat­säch­lich eine Ant­wort auf meine Frage, fehlt etwas, gibt es Wider­sprü­che, braucht es hier eine Nach­frage?

Wie fragen? Es hilft, tatsächlich Fragen zu stellen und nicht einfach Aus­sa­gen oder Be­haup­tungen in den Raum zu stel­len. Kur­ze Fra­gen sind in der Re­gel ver­ständ­li­cher, ameri­ka­ni­sche Lehr­bücher ken­nen die Ab­kür­zung KISS: Keep it short and simple.

Die Regel "Routine-Fragen bringen Routine-Antworten" stimmt fast immer. Die Regel "Kurze Fra­gen brin­gen kurze Ant­worten, lange Fra­gen lange Ant­wor­ten" stimmt häu­fig nicht, aber doch ge­legent­lich. Mund­faulen Be­frag­ten wird man eher "of­fene Fra­gen" stel­len (Wie war das? Warum?), aus­ufern­den Gäs­ten eher "ge­schlos­sene Fra­gen", die mit Ja oder Nein be­ant­wort­bar sind. Eine Zwi­schen­form nennt sich "halb­of­fene" oder "ska­lier­te" Fra­gen: "Auf einer Skala von 1 bis 10 ...", "Wel­che Schul­note wür­den Sie da­für ge­ben?", "Wie wahr­schein­lich ist es ...".

Niemals Mehrfachfragen stellen: Die Befragten können sich die angenehmste Frage heraus­picken. Oder sie be­ant­wor­ten al­les und es wird ein end­lo­ser Mono­log. Nicht im Inter­view recher­chieren: Fak­ten ge­hören vor­her ge­klärt. Im Inter­view geht es in der Re­gel um Mei­nun­gen, Ein­stel­lun­gen, Argu­mente. Fra­gen kön­nen auch infor­mieren: Manch­mal sind län­gere Fra­gen sinn­voll, weil sie ohne Er­klä­rung gar nicht ver­ständ­lich wä­ren. Oder weil sie da­zu dienen, be­stimmte Infor­ma­tionen über­haupt erst auf Sen­dung zu brin­gen. Ge­rade weil Be­fragte un­mit­tel­bar rea­gie­ren kön­nen, sind auch In­halte zu­läs­sig, die für ei­nen eige­nen Be­richt noch nicht aus­rei­chend be­stä­tigt wer­den konnten.

Falls sich wer schwertut, "harte" Fragen zu stellen -Wider­spruch dele­gieren: "Ihre Kri­ti­ker sa­gen ...", "XY wirft Ihnen vor ...". Sinn­los sind übli­cher­weise "Drachen­töter- Fra­gen", die nur ver­meint­lich knall­hart klin­gen. "Sind Sie ein Lüg­ner?" wird wenige Be­fragte zu einem Ge­ständ­nis moti­vieren. Ziel­füh­ren­der ist es, knapp meh­rere Be­lege für offen­kun­di­ge Un­wahr­hei­ten an­zu­füh­ren und dann: "Sie sa­gen offen­sicht­lich regel­mäßig die Un­wahr­heit. Wa­rum sollte man Ihnen noch glau­ben?" Kom­plexe Ant­worten, die für Laien schwer ver­ständ­lich wa­ren, kann man zu­sam­men­fas­sen. Ach­tung: Die Zu­sam­men­fas­sung muss prä­zise sein, sonst pro­vo­ziert sie eine neue Ant­wort und Wider­spruch.

In längeren Radiointerviews, in denen es bekanntlich keine Namens­in­serts gibt, be­währt es sich, alle paar Minu­ten eine Frage mit "Herr X" oder "Frau Y" zu be­gin­nen oder mit: "Sie hören ein Inter­view mit XY, der Gene­ral­sekre­tärin der Z-Par­tei". Der natür­liche Re­flex aus All­tags­ge­sprä­chen, nach Ant­wor­ten zu nicken oder etwas Zu­stimm­endes zu mur­meln, sollte vor Mikro­fon und Kamera jeden­falls ver­mie­den wer­den (das klingt übri­gens ein­facher, als es anfangs ist).

