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100 Karten, um die nächsten 100 Jahre zu überleben

von Ian Goldin , Robert Muggah

ISBN: 9783832199999
Verlag: DuMont Buchverlag/td>
Format: Hardcover
Genre: Reisen/Karten, Stadtpläne, Atlanten
Umfang: 512 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.07.2021
Übersetzung: Tobias Rothenbücher
Preis: € 46,30

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das Leben auf unserer Welt hat sich in den letzten Jahr­zehnten deut­lich ver­än­dert, 2020 be­son­ders weit­rei­chend, und viele Um­brüche kom­men noch auf uns zu. Unsere ge­wohn­ten Land­karten, so­wohl die im Kopf als auch die phy­si­schen, sind nicht mehr zweck­dien­lich. Nicht die Auf­glie­de­rung in Staats­ge­biete, son­dern die Dar­stel­lung von grenz­über­schrei­ten­den As­pek­ten wird die Zu­kunft der Kar­to­gra­fie be­stim­men und für das ge­mein­same Han­deln nütz­lich sein. Auf der Grund­lage jahr­zehnte­lan­ger For­schung kom­bi­nie­ren Ian Goldin und Robert Muggah Sa­tel­li­ten­bil­der und Pro­jek­ti­onen mit ihren auf­schluss­rei­chen Ana­ly­sen. Sie offen­baren vie­le tief­grei­fende Un­gleich­hei­ten, die für die Men­schheit es­sen­ziell wer­den, wenn die großen The­en wie z. B. Glo­ba­li­sie­rung, Kli­ma, Ver­städte­rung, Geo­poli­tik, Mi­gra­tion, Er­näh­rung und Bil­dung nicht an­ge­gan­gen werden.
Der ›Atlas der Zukunft‹ er­mög­licht einen um­fas­sen­den Blick auf glo­ba­le Trends, die unsere Welt neu ge­stal­ten. Dieses Buch bietet eine Aus­sicht nicht nur auf die Heraus­for­de­run­gen, vor de­nen wir ste­hen, son­dern auch da­rauf, wie wir sie mit den rich­ti­gen Da­ten und In­for­ma­tio­nen in den Griff be­kom­men können.

FALTER-Rezension:

"Die Entscheidung übers Klima fällt im Amazonas"

Es sind schier unglaubliche Dimen­sionen: Der größte tro­pi­sche Regen­wald der Welt, der Ama­zo­nas, er­streckt sich über acht Län­der, be­her­bergt 60 Pro­zent der Tropen­wälder der Welt, 20 Pro­zent aller Süß­was­ser­re­ser­ven und zehn Pro­zent der ge­sam­ten Bio­di­ver­si­tät. Wie kann man diese Viel­falt schützen und gleich­zei­tig von den ge­wal­ti­gen Res­sour­cen pro­fi­tie­ren, die ein sol­cher Ort lie­fert? Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler, Autor und Grün­der des bra­si­lia­ni­schen Think­tanks "Igarapé Institute" Ro­bert Muggah ist für das Hu­ma­ni­ties Fes­ti­val des Insti­tuts für die Wis­sen­schaf­ten vom Men­schen in Wien. Dort spricht er über das Po­ten­tial von Bio­öko­no­mie und die Be­deu­tung des Ama­zo­nas für uns alle. Der Fal­ter hat ihn im Vor­feld ge­trof­fen.
Falter: Herr Muggah, Sie ha­ben in den letz­ten Jah­ren an allen mög­li­chen The­men ge­ar­bei­tet, von Städte­wachs­tum bis hin zu Sicher­heits­fragen. Warum kon­zen­trie­ren Sie sich jetzt auf den Ama­zonas?

Robert Muggah: Ich habe versucht, glo­bale Mega­trends zu ver­stehen, und mei­nen Fokus für mein Buch "Atlas der Zu­kunft" auf jene ge­legt, die un­auf­halt­sam sind, wie die di­gi­tale Trans­for­ma­tion und den Klima­wandel. Ich lebte ge­rade in Bra­si­lien und beim Schrei­ben wurde mir klar, dass viele die­ser Trends im Ama­zo­nas zu­sam­men­lau­fen. Er ist grund­le­gend mit der Glo­ba­li­sie­rung ver­bun­den. Wir fin­den dort sel­tene Erden wie Nickel, Li­thium, Gold, aber auch große An­bau­ge­biete für Soja, Rin­der, Zucker, Holz. Wir se­hen, dass die Leute den Ama­zo­nas als die­ses rie­sige, un­be­rühr­te Ge­biet be­trach­ten, aber tat­säch­lich ist er seit Tau­sen­den von Jah­ren be­wohnt. Die Mi­gra­tion nimmt zu, weil die Jagd nach Res­sour­cen zu­nimmt. Da­durch wurde vor allem Bra­si­lien auch zu einem der ge­walt­tä­tig­sten Orte der Welt.

