Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«
ISBN: |
9783962383879 |
Verlag: |
oekom verlag |
Format: |
Taschenbuch |
Genre: |
Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft |
Umfang: |
256 Seiten |
Erscheinungsdatum: |
06.09.2022 |
Übersetzung: |
Rita Seuß |
Übersetzung: |
Club of Rome, Barbara Steckhan |
Preis: |
€ 25,70 |
Kurzbeschreibung des Verlags:
»Wohlstand innerhalb der Grenzen unseres Planeten ist möglich!« Jørgen Randers
1972 erschütterte ein Buch die Fortschrittsgläubigkeit der Welt: »Die Grenzen des Wachstums«. Der erste Bericht an den Club of Rome gilt seither als die einflussreichste Publikation zur drohenden Überlastung unseres Planeten. Zum 50-jährigen Jubiläum blicken renommierte Wissenschaftler*innen wie Jørgen Randers, Sandrine Dixson-Declève und Johan Rockström abermals in die Zukunft – und legen ein Genesungsprogramm für unsere krisengeschüttelte Welt vor.
Um den trägen »Tanker Erde« von seinem zerstörerischen Kurs abzubringen, verbinden sie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit innovativen Ideen für eine andere Wirtschaft. Der aktuelle Bericht an den Club of Rome liefert eine politische Gebrauchsanweisung für fünf wesentliche Handlungsfelder, in denen mit vergleichbar kleinen Weichenstellungen große Veränderungen erreicht werden können
- gegen die Armut im globalen Süden,
- gegen grassierende Ungleichheit,
- für eine regenerative und naturverträgliche Landwirtschaft,
- für eine umfassende Energiewende
- und für die Gleichstellung der Frauen.
Wer wissen will, wie sich eine gute Zukunft realisieren lässt, kommt an »Earth for All« nicht vorbei.
FALTER-Rezension:
Über eine Erde, wie wir sie nicht kennen wollen
Shu, Samiha, Carla und Ayotola: Sie alle wurden am selben Tag im August 2020 geboren. Samiha kam in einem Slum in Bangladesch zur Welt, Ayotola in einem Armenviertel im nigerianischen Lagos. Die Familien von Shu und Carla hingegen sind bessergestellt. Shu wächst in der chinesischen Stadt Changsha auf, Carla im kalifornischen Los Angeles. Wie es ihnen ergehen wird, wie alt sie werden – all das wird maßgeblich davon abhängen, um wie viel Grad die globale Durchschnittstemperatur steigen wird. Die vier Mädchen sind fiktive Figuren; Wissenschaftler:innen haben aber anhand zweier Klimaszenarien typische Lebenswege für sie nachgezeichnet. Nachzulesen sind diese im Buch „Earth for All“, dem neuen Bericht an den Club of Rome, der vor 50 Jahren mit „Die Grenzen des Wachstums“ aufrüttelte.
Die Klimabücher dieses Herbstes machen klar: Ein Zurück zu einem gemäßigten Klima gibt es nicht mehr, extreme Wetterereignisse werden weiter zunehmen. Jetzt geht es darum, ob die Menschheit dennoch einigermaßen gedeihlich weiterleben kann – oder ob die heutigen Kinder und Jugendlichen in einer Plus-drei-Grad-Welt werden leben müssen. „Eine Erde, wie wir sie nicht kennen wollen“, so Stefan Rahmstorf, einer der Leitautoren des vierten Sachstandsberichts des Weltklimarates (IPCC). Und, da sind sich die Autorinnen und Autoren der Bücher „Earth for All“, „Sturmnomaden“ und „3 Grad mehr“ einig: Herumreißen lasse sich das Ruder nur, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich kleiner wird. Die drei Bücher gehören zum Wichtigsten, das ein Mensch derzeit lesen kann.
„3 Grad mehr“ lautet der Titel des Sammelbandes von 19 Autoren, darunter die Klimaforscher Stephan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber sowie die Sozialforscherin Jutta Allmendinger. Aber warum sollen wir uns überhaupt ein Drei-Grad-Szenario ansehen, sehen doch die Pariser Klimaziele eine Erwärmung von 1,5, höchstens zwei Grad vor? Weil wir laut jüngstem Weltklimabericht bereits auf dem besten Weg in Richtung drei Grad plus sind.
Was das bedeutet, müssten die Menschen wissen, findet Herausgeber Klaus Wiegandt. Viel zu lange habe die Politik die Krise verharmlost, und so glaubten viele immer noch, es gehe „bloß“ um Eisbären und ein paar versinkende Inselchen. „Wüssten die Menschen, was den Enkelkindern bevorsteht, würde das keiner wollen“, sagte Wiegandt einmal: nämlich „eine Radikalisierung des Wettergeschehens“. Wüssten sie es, ist er sich sicher, würden sie eine völlig andere Politik einfordern.
