Die volle Liberalisierung des Strommarktes hat für Instabilität und Boom/Bust-Zyklen mit starken Preisschwankungen gesorgt. Diese sind das Grundproblem, und die Stromfirmen müssen sich mit Derivativgeschäften dagegen absichern. Dies kann auf zwei Arten passieren: seriös über die Börsen oder aber über unregulierte Over-the-Counter-Märkte, wo die Zocker aktiv sind - nicht von ungefähr nennt man sie auch Over-the-Counter-Kasinos. In der Finanzkrise 2008/2009 waren diese die Brandbeschleuniger der Krise und ließen die größten US-Banken und auch Unternehmen reihenweise in die Pleite rutschen. Viele dieser Geschäfte wurden daher verboten und auf Bösen verlagert, die viele Absicherungs- und Frühwarninstrumente haben, zum Beispiel Nachschusspflichten, wie sie jetzt bei der Wien Energie schlagend geworden sind.
Die Ursache für den jüngsten starken Anstieg der Strompreise ist vor allem der von Russland als noch De-facto-Monopolist betriebene Anstieg der Gaspreise: Im Merit-Order-System gibt das teuerste Kraftwerk den Strompreis vor. Russlands Präsident Wladimir Putin kann über die Verknappung von Gasexporten in die EU den Gas- und damit auch den Strompreis in die Höhe treiben. Der jüngste Gaslieferstopp bei der wichtigsten Pipeline Nord Stream führte zusammen mit Spekulation auf weiter steigende Preise zu eplodierenden Gas- und Strompreisen.
Seit Herbst 2021 erlaubt die EU-Kommission den EU-Staaten Eingrife in den Strommarkt und hat auch schon Maßnahmen vorgeschlagen. Die meisten EU-Länder haben das auch genutzt, wie ein Strompreisdeckel in Frankreich, billiges Gas für die Stromproduktion in Portugal und Spanien oder Übergewinnsteuern in Italien, Griechenland und Großbritannien zeigen. Deutschland wiederum hat nicht direkt in den Markt eingegriffen, sondern einen Schutzschirm von 100 Milliarden Euro für Unternehmen im Energiesektor aufgespannt, die bei plötzlichen dramatischen Preissprüngen an den Energiebörsen gegebenenfalls kurzfristig sehr hohe zusätzliche Sicherheiten (sogenannte Margins) hinterlegen müssen. Auch Schweden beugt mit einem Schutzschirm einer Finanzkrise vor.
Weder Preisdämpfung noch Schutzschirm
Entweder der Staat geht durch Eingriffe das ursächliche Problem der Preisvolatilität an oder hilft den Unternehmen durch Schutzschirme. Nur Österreichs Bundesregierung hat bisher nichts getan. Wie man von EU-Insidern hört, hat sie sogar mit einigen anderen Ländern eine Reform des EU-Strommarktes in Richtung stärkerer Regulierung blockiert. Österreich hat also bisher weder eine Strompreisdämpfung noch einen Schutzschirm für Unternehmen, was jetzt die Wien Energie zu spüren bekam. Erst in der durch die stark gestiegenen Gas- und Strompreise ausgelösten Krise hat die Bundesregierung ihre neoliberale Position verlassen und unterstützt nun die von der SPÖ schon lange geforderte stärkere Regulierung des EU-Strommarktes.
Türkis-Grün argumentierte bisher, man solle nicht in den Markt eingreifen - in einen Markt wohlgemerkt, den beim Öl das Opec-Kartell, beim Gas der Beinahe-Monopolisten Russland und beim Strom oligopolistische Großkonzerne dominieren. Letzteren schaut der Regulator dabei zu, wie sie die Energiekunden mit überhöhten Netzgebühren und Verbrauchstarifen abzocken. Sogar der liberale deutsche Finanzminister Christian Lindner befürwortet staatliche Eingriffe in den Strommarkt: Sonst werde "die Inflation immer stärker durch eine Stromkrise angetrieben". Er kritisiert die stark gestiegenen Gewinne der Betreiber von Windrädern, Solaranlagen und Kohlekraftwerken, die aufgrund geltender Regeln automatisch so bezahlt werden, als hätten sie teures Gas gekauft: "Am Strommarkt hat die Politik einen Profit-Autopiloten eingerichtet. Die Gewinne steigen zu Lasten der Verbraucher Milliarde um Milliarde."
Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will mit einer Reform des Strommarktes die Prese für Verbraucher und Industrie dämpfen, indem die Endkundenpreise für Strom vom steigenden Gaspreis entkoppelt werden. Jetzt hat die deutsche Regierung einen Strompreisdeckel, finanziert durch eine Übergewinnsteuer, beschlossen.
Stromkonzerne, die sich wie die Wien Energie über die Börsen absichern, stehen am Pranger, weil durch den Preisanstieg kurzfristig sehr hohe zusätzliche Sicherheiten zu hinterlegen sind, die ihre Finanzkraft übersteigen, und in Österreich Preisdeckel oder Schutzschirme für sie fehlen. Die Zocker in den Over-the-Counter-Kasinos hingegen müssen diese Sicherheiten nicht aufbringen. Dort gibt es keine Frühwarninstrumente; einen Finanzbedarf merkt man erst, wenn Verluste entstanden sind. Die Zocker gehen dann recht plötzlich Pleite und müssen, wenn sie systemisch sind, vom Staat aufgefangen werden. Für eine Vergleichbarkeit sollten die Unternehmen verpflichtet werden, ihr Exposure im Over-the-Counter-Kasino zu veröffentlichen und jenen Finanzbedarf vorzuhalten, der entstanden wäre, wenn die jüngsten Preissprünge bei seriösen Geschäften an der Börse erfolgt wären - plus 30 Prozent Risikozuschlag, da ja das Over-the-Counter-Kasino riskanter ist als die Börse.
Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP), der in der "ZiB 2" für volle Transparenz plädiert hat, wird das in seinem Verantwortungsbereich beim Verbund sicher gerne umsetzen: Welche Derivativgeschäfte gibt es, was davon läuft seriös über die Börse, was im Over-the-Counter-Kasino, wie hoch wäre der Finanzbedarf, tragen diese Geschäfte zum Gewinn bei oder haben ihn Verluste im Derivativgeschäft verringert? Die Verbund-Aktionäre würde all dies sicher interessieren.
Österreichs Moral Hazard im Stromsektor
Der Tiroler Landesrat und ÖVP-Chef Anton Mattle will "nicht für Energieversorger im Osten bezahlen". Er dürfte nicht realisiert haben, dass es hier um Sicherheiten für Frühwarnsysteme an den Börsen geht, die eingerichtet wurden, um Verluste zu verhindern. Wir alle zahlen aber hohe Strompreise, zu denen seine Landesregierung durch die Blockade des Windkraftausbaus wesentlich beiträgt, weil eben teure Gaskraftwerke zur Stromproduktion eingesetzt werden müssen, was auch unsere Abhängigkeit von Gasimporten aus Russland verstärkt. Würden Tirol, Vorarlberg und Salzburg ihr Windkraftpotenzial so nutzen wie das Burgenland, könnten wir Gas in großem Ausmaß ersetzen und hätten damit einen wesentlich niedrigeren Strompreis bei einer geringeren Abhängigkeit von Russland. Mattle sollte übrigens auch bei der Tiwag, analog zum Verbund, die Derivativgeschäfte offenlegen.
Generell sollte die Bundesregierung die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Firmen dem Regulator ihre Derivativgeschäte im Over-the-Counter-Kasino samt Finanzbedarf, wenn diese Geschäfte alle seriös an der Börse gelaufen wären, mitteilen und quartalsweise auch veröffentlichen müssen, um den derzeitigen Moral Hazard im Stromsektor in Österreich zu beenden und Pleiten auch großer systemischer Energieunternehmen vorzubeugen.
Riesiges Exposure im Over-the-Counter-Kasino
Wegen der hohen Nachschusspflichten an den Börsen sind die Zocker in die unregulierten bilateralen Märkte ausgewichen, was die Liquidität an den Börsen verringert und die Preisausschläge verstärkt hat. In diesem Zusammenhang meinte der ehemalige Chef des Regulators E-Control, Walter Boltz, sinngemäß, sie würden sich statt an der Börse bilateral absichern, und hier gebe es keine Probleme. Wie kann man das Zocken im Over-the-Counter-Kasino als sicherer als die Börse mit ihren Absicherungsinstrumenten bezeichnen?
Finanzminister Brunner betonte unterdessen, nur die Wien Energie sei betroffen und andere Unternehmen hätten keine Probleme. Nun, er kann sicher beziffern, wie hoch der Finanzbedarf der heimischen Stromfirmen gewesen wäre, hätten sie alle ihre gesamten Derivativgeschäfte über die Börse abgewickelt. Sollten sie allerdings vieles über das Over-the-Counter-Kasino abgewickelt haben, hätte uns der Finanzminister falsch informiert, da die Risiken sehr wohl bestanden hätten, aber nicht offengelegt worden wären. Österreich hat hier zweifellos ein systemisches Problem mit einem riesigen Exposure der Firmen im Over-the-Counter-Kasino, das der Bundesregierung ebenso wenig bewusst zu sein scheint wie dem Regulator.
https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2160721-Ein-systemisches-Problem.html