Wie groß ist die ökologische Bedeutung des Amazonas?

Muggah: Er reguliert das globale Klima mit. Um das in Per­spek­ti­ve zu rücken: Der Ama­zo­nas ist rie­sig, sie­ben Mil­lio­nen Qua­drat­kilo­meter groß, Öster­reich hätte 80 Mal Platz. Er lie­fert enorm viel Sauer­stoff und spei­chert enorm viel Kohlen­stoff. Heu­te stehen wir aber vor einem so­ge­nann­ten "dieback" - Wald­ster­ben auf­grund von Hitze­stress, Trocken­heit und der fort­schrei­ten­den Ent­wal­dung. Und sind da­durch nah an einem ge­wal­ti­gen Wende­punkt: Die größte Kohlen­stoff­senke der Welt könnte zu einem der größ­ten Kohlen­stoff­emit­ten­ten wer­den. Die Wis­sen­schaft­ler Carlos Norbe und Thomas Lovejoy be­rech­neten, dass der Ama­zo­nas kip­pen könnte, so­bald 20 bis 25 Pro­zent der Wald­fläche ver­lo­ren ge­gan­gen sind. Heute pos­tu­lie­ren Wis­sen­schaft­ler, dass be­reits 18 Prozent ab­ge­holzt wur­den. Mit an­de­ren Wor­ten: Wir sind nur ein paar Pro­zent­punk­te von einem Ka­ta­s­t­ro­phen­sze­na­rio ent­fernt. Man­che Teile im Sü­den dürf­ten schon ge­kippt sein, sie pro­du­zie­ren jetzt Kohlen­stoff und sind im Über­gang zu einer Sa­van­ne. Die etwas bes­sere Nach­richt ist, dass der west­li­che Ama­zo­nas noch in­tak­ter zu sein scheint und Po­ten­zial zur Re­si­lienz zeigt, wider­stands­fähig ist.

Was bedeutet das für jemanden außerhalb des Ama­zo­nas­becken, je­manden in Öster­reich?

Muggah: Was im Amazonas passiert, bleibt nicht im Ama­zo­nas. Der Zu­sam­men­bruch wäre nicht nur für die lo­ka­len Öko­sys­teme ka­tas­tro­phal, son­dern auch für die glo­bale Erd­er­wär­mung. Wenn sich Tro­pen­wald in Sa­vanne ver­wan­delt, ver­län­gern sich Trocken­zei­ten, Nieder­schläge nehmen ab. Der Ama­zo­nas würde dann bis zu 90 Mil­liar­den Ton­nen Kohlen­stoff aus­spucken. Das ent­spricht den Emis­sio­nen der ge­sam­ten Welt­be­völ­ke­rung in sie­ben Jahren. Wenn das pas­siert, än­dern sich auch glo­ba­le Wet­ter­mus­ter, Stoff­kreis­läu­fe, Meeres­strö­mun­gen. Denn der Ama­zo­nas setzt auch eine enorme Menge Was­ser­dampf frei, wir nen­nen das flie­gen­de Flüs­se. Mil­liar­den Ton­nen Was­ser, die Re­gen­zei­ten füt­tern und Flüsse auf­füllen.

Wie schnell könnte der Wald kippen?

Muggah: Wir wissen es nicht genau, nur dass es da­durch zu Wel­len­ef­fek­ten kommt, die das Pari­ser Ab­kommen tor­pe­die­ren. Unter dem bra­si­lia­ni­schen Prä­si­den­ten Jair Bol­so­na­ro, der 2018 ge­wählt wurde, ha­ben wir eine Be­schleu­ni­gung der Ent­wal­dung ge­sehen. Wenn er die zwei­te Amts­zeit ge­winnt, ha­ben wir eine sehr be­grenz­te Chance, die­ses Ab­ster­ben rück­gän­gig zu ma­chen. Wenn sein Geg­ner Luiz Inácio Lula da Silva ge­winnt, sieht es bes­ser aus.

Sie sagen in einem TED-Vortrag, dass 95 Prozent der Ent­wal­dung im Ama­zo­nas il­legal pas­siert. Wer steckt da­hin­ter und mit wel­chen Mo­ti­ven?

Muggah: Zwischen 30 und 35 Millionen Menschen leben im Ama­zo­nas. Nach­kom­men von Euro­päern, die wäh­rend der Kolo­nial­zeit kamen, hun­der­te von in­di­ge­nen Grup­pen, man­che von ihnen un­kon­tak­tiert, afro­bra­si­lia­nische Ge­mein­schaf­ten, die ver­sklavt wur­den, um Gummi zu zap­fen oder Kaf­fee zu pro­du­zie­ren. Viele wur­den ge­zwun­gen, hier­her zu mi­grie­ren, pa­ral­lel zu einem welt­weit wach­sen­den Ap­petit auf Roh­stoffe. Frü­her war das Kaut­schuk, heute ist Bra­si­lien eine Agro­super­macht und ein Berg­bau­gi­gant. Es geht also nicht nur um Ein­hei­mische, die Bäume fäl­len, um Platz für Dör­fer zu machen, son­dern um rie­sige Unter­nehmen. Die­ses Jahr haben wir die höchste Ent­wal­dungs­rate seit 15 Jah­ren ge­sehen: 13.000 Qua­dra­tkilo­meter, etwa ein Fünf­tel der Fläche Öster­reichs. Und die Ent­wal­dung hat seit Bol­so­na­ros Amts­an­tritt um 70 Pro­zent zu­ge­nom­men. Die Haupt­ur­sache ist Land­raub, der Bo­den ist mehr wert, wenn er ab­ge­holzt ist. Da­nach wird kaum ge­fahn­det, es gibt also kaum An­reize, das legal zu tun. Zwei­tens zah­len große land­wirt­schaft­liche Er­zeu­ger Land­be­sit­zern für den Zu­gang zu Land, um­gehen so die Ge­setze. Da­zu kommt il­le­ga­les Schür­fen nach Gold, für das oft Flüs­se mit Queck­sil­ber ver­gif­tet wer­den.

Aber wie kann es sein, dass so viel davon illegal pas­siert? Den Groß­teil der Pro­dukte, von denen Sie spre­chen, im­por­tie­ren EU-Staaten täg­lich.

Muggah: Die Rohstoffe werden am Schluss einer langen il­le­galen Kette in le­gale Liefer­ket­ten ein­ge­spült. In­ves­toren zah­en Leute, um das Land zu ko­lo­nia­li­sie­ren; kor­rup­te Mak­ler lie­fern Li­zen­zen; die Poli­zei wird Kom­pli­ze bei der Zu­las­sung; und am Ende stehen Händ­ler und Käu­fer. Es ist also nicht ein ein­zel­ner Ma­fio­so, es ist eine stark ver­teil­te, de­zen­tra­li­sier­te und weit ver­brei­tete Krimi­na­li­tät mit Bra­si­lien als Ort, wo all das zu­sam­men­kommt.

Wie sehr hat Jair Bolsonaro diese illegale Abholzung in diesem Um­fang über­haupt erst mög­lich ge­macht?

Muggah: Bolsonaro ist der Sohn eines Gold­wäschers, hat sei­nen Wahl­kampf mit Anti-Um­welt-Themen be­strit­ten. Er leug­net nicht nur die Exis­tenz des Klima­wan­dels, er führt Krieg ge­gen die Natur. Ak­ti­vis­ten ha­ben ihm be­reits Öko­zid und so­gar Völker­mord vor­ge­wor­fen. Bol­so­na­ro hat seit sei­nem Amts­an­tritt sys­te­ma­tisch Schutz­ge­biete und indi­gene Ter­ri­to­rien ab­ge­baut. Er hat Leu­ten Am­nes­tie ge­ge­ben, denen il­le­ga­le Ab­hol­zung oder Berg­bau vor­ge­wor­fen wird. Er be­schützt die Garimpeiros, il­le­gale Gold­sucher, die seine po­li­ti­sche Basis bil­den. Er hat Be­hör­den ent­mach­tet, die Um­welt­ver­bre­chen ahnden, in­klu­sive IBAMA, die größte Um­welt­schutz­be­hörde Bra­si­liens. Er hat Kam­pag­nen ge­gen Um­welt­schützer und in­di­ge­ne Ak­ti­vis­ten hoch­ge­fahren, was Bra­si­lien mittler­weile zu einem der ge­fähr­lichs­ten Län­der der Welt macht. Und - das ist fast am schlimmsten - er hat ein Klima für Bauern und Vieh­züch­ter ge­schaf­fen, um un­ge­straft zu han­deln. Brand­ro­dung hat da­durch ein ganz neues Level er­reicht. All das hat auch Kon­se­quen­zen im Aus­land: Nor­wegen und Deutsch­land ha­ben die Fi­nan­zie­rung des Ama­zo­nas-Fonds be­endet, ein mil­liar­den­schwe­rer Wie­der­auf­fors­tungs­topf. Es ist eine Art Blitz­krieg der Richt­linien und Ge­setze.