Stakkatoartig zählt Stephan Rahmstorf auf, in welcher Welt seine Kinder, derzeit Gymnasiasten, da leben müssten – und mit ihnen rund vier Milliarden Menschen, die heute jünger als 20 Jahre alt sind. Drei Grad globale Erwärmung, das bedeutet für viele Landgebiete sechs Grad mehr, so auch für Deutschland und Österreich. „Damit wäre Berlin wärmer, als es Madrid heute ist.“ An den heißesten Tagen müssten die Deutschen dann um die 45 Grad ertragen. Rund um den Erdball würden sich „die während Hitzewellen tödlich heißen Gebiete massiv ausweiten“. Extremwetterereignisse nähmen überproportional zu. Starkregen, Dürreperioden, Tropenstürme – sie alle kämen öfter, würden heftiger und blieben länger.
Beim Meeresspiegel wäre schon ein Meter Anstieg „eine Katastrophe“, schreibt Rahmstorf: Weil an den Küstenlinien mehr als 130 Millionenstädte liegen, dazu Häfen, Flughäfen und 200 Kernkraftwerke. Bei drei Grad plus stiegen die Meere laut IPCC-Bericht jedenfalls um 70 Zentimeter. Erreicht allerdings das Grönlandeis seinen Kipppunkt und schmilzt komplett ab, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter. Auch weltweite Hungerkrisen befürchtet Rahmstorf. „Ich persönlich“, schließt er seinen furiosen Text, „halte eine 3-Grad-Welt für eine existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation“.
Was heißt eine solche Heißzeit nun für unsere vier Mädchen? In „Earth for All“ schaut sich der Club of Rome zwei Szenarien an. Das schlechtere, „Too little, too late“, erscheint gar nicht so pessimistisch. Da passiert bis 2050 durchaus einiges: Windräder und Fotovoltaikanlagen gehen in Betrieb, auch in Asien schließen die Kohlekraftwerke. Dennoch ist alles zu wenig und zu spät. Fossile Brennstoffe kommen immer noch zum Einsatz, die Menschen kleben an ihren Autos und essen viel zu viel rotes Fleisch. Insgesamt ist es mehr ein Durchlavieren. Kommt Ihnen bekannt vor?
Mithilfe aufwendiger Simulationsprogramme haben die Forscher errechnet, was das für die Temperaturen, die Weltbevölkerung, die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und vieles mehr bedeutet. Demnach überspringt die Erde mit „Too little, too late“ bereits 2050 die Zwei-Grad-Grenze.
In diesem Jahr sind unsere Mädchen 30 Jahre alt. Shu ist Wasserwirtschaftsingenieurin, häufige Überschwemmungen bedrohen Chinas Nahrungsmittelsicherheit. Carla zieht von Kalifornien in den Norden, hat jedoch das Gefühl, dass Brände und Hitze ihr folgen. In Bangladesch hat Samiha ihren Job in einer Kleiderfabrik verloren, weil die Küstenregion wegen der Flutkatastrophen allmählich aufgegeben wird. Ayotola lebt mit vier Kindern im Armenviertel, nur der Sohn wird zur Schule gehen können.
Noch weiter in die Zukunft geschaut, stirbt Carla mit 65 an Krebs. Samiha leidet im Slum unter Wasser- und Essensknappheit. Im nigerianischen Lagos mussten Ayotola und ihr Mann ihre Unterkunft wegen immer gefährlicherer Fluten aufgeben. Noch am besten geht es Shu, deren Kompetenzen im Hochwassermanagement sehr gefragt sind.
Wie realistisch solche Lebensläufe sind, hat Kira Vinke rund um den Erdball recherchiert. Die Leiterin des Zentrums für Klima und Außenpolitik der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hat zahlreiche Länder besucht, sie erzählt von Hirten im Sahel, von Fischern auf den Philippinen – und von der Flut im deutschen Ahrtal 2021.
Längst haben Millionen ihre Heimat verlassen, weil Taifune oder Dürren ihnen die Existenz raubten. Viele bleiben dabei innerhalb ihrer Herkunftsländer, so wie in Bangladesch: Im Korail-Slum in Dhaka trifft Vinke zwei junge Frauen, die aus dem Süden des Landes hierher kamen, weil ihre alte Heimat immer wieder überflutet wurde. Aber auch in ihren Hütten sind sie nicht sicher. „Binnen Minuten“, beschreibt Vinke einen Starkregen, „steigt das Wasser gefährlich hoch und schwappt langsam in die Hütte.“ So sei es hier eben, „es gibt keine richtige Kanalisation“, erklärt eine Frau. Vinke watet durch Dreck und Fäkalien. Die Menschen in den Slums werden nicht alt.