Wie oft nachfragen? Die wenigsten Gäste aus der Politik geben Interviews, weil sie gerne Fra­gen be­ant­wor­ten möch­ten. Sie möch­ten ein Publi­kum -poten­ziel­le Wähler­stim­men -er­rei­chen und in der Re­gel be­stimmte Bot­schaf­ten los­werden. Das ist für sie wich­ti­ger, als prä­zi­se Ant­wor­­ten zu geben. Außer­dem kön­nen einen all­zu kon­krete Fest­le­gungen spä­ter ver­folgen ("Vor zwei Mona­ten ha­ben Sie noch ge­sagt ..."), Partei­freunde oder Lobby­grup­pen ver­är­gern und der poli­ti­schen Kon­kur­renz Muni­tion lief­ern. Häu­fig agie­ren Be­fragte also nach einer Tech­nik, die sich in Medien­trai­nings "TTT" nennt: Touch - berühre kurz die Frage, Turn - biege ab, Tell - erzähle, was du eigent­lich er­zäh­len willst. Das kön­nen Fra­gende je­doch nicht zu­las­sen. Wer ein Inter­view führt, muss es auch füh­ren. Wohl­über­legte und -hof­fent­lich - rele­vante Fra­gen ver­die­nen auch Ant­worten. Das ist oft nicht einfach.

Im wohl berühmtesten TV-Interview, das je geführt wurde, hat BBC-Anchor Jeremy Paxman dem dama­li­gen bri­ti­schen In­nen­minis­ter Howard 1997 zwölf Mal (!) die prak­tisch wort­gleiche Frage ge­stellt. Ohne Er­geb­nis. Das Inter­view wurde legen­där, in der Praxis wären elf Nach­fragen aber deut­lich zu viele. Trotz­dem be­währt sich "Das war nicht meine Frage. Meine Frage war ..." oder "Sie be­ant­worten sehr aus­führ­lich eine Frage, die ich gar nicht ge­stellt habe ...". Letzt­lich kann man nie­man­den zu einer Ant­wort zwin­gen, aber Aus­weich­manö­ver deut­lich machen: "Ich sehe, Sie möch­ten meine Frage nicht be­ant­wor­ten. Wech­seln wir das Thema."

Gäste zu unterbrechen ist heikel, aber oft unvermeidbar. Heikel, weil es im Publi­kum viele -vor al­lem älte­re -Men­schen un­höf­lich und res­pekt­los fin­den. Das wis­sen auch die Be­frag­ten, des­halb ant­wor­ten sie häu­fig mit Ab­sicht be­son­ders aus­führ­lich. Ent­weder gibt es da­durch weni­ger un­an­ge­nehme Fra­gen oder sie müs­sen unter­bro­chen wer­den. Zu viele Unter­brech­ungen kön­nen die Fra­gen­den die Sym­pa­thie des Publi­kums kos­ten, und das darf nicht unter­schätzt wer­den. Jedes Inter­view hat eine Sach-und eine Ge­fühls­ebene. Ge­rade Fern­sehen ist ein sehr emo­tio­na­es Medium und wer die Sympa­thie des Publi­kums ver­liert, ver­liert auch das Inter­view. Wer sich beim Zu­sehen zu sehr är­gert, hört nicht mehr auf den In­halt der Fra­gen. Das heißt: im Ge­spräch im­mer höf­lich blei­ben, auch beim Unter­brechen. Doch wenn man unter­bricht, dann konse­quent.

Die Metabene: Bei längeren Interviews kann es spannend und aufschluss­reich sein, in man­chen Fra­gen die Ge­sprächs­ebene zu wech­seln. Das kann in­halt­lich sein -"Wa­rum möch­ten Sie die Frage eigent­lich nicht be­ant­wor­ten?" - aber auch atmos­phä­risch: "Das Thema scheint Ihnen sehr un­an­ge­nehm zu sein, wa­rum ist das so?". Noch nie ist mir in mehr als 3000 Inter­views aber eine Ge­sprächs­situa­tion be­geg­net, in der die Meta-Frage aus man­chen Lehr­büchern "Warum be­ginnen Sie bei die­sem Thema zu schwit­zen?" nicht grob un­höflich wäre.

Ein Interview abzubrechen ist die massivstmögliche Inter­ven­tion bei­der Sei­ten. In einem Live-Ge­spräch müsste ei­nem Ab­bruch durch die Fra­gen­den eine ex­treme Es­ka­la­tion voran­gehen, das Publi­kum würde das sonst nicht ver­ste­hen. In einer Auf­zeich­nung ist es mit­unter denk­bar, um das Ge­spräch neu zu be­ginn­en, etwa weil schon die erste Ant­wort mehre­re Minu­ten lang war. Aber Ach­tung: Die Be­frag­ten ken­nen dann be­reits die - hoffent­lich ori­gi­nelle - Ein­stiegs­frage. Ein noch späte­rer Neu­be­ginn ist in einem kontro­ver­siel­len Inter­view in der Regel nicht sinnvoll.

Im Gegensatz zur Autorisierung von Print-Interviews haben die Befragten keine Mög­lich­keit, bei der End­ferti­gung von Radio-oder TV-Inter­views mit­zu­reden. Die wich­tigste Re­gel für den Schnitt lau­tet des­halb: Fair­ness. Das Ge­sagte darf durch die Kür­zung keines­falls sinn­ent­stellt wer­den. Sehr gut kür­zen las­sen sich des­halb Wieder­ho­lungen, all­zu weit­schwei­fi­ge Er­klä­run­gen und in­halt­liche Ab­len­kungen. Gab es zu einem Thema mehrere Nach­fragen, rei­chen häu­fig die erste und die letzte Frage und Ant­wort. Es ist leich­ter, ganze Ge­sprächs­blöcke aus Fra­gen und Ant­wor­ten zu kür­zen als inner­halb von Inter­view­pas­sagen zu schnei­den. Ge­gen all­fäl­lige Be­schwer­den hilft, die un­ge­kürz­ten Origi­nal­ver­sionen von Inter­views on­line zu stel­len -auch als Ser­vice fürs Publikum.

Die Moderation: Der Moderationstext muss die Grund­infor­ma­tion zu The­ma und Gast lie­fern, die nö­tig ist, um das Inter­view zu ver­ste­hen und das Publi­kum neugie­rig zu machen. Bei auf­ge­zeich­ne­ten Ge­sprächen kön­nen in der Modera­tion bereits zen­tra­le Aus­sagen "ange­teasert" wer­den, bei Live-Inter­views logi­scher­weise nicht.

Wer das Interview geführt hat, liefert in der Regel auch einen Modera­tions­vor­schlag, der je­doch häu­fig um­ge­schrie­ben wird. Falls be­stimmte In­for­ma­tio­nen jeden­falls vor­kom­men müs­sen, um das Ge­spräch zu ver­stehen: im Mod-Vor­schlag aus­drück­lich darauf hinweisen.

Jeremy Paxman, einer der bekanntesten TV-Interviewer der letzten Jahr­zehnte, hat seine An­nä­he­rung ein­mal so be­schrie­ben: "Ich frage mich immer, wes­halb mich die­ser lü­gen­de Bas­tard jetzt an­lügt." Meine An­nähe­rung ist das nicht.

Für mich gibt es kaum Formen von Journalismus, die fairer sind als an­stän­dig vor­be­rei­tete und gut ge­führte Inter­views. Men­schen, die weit­rei­chen­de Ent­schei­dun­gen tref­fen, wer­den kennt­nis­reich und kri­tisch nach ihren Moti­ven be­fragt, mit Wider­spruch und mit Gegen­argu­men­ten kon­fron­tiert. Sie kön­nen ihre Posi­tion nicht nur ver­kün­den, sie müs­sen argu­men­tieren, er­klä­ren und be­gründ­en. Aber sie kön­nen auf jede Kri­tik auch un­mit­tel­bar reagieren.

Ein perfektes Interview gibt es aber sehr selten. Binnen weniger Minu­ten müs­sen so vie­le Ent­schei­dun­gen ge­trof­fen wer­den, dass kaum alle da­von rich­tig sein wer­den. Bei mir jedenfalls.

Von den gut 3000 Interviews, die ich im Fernsehen geführt habe, würde ich drei so wieder­holen. Alle ande­ren würde ich -hätte ich eine neue Chance -anders füh­ren, man­che zu fünf Pro­zent, manche zu 50 Pro­zent. Doch ge­nau das macht es auch so span­nend. Wie Samuel Beckett sagt: Try. Fail. Try again. Fail better!

 

Pressetext

Wie wird professioneller Journalismus gemacht? Was ist eine „Ge­schichte“? Wie wird recher­chiert und was ist im digi­talen Story­telling anders?

„Praktischer Journalismus“ bietet in über fünfzig Beiträgen alles, was man über die Medien und Jour­na­lis­mus wis­sen muss. In einer Medien­welt, in der sich die Land­schaft ra­sant ver­än­dert, wirft die­ses Buch einen kri­ti­schen Blick auf das Berufsb­ild von Jour­na­list­:innen und be­leuch­tet alle Facet­ten die­ses dyna­mi­schen Berufs­feldes.

Sechzig renommierte Expert:innen haben an diesem Werk mitgewirkt, um die wesent­li­chen Ele­mente des Hand­werks zu er­klä­ren: die klas­si­schen Res­sorts und For­mate, das Produ­zieren für On­line, Print, Radio und Fern­sehen so­wie die ethi­schen, recht­li­chen und öko­no­mi­schen Rahmen­be­din­gun­gen jour­na­lis­ti­scher Ar­beit. Das um­fas­sende Lehr­buch ist so­mit eine wert­vol­le Res­source für alle, die die grund­le­gen­den Prin­zi­pien des Jour­na­lis­mus er­ler­nen oder ihre Kennt­nis­se ver­tie­fen möch­ten. Praxis­nah wird auf­ge­zeigt, wie sich die Branche im digi­ta­len Zei­tal­ter ver­än­dert hat und wel­che neuen An­for­de­run­gen an Jour­na­list­:innen ge­stellt werden.

„Praktischer Journalismus“ ist ein Buch, das Generationen von Journa­list­:innen in Öster­reich ge­prägt hat. Erst­mals 1984 von Heinz Pürer heraus­ge­ge­ben, wurde es bis 2004 in mehre­ren Neu­auf­lagen ak­tua­li­siert und be­ein­flusste die Kar­rieren vie­ler heu­ti­ger Medien-Profis. Nach zwan­zig Jahren kehrt das Stan­dard­werk zeit­gemäß über­ar­beitet zurück.

Dieses Buch erscheint in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Medien­akademie.

Weitere Infos erhalten Sie unter: falterverlag.at/presse/praktischer-journalismus

Pressekontakt:
Sothany Kim
kim@falter.at
T: +43 1 53660 977

Posted by Wilfried Allé Sunday, August 11, 2024 10:20:00 AM Categories: Journalismus Lehr- und Handbuch
Rate this Content 0 Votes

Journalismus und heutige Medienbranche 

Ist seriöse Journalismus in der heutigen Medienbranche überhaupt erwünscht oder noch möglich?

Ist der Journalismus am Ende?

Ideen zur Rettung unserer Medien

von Reinhard Christl

Das Buch richtet sich an Praktiker: Journalisten, Chefredakteure, Medienmanager, Journalismus-Studierende. Aber auch an Leser außerhalb der Medienbranche, die ein wenig hinter die Kulissen des Journalismus blicken wollen.

Rezension aus FALTER 23/2012

Vergesst Grasser!

Die Journalisten hätten die Welt retten können, wenn sie nicht so sehr auf Society-News fixiert gewesen wären. Wir brauchen einen neuen Wirtschaftsjournalismus.

Wir hätten die Welt retten können und taten es nicht", schreibt die Wirtschaftsjournalistin Heike Faller in einem preisgekrönten Artikel im Zeit-Magazin, dem erhellendsten und ehrlichsten wirtschaftsjournalistischen Text, den ich in den vergangenen drei Jahren gelesen habe.
Die Wirtschaftsjournalisten hätten die Finanzkrise vorhersehen können, ja müssen, meint die Zeit-Journalistin. Es habe genügend Informationen gegeben, aus denen hervorgegangen sei, dass die US-Immobilienblase in Kombination mit den High-Risk-Geschäften vieler Banken die Welt in den Abgrund reißen würde. Es habe sich nur niemand für diese Informationen interessiert. Auch nicht unter den Wirtschaftsjournalisten. Und das, obwohl der US-Investor Warren Buffet schon 2003 die damals aufkommenden Finanzderivate als "Massenvernichtungswaffen" gebrandmarkt hatte.

Ich fürchte, Heike Faller hat Recht. Und mehr als das: Ich fürchte, der Politik- und Wirtschaftsjournalismus, wie wir ihn seit Jahrzehnten betreiben, passt nicht mehr zur Welt, wie sie sich heute, im Zeitalter der permanenten Finanzmarktkrise, präsentiert. Ich fürchte, Politik- und Wirtschaftsjournalismus müssen sich völlig neu erfinden, müssen neue Formen entwickeln, neue Sendungsformate, neue Arbeitsweisen.
Denn die Art und Weise, wie Politik gemacht wird, hat sich durch EU-Beitritt und Globalisierung massiv verändert; die Arbeitsweisen im Politik- und Wirtschaftsjournalismus aber haben, von wenigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen, mit diesen Veränderungen nicht Schritt gehalten.
Die österreichische Innenpolitik ist in vielen Bereichen zur Folklore-Veranstaltung verkommen. Immer mehr politische Entscheidungen fallen heute auf EU-Ebene. Die Politik, vor allem die nationale, hat ihre Gestaltungskompetenz in vielen Bereichen verloren. Die wahren Mächtigen sitzen in den Investmentbanken, in den Unternehmen, in deren Lobby-Organisationen.
Macht und Einfluss eines österreichischen Bundeskanzlers sind heute weit geringer als etwa in den 1970er-Jahren – und das nicht nur, weil Bruno Kreisky ein anderes Kaliber war, als es Werner Faymann ist. Die EU-Entscheidungsprozesse wiederum sind so kompliziert, dass es oft unmöglich ist, sie in einem kurzen Tageszeitungsartikel oder in einem zweiminütigen "Zeit im Bild"-Beitrag verständlich zu erklären.

Das ist alles nichts Neues? Richtig. Aber während man mittlerweile in jedem Mittelschul-Lehrbuch für politische Bildung lesen kann, dass sich die Spielregeln der Politik massiv verändert haben, hat der Journalismus auf diese Veränderungen kaum reagiert beziehungsweise kaum reagieren können.
Denn eigentlich bräuchte es heute mehr Hintergrundberichte, mehr ausführliche politische Analysen, mehr Erklärung der komplexer gewordenen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge – und damit mehr Geld, mehr Zeit zum Recherchieren und mehr Journalisten.
Stattdessen gibt es immer weniger davon. Immer weniger Journalisten stehen immer mehr PR-Leuten gegenüber. In den USA gab es 2009 über 240.000 PR-Leute, aber nur mehr rund 100.000 Journalisten. In Großbritannien kommt inzwischenauf drei PR-Leute ein Journalist. Britische Journalisten füllen heute dreimal so viele Seiten wie 1985. Nur zwölf Prozent ihrer Geschichten sind von ihnen selbst recherchiert, schreibt der Guardian-Journalist und Medienkritiker Nick Davies. Immer weniger Mitarbeiter in immer kleiner werdenden Redaktionen haben immer weniger Zeit, die Unmengen an PR-Material, mit denen sie überschüttet werden, zu hinterfragen und die Wahrheit dahinter herauszufinden.

Die Folge: Zumindest die intelligenteren unter den Lesern zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Medien. Und sie gewinnen immer öfter den Eindruck, dass es herzlich wenig bringt, sich etwa ein TV-Interview mit einem österreichischen Minister zur Finanzmarktkrise anzusehen. Denn erstens hat er keine Lösung anzubieten. Und zweitens spricht er über Dinge, die er selber bestenfalls halb, das Publikum oft gar nicht versteht: über EFSF, ESM, CDS, CDO und Acta.
Die Herausforderung für den Politik- und Wirtschaftsjournalismus der Zukunft lautet deshalb: Er muss es wieder schaffen, den Menschen die Welt zu erklären. Ihnen zumindest helfen, die komplizierten Vorgänge in und zwischen Politik und Wirtschaft ein wenig besser zu verstehen.
Deshalb müssen sowohl Politik- als auch Wirtschaftsjournalismus neue Wege gehen: Alle Politikjournalisten, nicht nur die, die sich schon jetzt dafür interessieren, müssen sich künftig mehr mit Wirtschaft beschäftigen. Denn fast jedes politische Interview mit dem Bundeskanzler, dem Finanz- oder dem Außenminister dreht sich heute mindestens zur Hälfte um Wirtschafts- oder wirtschaftsnahe Themen: um Budgetdefizite, Steuerreformen, EU-Rettungsschirme.
Und so wie die Politikjournalisten künftig besser über Wirtschaft Bescheid wissen müssen, müssen die Wirtschaftsjournalisten sich mehr mit Politik beschäftigen.
Wirtschaftsjournalismus war immer ein Minderheitenprogramm. Er richtete sich fast ausschließlich an Experten: Wirtschafts­treibende, Banker, Unternehmer, Manager. Wenn aber die Wirtschaft zunehmend die Politik und das Leben jedes Einzelnen bestimmt, muss der Wirtschaftsjournalismus aus dem Spezialisteneck heraustreten und mehr bieten als Special-Interest-Informationen für Experten. Er muss erklären, wie und warum die Wirtschaft die Welt regiert. Er muss beschreiben, welche Konsequenzen wirtschaftspolitische Entscheidungen für jeden Einzelnen haben: für sein Geld, seinen Job, seine Urlaubsreise, seine Kinder.

Die Wirtschaftsjournalisten waren lange Zeit eine, das erlaube ich mir als ehemals Angehöriger dieser Zunft selbstkritisch zu beurteilen, in sich geschlossene Community, die dazu neigte, sich im Insiderjargon auszudrücken. Das muss sich ändern. Gefragt sind künftig Formulierungen, die nicht nur Finanzexperten verstehen, sondern auch das Nicht-Fachpublikum.
"Der real existierende Wirtschaftsjournalismus benötigt mit Ausnahme ganz weniger internationaler Qualitätsprodukte eine ,Reset'-Taste", kritisiert der Schweizer Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Kurt Imhof. Und weiter: "Die generelle Nachrichtenwertorientierung des Wirtschaftsjournalismus hat zur Folge, dass spektakuläre Einzelereignisse und Personen-Skandale zu Lasten der Ursachen und Folgen komplexer Wirtschaftsvorgänge überbewertet werden."
Soll heißen: zu viele Society-News, zu wenig Hintergründe. Zu viel über KHGs & Fionas Societyauftritte, zu wenig über die Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik. Zu wenig auch über die Vorgänge in jener Institution, die heute viel stärker als jede österreichische Regierung unsere Zukunft gestaltet: die EU.
Zugegeben, fast alles, was in der EU und in Brüssel passiert, ist extrem schwer zu journalistisch griffigen, lesbaren, vergnüglichen Geschichten zu verarbeiten. Man kennt die handelnden Personen oft nicht, sie sind meist weit weg, und alles ist noch viel komplizierter, als es sich Fred Sinowatz je hätte träumen lassen.
Aber die Vorgänge in Brüssel und Straßburg bestimmen unser Leben heute viel mehr als das Geschehen am Ballhausplatz und im Parlament. Also muss es gelingen, sie endlich spannender, lebendiger, lebensnäher zu beschreiben. Wie wäre es, als Anfang, mit einem EU-Wettbewerb für junge Journalisten? Die Aufgabenstellung: informative, vor allem aber spannende und unterhaltsame Storys zum Thema EU.
Vielleicht wird man auch, wie das in internationalen Medien bereits geschieht, nachdenken müssen, ob man nicht die Grenzen zwischen Politik- und Wirtschaftsressorts einreißt. Für Themen wie EU-Gipfeltreffen, Finanzmarktregulierung und Steuerreformdebatten wäre ein großes Politik-, Wirtschafts- und EU-Ressort wohl besser aufgestellt als jeweils separate journalistische Schrebergärten.

Egal, ob bei EU-Themen, Globalisierungsfragen oder internationalen Datenspeicherungsabkommen: Politik- und Wirtschaftsressorts müssen künftig mehr kooperieren. Sie müssen analytischer und hintergründiger arbeiten, ohne dabei zu langweilen. Wenn der politische Journalismus so etwas wie die vierte Gewalt bleiben will, muss er sich künftig in dieser Rolle um viel mehr kümmern als nur um Innenpolitik im klassischen Sinne.
Jörg Schönenborn, der Chefredakteur des Westdeutschen Rundfunks, hat das treffend beschrieben: "Die wirklich relevanten Enthüllungsgeschichten der Zukunft werden in der Wirtschaft, in den Entwicklungslabors von Forschung und Industrie und in der Behördenlandschaft der EU spielen."

Posted by Wilfried Allé Wednesday, November 22, 2017 1:17:00 PM Categories: Journalismus Medienforschung Medienökonomie, -politik, -recht und Journalismus Sachbücher/Politik
Rate this Content 0 Votes

Statistics

  • Entries (318)
  • Comments (6)

Categories