Am 2. Oktober wählt Brasilien eine neue Regierung. Falls Bol­so­na­ro ge­hen muss: Wie könnte der Scha­den rück­gän­gig ge­macht werden?

Muggah: Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die­se Wahl über das Schick­sal des Ama­zonas­beckens ent­schei­det. Laut ak­tu­el­len Um­fra­gen liegt Lula vor Bol­so­na­ro. Er hat be­reits Net­to-Null-Ent­wal­dung ver­spro­chen, und grüne Agrar­kre­di­te ein­zu­führen, um An­reize für nach­hal­tige Prak­ti­ken zu schaf­fen. Aber wa­rum sollten wir ihm glau­ben? Zwi­schen 2003 und 2010, als er Prä­si­dent war, ging die Ent­wal­dung um mehr als 84 Pro­zent zu­rück. Auch wenn man da­zu­sa­gen muss, dass selbst in die­sem Sys­tem nur drei Pro­zent der Buß­gel­der für ille­ga­le Ab­hol­zung ge­zahlt wur­den. Er hat rie­sige Schutz­ge­biete ge­schaf­fen, auch für die in­di­ge­ne Be­völ­ke­rung. Er er­mu­ti­gte Land­be­sitzer, ihr Land zu re­gis­trie­ren, da­vor gab es eine Menge Streit um Eigen­tum. Er hat die Wis­sen­schaft ge­stärkt, die il­le­ga­le Ab­hol­zung moni­to­ren konnte, Natio­nal­parks an­ge­legt und einen Öko­touris­mus-Boom ge­star­tet.

In einem Ihrer Projekte verwenden Sie Satellitendaten, um die Folgen dieser Um­welt­zer­stö­rung bes­ser zu ver­folgen. Was könnte sich da­durch än­dern?

Muggah: In den letzten Jahren ist der Zu­gang zu Techno­lo­gien ex­plo­diert. Da­durch haben sich auch Trans­pa­renz und Rechen­schafts­pflicht in Be­zug auf Krimi­na­li­tät und Ent­wal­dung ver­bes­sert. In Bra­si­lien haben wir ein Sys­tem ein­ge­rich­tet, um Wäl­der nahe­zu in Echt­zeit zu über­wachen. Wir ver­wen­den Satel­liten­daten der bra­si­liani­schen Wis­sen­schafts­agen­tur, aber auch aus pri­vaten Quellen, in einer Auf­lö­sung, die es bis­her nicht ge­ge­ben hat. Wir zei­gen nicht nur, dass ent­wal­det wird, son­dern auch, auf wel­che Weise. Das kom­bi­nieren wir mit Infos zu Ver­brechen. So kön­nen wir ver­stehen, wo die Hot­spots der Il­le­ga­li­tät sind. Wir wol­len Trans­pa­renz schaf­fen, für Medien, aber vor allem auch für die Fi­nanz­branche, den Roh­stoff­sek­tor. Zu lange konnten wir uns auf ge­wisse Weise vor der Rea­li­tät im Ama­zo­nas ver­stecken. Aber die Krimi­na­li­tät, der feh­lende Natur­schutz, kann nicht län­ger igno­riert wer­den.

Die EU ist für 16 Prozent der globalen Entwaldung ver­ant­wortlich. Das EU-Par­la­ment hat vor zwei Wo­chen für ein Ge­setz ge­stimmt, das die­sen Pro­zess ein­däm­men soll. Wie sehr könnte das das Pro­blem im Ama­zo­nas lösen?

Muggah: Das ist vielleicht der Lichtblick in dieser düsteren Ge­schichte. Die Be­mü­hungen der EU sind wich­tig. Das neue Anti-Ent­waldungs­ge­setz würde Pro­dukte ver­bieten, die mit der Zer­stö­rung von Wäl­dern oder Men­schen­rechts­ver­letzungen ver­bunden sind. Unter­nehmen müs­sen also Rechen­schaft ab­legen. Wir kön­nen hof­fen, dass der so­ge­nannte Brüs­sel-Effekt ein­tritt, sich die Ge­setz­ge­bung der EU also auf das Ver­hal­ten ande­rer Märkte aus­wirkt. Es sind Schrit­te in die rich­tige Rich­tung, aber wir müs­sen sicher­stel­len, dass all das in einer Ge­schwin­dig­keit er­folgt, die an­ge­sichts der Dring­lich­keit der Krise er­for­der­lich ist.

Wer kann hier Druck erzeugen?

Muggah: Am wichtigsten sind die Menschen in den Regionen selbst. Wir hö­ren im­mer mehr in­di­ge­ne Stim­men, Wis­sen­schaft­ler. Wir se­hen Wirt­schafts­führer, die Koa­li­tio­nen bil­den und in nach­hal­tige Forst­wirt­schaft in­ves­tie­ren. Selbst die Welt­bank unter­stützt eine Art Clus­ter grü­ner Fonds und ver­sucht, natur­freund­li­che In­ves­ti­tio­nen zu be­schleu­ni­gen. Wir se­hen, dass große Unter­nehmen - auch wenn ich hier zu Vor­sicht mahne - wie Black­Rock oder JBS, der größte Fleisch­pro­du­zent der Welt, be­gin­nen, in Wieder­auf­fors­tung und CO2 Aus­glei­che zu in­ves­tie­ren. Wir se­hen lo­ka­le Poli­ti­ker, die Al­li­an­zen schmie­den. Und auch Re­gie­run­gen, etwa in Ko­lum­bien unter dem Prä­si­den­ten Gustavo Petro, spre­chen sich stär­ker für den Schutz des Ama­zo­nas aus. Wir brau­chen aber kein perio­di­sches Fahnen­schwin­gen, wir brau­chen einen ste­ti­gen Trom­mel­schlag.

Sie setzen viel Hoffnung auf eine grüne Wirtschaft. Wie können wir Green­washing ver­meiden?

Muggah: Es ist eine enorme Menge an Geld für In­ves­ti­tio­nen in die­sem Be­reich im Um­lauf, der grüne An­sturm auf Kohlen­stoff und Bio­di­ver­si­täts­gut­schrif­ten, also im We­sent­li­chen der Er­halt von Wäl­dern ge­gen Be­zahlung. Und es gibt eine De­bat­te über die Rea­li­sier­bar­keit, die Ef­fek­ti­vi­tät da­von. Da muss man auf­pas­sen. Aber wir hat­ten lange eine Dicho­tomie zwi­schen Er­hal­tung und Ent­wick­lung in der Re­gion. Es gibt Pu­ris­ten, die glau­ben, dass Wäl­der in­takt blei­ben müs­sen, frei von Men­schen und ihren Inter­ven­tio­en. Und es gibt eine an­dere Grup­pe, die sagt: Wald muss auf dem Al­tar der Ent­wick­lung ge­opfert wer­den. Die Ant­wort liegt irgend­wo in der Mit­te. Wir müs­sen eine Neu­be­wer­tung vor­nehmen und ver­stehen, wel­ches Po­ten­zial nach­hal­tige Wald­wirt­schaft hat. Eine Grup­pe von Ex­per­ten spricht von "Ama­zo­nas 4.0". Eine Wald­wirt­schaft, in der man schnell wie­der auf­fors­ten kann und gleich­zei­tig die außer­ge­wöhn­liche Bio­di­ver­si­tät schätzt - von Nüs­sen und Beeren über die Basis für Kos­me­ti­ka, Bio­techno­lo­gie und bis zu pharma­zeu­ti­schen Pro­duk­ten. Auch hier be­steht die Ge­fahr des Green­washings. Des­halb ist es ja so wich­tig, Rechen­schafts­pflicht und Trans­pa­renz in die­sen Pro­zess zu brin­gen.

Nehmen wir an, Lula gewinnt die Wahl, der Ama­zo­nas wird mehr ge­schützt, die Finanz­märkte schwin­gen um. Ist es wirk­lich so ein­fach, be­reits ab­ge­holzte Ge­biete auf­zu­fors­ten und die Kom­plexi­tät der Bio­di­versi­tät, die es da­vor dort gab, wieder­her­zu­stellen?

Muggah: Die einfache Antwort auf diese Frage ist, dass wir es ver­su­chen müs­sen. Wir haben keine Alter­na­tive, wenn wir ein regio­na­les und glo­ba­les Kli­ma haben wol­len, in dem es sich zu leben lohnt. Laut der Wis­sen­schaft bleibt uns ein Jahr­zehnt, um damit zu be­gin­nen, die Ent­wal­dung auf null zu brin­gen. Oder wir wer­den Rück­kopplungs­schlei­fen se­hen und kön­nen uns vom Pari­ser Klima­ab­kom­men ver­ab­schie­den.

So wie Sie das schildern, steht gerade alles auf dem Spiel.

Muggah: Es ist das Außergewöhnliche unserer Zeit: Zu 99 Pro­zent der 300.000-jäh­rigen Ge­schich­te als Homo sapiens hat­ten wir keine Ahnung, was um uns herum pas­sier­te. Wir wis­sen heu­te nicht nur über die letz­ten 300 Jahre Be­scheid, son­dern ha­ben auch ein gu­tes Ge­spür für Lö­sun­gen, die die Zu­kunft be­tref­fen. Gleich­zei­tig ha­ben wir nur zehn bis 30 Jahre Zeit, um kri­ti­sche Pfade ein­zu­len­ken. Es ist ein furcht­er­re­gen­der Mo­ment, um am Le­ben zu sein, aber auch ein wirk­lich er­staun­licher. Die Ent­schei­dung über unser glo­ba­les Klima­sys­tem fällt hier im Ama­zo­nas.

Welche Rolle spielen indigene Völker in der Bewäl­ti­gung dieser Krisen?

Muggah: Allein in Brasilien leben mindestens 300 indi­gene Ge­mein­schaf­ten, hun­derte wei­tere in Peru, Ko­lum­bien und den an­de­ren Ama­zonas­län­dern. Viele von ihnen setzen sich in­ten­siv für den Schutz der Wäl­der ein. Aber sie ge­hören auch zu den­jeni­gen, die am an­fäl­ligs­ten für die Über­grif­fe der Agrar­unter­nehmen, Berg­bau­kon­zerne oder Wild­tier­händ­ler sind. Morde an Um­welt­schüt­zern, Ein­schüchte­rungen, Be­läs­ti­gungen sind sprung­haft an­ge­stiegen.

Erst im Sommer wurden der Indigenen-Experte Bruno Pereira und der Guardian-Jour­na­list Dom Philipps er­mordet.

Muggah: Dom Philipps war ein guter Freund von mir. Es gibt Dutzende wei­tere Fälle. Bra­si­lien ist der­zeit das viert­ge­fähr­lichste Land der Welt für Um­welt­akti­vis­ten. Mein Insti­tut ver­sucht des­halb auch, direkt mit in­di­ge­nen Frauen­netz­wer­ken zu­sam­men­zu­ar­bei­ten, ihnen zu hel­fen, die Be­dro­hungen und Ri­si­ken zu do­ku­men­tie­ren, denen sie aus­ge­setzt sind.

Wie sieht es mit dem indigenen Wissen darüber aus, wie man diese Gebiete bewahrt, wieder aufforstet?

Muggah: Wir kennen nur etwa ein Prozent der Bio­di­ver­si­tät des Ama­zo­nas. Wenn Sie Zeit mit in­di­ge­nen Ge­mein­schaf­ten ver­brin­gen, mer­ken Sie, wie viel sie über ihre Um­welt wis­sen. Wir sollten in­di­ge­ne Ge­mein­schaf­ten des­halb nicht nur als Opfer, son­dern auch als wich­ti­ge Agen­ten in der Trans­for­ma­tion des Ama­zo­nas se­hen. Sie se­hen ihre Um­welt als inte­grier­tes Gan­zes, ern­ten nur das, was sie brau­chen. Und es gibt das Ver­ständ­nis, an meh­re­re zu­künf­tige Gene­ratio­nen zu den­ken. Die­ses Be­wusst­sein wird auch glo­bal im­mer wich­ti­ger: Wir müs­sen die Zu­kunft des Pla­ne­ten nicht nur für un­sere Kin­der, son­dern viele Gene­ra­tio­nen da­rü­ber hi­naus si­chern.

Katharina Kropshofer in Falter 39/2022 vom 30.09.2022 (S. 50)

Posted by Wilfried Allé Sunday, October 2, 2022 10:22:00 AM Categories: Atlanten Reisen/Karten Stadtpläne
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