Und was jetzt?
„3 Grad mehr“ setzt vor allem auf „naturbasierte Lösungen“: Aufforstung, nachhaltige Holznutzung, Wiedervernässung der Moore, regenerative Landwirtschaft. Zum Wichtigsten aber gehöre der Schutz des Regenwaldes. Ein verbindliches Abkommen zum Stopp der Abholzung der Regenwälder innerhalb der nächsten Jahre könnte ein globales Aufbruchssignal ein, schreibt Wiegandt: Es würde die CO2-Emissionen so drastisch reduzieren, „als würde Europa bis spätestens 2026 klimaneutral“.
Doch all das braucht Investitionen, und dafür fordern alle drei Bücher eine Umverteilung. Die müsse sowohl vom globalen Norden in den Süden stattfinden als auch innerhalb der einzelnen Länder. „3 Grad mehr“ geht davon aus, dass zumindest zwei Prozent des Weltsozialprodukts nötig sein werden, „Earth for All“ schätzt zwei bis vier Prozent. Nichts, was nicht zu stemmen wäre, argumentieren sie.
Nun wird jenen, die den Kampf gegen die Klimakrise einfordern, ja gern vorgeworfen, sie wollten rein ideologisch motiviert auch gleich den sozialen Umsturz durchdrücken. Allerdings nennen die Forscher nachvollziehbare Argumente: Ärmere Länder können sich sonst keinen Klima- oder Waldschutz leisten. Und auch in den bessergestellten Ländern werden jene, die unverhältnismäßig unter den Kosten etwa der Energiewende leiden, protestieren und den Kurswechsel nicht mittragen. Ob in Europa oder den USA, in Afrika oder Südamerika: Eine zu große Vermögenskluft führt überall zu Destabilisierung und Aufständen, das Vertrauen in die Regierungen sinkt, autoritäre Populisten gelangen an die Macht.
Um das Geld für die nötigen Investitionen zu erhalten, schlagen Wiegandt & Co vor, sollen die Regierungen die Subventionen in fossile Energieträger streichen, Militärbudgets reduzieren und Steuerschlupflöcher schließen. Für Deutschland schweben ihnen vor allem die Finanztransaktions- und Erbschaftssteuer als Hebel vor. Ungerecht? Zwei Zahlen aus dem Buch: In Deutschland war 2015 das reichste Zehntel der Bevölkerung für mehr Emissionen verantwortlich als die gesamte ärmere Hälfte. Und: Bei drei Grad mehr werden die materiellen Schäden jährlich mindestens zehn Prozent des Weltsozialprodukts ausmachen, eher viel mehr. Da geht es auch den Allerreichsten nicht mehr gut.
In „Earth for All“ lautet die Lösung: „Giant Leap“, ein Riesensprung. Den reichsten zehn Prozent dürfe nicht mehr als 40 Prozent des jeweiligen Nationaleinkommens zustehen. Industrien müssen da für das Nutzen von Gemeingütern zahlen, das Geld daraus fließt auch hier in Bürgerfonds und Grundeinkommen. Die Forscher sehen fünf Hauptstrategien: extreme Armut bekämpfen, Ungleichheit und Gender-Gaps verringern, die Herstellung von Nahrungsmitteln und Energie revolutionieren. Damit würden sich die Temperaturen um 2050 bei unter zwei Grad stabilisieren.
Alle drei Bücher sind dicht, kein Spaziergang – jeder sollte aber ihre wesentlichsten Inhalte kennen, besonders Entscheidungsträger. Reizvoll an „Earth for All“ sind die Biografien der Mädchen. Dieses Buch und „3 Grad mehr“ bieten sowohl einen Gesamtüberblick als auch Spezialwissen zum Bauen oder zur Energiewende. Die meisten Menschen lernen wir bei Vinke kennen.
Und unsere Mädchen? Beim „Riesensprung“ können auch Samiha und Ayotola als Kinder in neue Wohnungen umziehen. Alle vier erhalten gute Ausbildungen, keine lebt in einem Armenviertel. Auch ein stabiles Klima kennt keine, extreme Wetterereignisse gehören zum Leben. Doch viel Leid wird mittlerweile gelindert, und die Gefahr eines eskalierenden Klimawandels ist nicht mehr so groß. Welches Szenario eintritt, das wird die Menschheit vor allem in der allernächsten Zukunft entscheiden: noch vor 2030.
Gerlinde Pölsler in Falter 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 32)
In dieser Rezension ebenfalls besprochen: