von Alberto Acosta, Ulrich Brand, Stephan Lessenich
Übersetzung: |
Nadine Lipp |
Verlag: |
oekom verlag |
Format: |
Taschenbuch |
Genre: |
Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft |
Umfang: |
192 Seiten |
Preis: |
€ 16,50 |
Erscheinungsdatum: |
19.03.2018 |
Rezension aus FALTER 18/2018
„Van der Bellen tut nichts“
Politikprofessor Ulrich Brand über eine Alternative zum Kapitalismus, die Macht der Provokation und fette Autos
Ulrich Brand schrieb vergangenes Jahr mit der Kapitalismuskritik „Imperiale Lebensweise“ einen Bestseller. Nun legt der Politikprofessor gemeinsam mit dem ecuadorianischen Volkswirt und ehemaligen Energieminister Alberto Acosta sein neues Buch „Radikale Alternativen“ vor, in dem er Wege aus der Kapitalismuskrise aufzeigt. Ein Gespräch über die verheerende Deregulierungspolitik der türkis-blauen Regierung, Protest mit abgebrochenen Mercedes-Sternen und das gute Leben.
Falter: Herr Professor Brand, eine Ihrer radikalen Alternativen zur zerstörerischen Wachstumslogik des Kapitalismus heißt „Degrowth“. Was heißt das?
Ulrich Brand: Der Begriff wird vor allem in sozial radikalen Bewegungen und der kritischen Wissenschaft verwendet. Die Ausrichtung lautet: Die Gesellschaft und Wirtschaft müssen so organisiert werden, dass sie nicht mehr den kapitalistischen Wachstumszwängen unterliegen. Es ist ein Angriff auf jene, die vom kapitalistischen Wachstumsimperativ besonders profitieren.
Kann man mit so einem unsexy Begriff die Menschen überhaupt für sich gewinnen?
Brand: Nein, wenn von „Degrowth“ oder „Postwachstum“ gesprochen wird, dann gehen bei vielen die Ohren zu. Da denkt jeder an Verzicht. Es geht eher darum: Wir müssen die Gesellschaft sozial und ökologisch umbauen und brauchen ein anderes Wohlstandsmodell. Das hört sich ganz anders an. Dazu kommt die Forderung: Ein gutes Leben für alle.
Was wäre dieses gute Leben?
Brand: Wir haben heute zum Beispiel dieses wahnsinnige Fast Fashion, schneller Umschlag immer neuer Kleidung, immer der neueste Schrei. Degrowth würde heißen, dass wir weniger Klamotten haben. Man könnte das als Verzicht sehen, oder aber auch als Befreiung von Überfluss und Konsumzwang. Man würde Schädliches vermeiden und stattdessen Dinge teilen. Das würde zu einem ressourcenleichten Wohlstand führen.
In China hat der Kapitalismus für sehr viele Menschen ein gutes Leben gebracht, er hat eine neue Mittelschicht geschaffen.
Brand: In China gibt es eine unglaublich produktive Entwicklung für nicht so wenige – aber auch nicht für alle. Die Frage ist, ob wir es anders machen können. Marx hat die Doppelseitigkeit des Kapitalismus gezeigt: Da ist diese enorme Produktivität des Kapitalismus und zugleich seine enorme Destruktivität. Wenn wir heute nach China fahren, sind viele Landstriche verwüstet, die Luft in vielen Städten ist entsetzlich. Denn Natur wird dort nur als auszubeutende Ressource gesehen. Über den kapitalistischen Markt wird der Markt zu einem Zwang, in den immer mehr hineingezogen wird. Den kapitalistischen Weltmarkt kann man nicht mehr steuern. Die Macht der transnationalen Unternehmen ist so stark, dass man kaum rauskommt. Es fehlt ein integraler ökonomischer Ansatz, der nicht alles ausbeutet, sondern umsichtig steuert – eine nachhaltige Entwicklung oder Kreislaufwirtschaft.
Was hindert uns daran auszusteigen?
Brand: Da kommen viele Faktoren zusammen. Das sieht man etwa an der spannenden Frage in Österreich: Kommen wir aus der ökologisch zerstörerischen Automobilität und der Automobilindustrie raus? Also können wir alternative Verkehrskonzepte entwickeln, die dringend notwendig sind – wir wissen schließlich, dass wir aufgrund der Klimaziele von Paris dekarbonisieren müssen. Das Elektroauto wird hier nicht reichen. Was uns daran hindert, sind die derzeitigen Strukturen – an ihnen hängen Beschäftigung, Infrastruktur, Unternehmensprofite, sowie die Legitimität von Politik durch Wachstum. Aber auch die Raumstrukturen, der im ländlichen Raum unzureichende öffentliche Verkehr und die Wünsche vieler Menschen, die gerne im Auto sitzen. Der Kapitalismus hat also produktive Anteile, aber er verselbstständigt sich. Durch den Neoliberalismus ist die Steuerungsfähigkeit, die es nach dem Zweiten Weltkrieg gab, noch einmal zurückgenommen worden. Früher konnte die Politik in die Wirtschaft eingreifen und Regeln aufstellen, damit nicht alles möglich war. In Österreich gibt es das zum Teil noch. Aber wir sehen gerade bei dem geplanten Verfassungsgesetz zur Wettbewerbsfähigkeit und der Entschlackung von Gesetzen, dass noch stärker dereguliert werden soll. Die türkis-blaue Regierung hat eine Deregulierungsagenda. Deregulierung bedeutet oft, dass die Starken noch stärker werden.
Die Regierung will das Staatsziel „Wirtschaftsstandort“ in die Verfassung schreiben, damit umweltschädliche Projekte wie die dritte Piste am Wiener Flughafen problemlos gebaut werden können. Gegen den Bau demonstrierten allerdings bloß ein paar hundert Leute. Vielleicht interessiert das gar niemanden.
Brand: Degrowth ist ein Minderheitenkonzept, und ein grundlegender sozial-ökologischer Umbau wird heute eher von wenigen aktiv gewollt. Im Gegensatz zum Konzept der Nachhaltigkeit ist es eine Waffe, die nicht zu vereinnahmen ist. Der Begriff Degrowth ist eine radikale Provokation. Machen wir es an der dritten Piste fest. Da bedeutet Degrowth: Wir müssen raus aus den Nahflügen, raus aus einer Logik, dass man schnell mal von Wien nach Berlin fliegt.
Die breite Masse will aber fliegen.
Brand: Ja, da bin ich nicht naiv. Aber die Kritik an der Gesellschaft kam immer von den Rändern. Denken wir an Zwentendorf zurück. Die Menschen, die gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf waren, sind anfangs für verrückt erklärt worden. Doch irgendwann ist die Stimmung gekippt. Und heute gibt es in Österreich einen totalen Anti-Atom-Konsens. Das Interessante an der dritten Piste ist, dass jetzt Wissenschaftler, Intellektuelle und soziale Bewegungen – so schwach sie vielleicht heute noch sind – sagen: Wir müssen umdenken. Der Konflikt um die dritte Piste ist hoch aufgeladen und repräsentativ für die Frage: Welches Verkehrssystem wollen wir? Er kann dazu führen, dass wir aufhören, immer nur an Flugmobilität zu denken, wenn wir in Europa von Mobilität sprechen. Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, brauchen wir die Provokation vom Rand, die guten und nachahmbaren Beispiele und eine Debatte über ein gutes Leben. Ich bin überzeugt, dass es diesen Stachel braucht, damit ein Umdenken und dann auch reale Veränderung gelingen.
Derzeit denken die meisten Österreicher in eine andere Richtung. In Salzburg wurde die Klimapolitikerin Astrid Rössler nach einem Umwelt-Wahlkampf abgewählt. In der Bundesregierung sitzt wiederum ein Vizekanzler, der am Klimawandel zweifelt. Was kann man da noch tun, damit in der Klimapolitik etwas weitergeht?
Brand: Wir brauchen zunächst weitere Initiativen, die Politiker dafür kritisieren, wenn sie den Klimawandel leugnen. Außerdem sind die staatlichen Apparate nicht homogen. Im Nachhaltigkeitsministerium gibt es eine unglaubliche Frustration, wie es aktuell läuft. Nehmen wir aktuell die Klima- und Energiestrategie: Die ist derzeit wachsweich, ohne Zielvorgaben und Finanzierung. Da gibt es auch Kritik aus dem Apparat. Wir müssen schauen, wo die Kräfte sind, die überhaupt etwas in eine sozial-ökologische Richtung verändern könnten und wollen. Und wir müssen überlegen, wie wir sie stärken können. Ich kritisiere deshalb Bundespräsident Van der Bellen, weil er seine symbolische Funktion als grüner Bundespräsident überhaupt nicht wahrnimmt, um immer wieder diesen Stachel zu setzen. Das könnte er. Wenn er auftritt, ist er in allen Medien. Aber er tut nichts. Und wo sind die progressiven Unternehmer, die sich für die ÖBB einsetzen und die Asfinag oder Niki Lauda zurückdrängen, dessen Fluglinie zu einem Preiskonkurrenzkampf führt?
Selbst wenn ein Österreicher extrem ökologisch lebt, hat er noch immer einen größeren Fußabdruck als der Durchschnittsbürger eines Entwicklungslandes – wir leben automatisch über den Verhältnissen der Erde. Wie weit muss Degrowth gehen?
Brand: Es geht zunächst ums Umkehren. Mit Karl Polanyi (Anm.: siehe Seite 20) gesprochen: Wir müssen die gesellschaftspolitische und intellektuelle Gegenbewegung gegen eine immer weiter selbstverständliche, ignorante Naturvernutzung und imperiale Lebensweise einleiten. Dann sind Lernprozesse möglich, die ich bei einigen meiner Studierenden schon sehe: Die wollen gar kein Auto mehr haben, einige sogar nicht mehr fliegen. Sie wollen einfach und gut leben. Das wäre der Horizont: Ein wachsender Teil der Gesellschaft will diese andere Lebensweise.
Gleichzeitig ist jeder vierte Neuwagen in Österreich heute ein SUV. Was denken Sie sich, wenn Sie einen SUV sehen?
Brand: Für die Stadtentwicklung ist das dramatisch, weil ja immer mehr Platz in Anspruch genommen wird, persönlich fühle ich mich als Radler gefährdet. Ich habe mir vor kurzem zum ersten Mal einen Helm gekauft, weil die Autos immer breiter werden. Als Jugendlicher hatte ich noch Mercedes-Sterne abgerissen, um gegen Autos zu protestieren. Das geht heute nicht mehr. Auf der Ebene der Stadtentwicklung wünsche ich mir aber, dass es einen Unmut gibt in Bezug auf SUVs. Die hindern aufgrund ihrer Breite immer wieder Straßenbahnen am Weiterfahren, die Leute müssen manchmal sogar aussteigen. Es könnte einen positiven Kulturkampf gegen SUVs geben: „Ihr, die ihr euch immer sicher bewegen wollt, schränkt unsere Mobilität ein, weil ihr euch immer fetter auf die Bim-Gleise stellt.“ Könnte es nicht heute wieder ein Unbehagen in den Städten geben, das dann dazu führt, dass die Städte eigentlich viel lebenswerter werden, weil es weniger Autos gibt?
Ist es legitim, für dieses Ziel Gewalt anzuwenden wie Mercedes-Sterne abzureißen oder flächendeckend „CO2“ in SUVs zu ritzen, damit weniger Leute SUVs kaufen?
Brand: Ich würde heute keine Mercedes-Sterne mehr abbrechen und auch in kein Auto ritzen. Das war in den 1990ern so eine Wut und geschah in einem kulturellen Milieu in Frankfurt oder Berlin, in dem es viele gemacht haben. Der Protest müsste sich in einer kulturellen Auseinandersetzung äußern. Aber vielleicht ist das Reinritzen ein wütender Ausdruck von Unbehagen – eine bewusste Sachbeschädigung. Eine Abwägung derer, die das machen, nach dem Motto: „Das, was ich an deiner Tür beschädige, ist viel weniger, als du die Stadt, das Klima, die Zukunft und die Ressourcen beschädigst.“ Die Beschädigung könnte zur Diskussion führen, welche Funktion SUVs heute in Städten haben, warum es diese verrückte Form von Statuskonsum gibt. Da hätten wir den Stachel wieder. Der Stachel kommt über die Provokation. Aber man muss jetzt nicht flächendeckend SUVs beschädigen.
Die Provokation kommt heute nur von den Rechten, die damit die Themen bestimmen.
Brand: Ja, das ist heute so. Aber das war nicht immer so. Eine Provokation kann dazu führen, sich zu verständigen, was eine hohe Lebensqualität und gute Lebensweise für alle Menschen ist. Nicht eine, die andere Menschen ausgrenzt, die abwertet und auf deren Kosten gelebt wird. Man könnte so den Rechten vielleicht sogar das Wasser abgraben.
Benedikt Narodoslawsky in FALTER 18/2018 vom 04.05.2018 (S. 18)