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Geschichte einer autoritären Versuchung

von Fabio Wolkenstein

Verlag: C.H.Beck
ISBN: 9783406782381
Umfang: 222 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 12.05.2022
Format Taschenbuch
Preis: € 17,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags

SÖDER, KURZ ODER ORBÁN - WOHIN STEUERT DIE EUROPÄISCHE CHRISTDEMOKRATIE?

In Ungarn wickelt Viktor Orbáns Fidesz-Partei gerade die Demo­kra­tie ab und be­ruft sich da­bei be­son­ders empha­tisch auf die christ­demo­kra­tische Tra­di­tion. Ein un­ge­höri­ger Affront, könnte man mei­nen. Aber wie ernst war es christ­demo­kra­ti­schen Par­teien in der Ver­gan­gen­heit eigent­lich mit der libe­ra­len Demo­kra­tie?
Nach Ende des Zweiten Welt­kriegs fei­er­te die Christ­demo­kra­tie in Eu­ro­pa ihren Sieges­zug. Da­bei setz­ten sich be­son­nene Staats­män­ner wie Kon­rad Ade­nauer, Alcide de Gas­peri oder Robert Schuman auf einem vor­mals von Krieg und Gewalt ge­präg­ten Kon­ti­nent nach­drück­lich für Frie­den, Wie­der­auf­bau und Sta­bi­li­tät ein. Dennoch hatte die Christ­demo­kra­tie im Nach­kriegs­eu­ro­pa auch eine dunkle Seite: Der auto­ri­täre Geist des reak­tio­nären poli­ti­schen Katho­li­zis­mus wirkte in ihr wei­ter, was sich etwa an der un­ver­hoh­le­nen Be­wun­de­rung vie­ler Christ­demo­kra­ten für Dik­ta­to­ren wie Franco und Salazar oder einem an­ge­spannten Ver­hält­nis zur frei­en Pres­se und den Ins­ti­tutio­nen der libe­ra­len Demo­kra­tie offen­barte. Durch die schritt­weise Ab­kehr von kon­ser­va­ti­ven Posi­tio­nen – in Deutsch­land vor al­lem in der Ära Kohl voll­zogen – er­fuhr die Christ­demo­kra­tie schließ­lich einen nach­hal­ti­gen Demo­kra­ti­sierungs­schub. Aller­dings war der Preis da­für eine ideo­lo­gi­sche Ent­ker­nung. Fabio Wolken­stein blickt in seinem Buch auf die lange und wechsel­volle Ge­schich­te der Christ­demo­kra­tie in Eu­ro­pa zu­rück und fragt, wel­chen autori­tä­ren Ver­suchungen sie wider­stan­den, aber auch wel­chen sie nach­ge­ge­ben hat. Da­bei spannt er einen wei­ten Bo­gen bis zur Gegen­wart: Wel­che Stra­te­gien des Macht­er­halts wäh­len christ­demo­kra­tische Par­teien heute?

Lupenreine Demokraten? Das ambi­va­lente Ver­hält­nis der euro­päi­schen Christ­demo­kratie zum rech­ten Rand

Welche Strategie wird sich in den kommenden Jahren in der Union durch­setzen?
 

FALTER-Rezension

Die autoritäre Versuchung der Christ­demo­kratien

Religion, die Dominanz des katholischen Christen­tums und die macht­volle Ver­bin­dung von staat­licher und reli­gi­öser Herr­schaft, war in Euro­pa ein zen­tra­ler Fak­tor bei der Heraus­bil­dung der po­li­ti­schen Par­teien­sys­teme. Die Gegen­spieler der Christ­demo­kra­tien, die sozial­demo­kra­ti­schen Par­teien, ver­lang­ten Säku­lari­sierung und insti­tutio­nelle Tren­nung von Kirche und Staat. Die Christ­demo­kra­tie ver­stand sich nicht als Vor­rei­terin in Sachen indi­vi­duel­ler Frei­heit und Emanzi­pa­tion, sie stand viel­mehr für un­glei­che Ge­sell­schafts­vor­stel­lungen, für hierar­chi­sche Fami­lien-und Ge­schlechter­be­ziehungen. Um sym­bo­lisch mit dem poli­ti­schen Katho­li­zis­mus der Christ­lich-So­zia­len Par­tei der Zwi­schen­kriegs­zeit zu brechen, mied in Öster­reich im Jahre 1945 die ÖVP zwar das C im Par­tei­namen, die ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Posi­tio­nen blie­ben aber über Jahr­zehnte dem reak­tio­nä­ren Welt­bild ver­haf­tet. Den­noch, schreibt Fabio Wolken­stein in sei­nem neuen Buch, feier­ten nach 1945 die christ­demo­kra­ti­schen Par­teien an den Wahl­ur­nen und in den Macht­zen­tra­len zahl­rei­che Sieges­züge.
Wolkenstein widmet sich den christ­demo­kra­ti­schen Par­teien und ihrem Ver­hält­nis zur libe­ra­len Demo­kra­tie. Genauer gesagt: Das Buch be­schäf­tigt sich mit einem Partei­en­typus, der sich als christ­demo­kra­tisch ver­steht bzw. so ver­stan­den wer­den will, ohne je­doch not­wen­di­ger­weise auch die christ­liche Sozial­lehre zu ver­inner­lichen. Die funk­tio­nale Di­men­sion des Chris­ten­tums über­la­gert bei zahl­rei­chen Par­teien die sub­stan­zielle.

Der Buchtitel "Die dunkle Seite der Christ­demo­kratie" legt eine Art Ab­rech­nung mit den demo­­kra­tie­­poli­­tisch heikl­en Sei­ten nahe. Diese Er­war­tung wird nicht ganz er­füllt. Wolken­stein setzt seine Ana­lyse zwar in den Rah­men der Ge­schichte einer auto­ri­tä­ren Ver­su­chung. Kon­kret wer­den so­wohl ver­gan­gene als auch aktu­elle Ent­wick­lungen in euro­pä­ischen Län­dern in den Blick ge­nom­men, die nicht zu­letzt mit Re­ferenz auf christ­li­che Wer­te und Tradi­tion­en da­bei sind, wesent­liche Ele­men­te der libe­ralen Demo­kra­tie zum Ein­sturz zu brin­gen. Ungarn ist das illustrative Beispiel. Die Erkenntniskraft des Buches liegt aber in der Wechselhaftigkeit einer Longue durée. Die europäische Christ­demo­kra­tie ent­wickelte und prak­ti­zierte ihre dunk­len Sei­ten, sie er­fuhr und er­mög­lichte aber auch Re­form und Demo­­kra­­ti­­sierungs­­schübe. Das euro­pä­ische Pro­jekt gilt als das visio­näre Pro­jekt der "Väter" der Christ­demo­kratie.

Das Buch wählt den Zugang auf die demo­kra­ti­schen und auto­ri­tären Ver­su­chungen über die "großen" männ­li­chen Re­prä­sen­tan­ten der euro­pä­ischen Christ­demo­kratie -und tat­säch­lich spiel­ten, ab­ge­sehen von Angela Merkel, Frauen an vor­ders­ter Front kaum eine Rol­le. Die nicht sel­ten be­wun­dern­den Posi­tio­nen und Par­teinahmen für auto­ri­tä­re Re­gime und deren Dik­ta­toren (z.B. Franco) unter­mauern die demo­kra­tie­poli­tisch problema­tische Aus­rich­tung.
Die sozial-und politik­wissen­schaft­liche For­schung zeigte bis­lang wenig Inter­esse an der Christ­demo­kra­tie. Die Bücher­regale sind viel mehr ge­füllt mit Lite­ra­tur zu Popu­lis­mus, kon­ser­va­tive Par­teien kom­men da­bei als ver­stär­kende und nor­ma­li­sie­rende Kräfte in den Blick. Das an­ge­spannte Ver­hält­nis zu Demo­kra­tie, Plu­ra­lis­mus und indi­vi­duel­len Rechten wurde bis­lang kaum sys­te­ma­tisch unter­sucht. Das vor­lie­gende Buch füllt die­ses Vaku­um. Elo­quent ge­schrie­ben, be­leuch­tet es die Span­nungs­li­nien zwi­schen Demo­kratie­ent­wicklung und Demo­kratie­ge­fähr­dung - wo­bei Letz­teres hier und heute die be­son­dere Auf­merk­sam­keit ver­dient.

Sieglinde Rosenberger in Falter 25/2022 vom 24.06.2022 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Tuesday, June 28, 2022 12:07:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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