von Armin Thurnher
ISBN: |
9783552072787 |
Verlag: |
Zsolnay, Paul |
Format: |
Taschenbuch |
Genre: |
Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft |
Umfang: |
128 Seiten |
Erscheinungsdatum: |
20.03.2023 |
Sammlung: |
Armin Thurnhers Bücher |
Preis: |
€ 19,60 |
Kurzbeschreibung des Verlags:
Armin Thurnher, „einer der scharfsinnigsten Analytiker österreichischer Politik“ (NZZ) über die Politik Österreichs, von Sebastian Kurz über Korruption zum Weltuntergang
„Die Welt steht auf kan Fall mehr lang“, heißt es in Nestroys berühmtem „Kometenlied“. Vieles von dem, was einst zum festen Bestand demokratischer Selbstverständlichkeiten zählte, scheint abgeschafft zu werden. Wir wissen nicht mehr, was wir für wahr halten sollen. Ganz schnell löste sich etwa der falsche Glanz des konservativen Hoffnungsträgers Sebastian Kurz auf in einer Wolke von Skandalen, Korruption und dubiosem Gefolge. Während die multiplen Krisen das Publikum aber vollends verunsichern, findet Kurz mühelos Anschluss an jene Kreise um Donald Trump, die unser politisches System lieber heute als morgen über Bord werfen möchten.
In seinem neuen Buch sondiert Armin Thurnher die Lage und zeigt, dass der große Weltuntergang wie immer in Österreich seine kleine Generalprobe hält.
FALTER-Rezension:
Der Nuntius der Lüge
Armin Thurnher in FALTER 11/2023 vom 17.03.2023 (S. 16)
Lassen Sie sich nicht täuschen! Wenn hier von Sebastian Kurz die Rede ist und von Anstand, dann immer von der öffentlichen Person, vom politischen Darsteller, vom Staatsschauspieler Kurz. Er ist körpersprachlich und eristisch (rechthaberisch, nicht zu verwechseln mit rhetorisch) perfekt geschult. Das ist hinreichend untersucht, sodass niemand in die Illusion verfallen muss, es handle sich um natürliche Gaben der Selbstdarstellung oder der Beredsamkeit. Hier ist alles Kunst, vielmehr künstlich, bis hin zum Schemel, den ihm bei Wahlkampagnen ein Begleiter ans Rednerpult stellt, damit er größer wirkt, und anschließend gleich wieder wegzieht und bis zu den Vorgaben seines Kabinetts, aus welchem Blickwinkel er zu fotografieren ist ("Blickwinkel leichtes Profil / nicht frontal / auf Augenhöhe"), wir kennen die Vertrauen stiftenden Körperhaltungen und die segnenden Gesten, die jeden Kardinal vor Neid erblassen lassen.
Aber in dieser politischen Persona wurde von Anfang an ein politisches Programm sichtbar. Kurz machte nie ein Geheimnis daraus. Das Neue daran war die Entschlossenheit, so ein Konzept durchzuziehen, vollkommen gleichgültig gegenüber persönlichen Rücksichten oder Umständen oder gar Erfordernissen des Anstands. Diese Entschlossenheit gehört zur kriegerischen Haltung einer Kaste, die Sieg will. Sie wird im Sport vorexerziert und eingeübt und hat nur ein Ziel: die Niederlage des Gegners, nein, des Feindes. Nicht von ungefähr charakterisierte die Kurz-Truppe intern ihr kritisch gesinnte Medien als "Feindmedien". Man kennt die Rede auch aus dem Sprachgebrauch von Konzernen, die sich stets "im Krieg" mit anderen befinden, und aus dem Sport, wo "Monstermentalität" massenwirksam eingeübt und gefordert wird.
Wer ist der Feind? Da ist einmal die repräsentative Demokratie, am verachtenswertesten in Gestalt des Sozialstaats. Da ist die Sozialdemokratie. Und das ist, was man im Allgemeinen als den modernen Liberalismus betrachtet, das aufgeklärte Denken der Moderne, die pluralistische Gesellschaft. Warum nenne ich eine höchst aktuelle Figur wie Kurz antimodern? Weil man jene wirtschaftliche Moderne, auf deren Seite er sich geschlagen hat, den neoliberalen Finanzkapitalismus, nicht mehr zur Moderne, sondern zu deren Feinden rechnen muss.
Die Interessen der Mächtigen laufen denen der Demokratie zuwider. Der Realkapitalismus ist vom Finanzkapitalismus abgelöst worden. Das bringt ein neues Set von Einstellungen mit sich. Die lange Welle der neoliberalen Propaganda hat diese Einstellungen mit viel Geld und strategischer Ausdauer in der Welt verbreitet; der Sieg des Neoliberalismus hat die einschlägige Mentalität von Business-Schools und Wirtschaftseliten ausgehend so tief ins allgemeine Bewusstsein verankert, dass sich die meisten nicht einmal dessen bewusst sind, im Neoliberalismus zu leben. Das wäre, als hätten Einwohner der Sowjetunion nicht geahnt, dass sie im Kommunismus leben.
Trotz dieser beinahe allgemeinen Verblendung sind in Europa, vor allem in einem Staat wie Österreich, die Beharrungskräfte des Sozialstaats noch längst nicht überwunden. Neue zivilgesellschaftliche Organisationen stellen sich aber nicht an die Seite des Sozialstaats, vielmehr definieren sie ihre ethischen Vorstellungen identitätspolitisch oder vor dem Horizont des Überlebens der Gattung. Teile dessen, was man einst soziale Bewegungen nannte, sind mit den Grünen unversehens in eine Koalition mit Kräften geraten, die ihren Prinzipien zuwiderlaufen.
Die sozialdemokratische Opposition wiederum tut sich immer schwerer, die Glaubwürdigkeit ihres Engagements für Zivilgesellschaft und die unteren Klassen der Gesellschaft darzutun, weil ihre Exponenten selbst in die Finanzwirtschaft streben, als Investoren oder ins Management börsennotierter Gesellschaften. So finden wir einstige Arbeiterführer als Freunde der Oligarchen wieder, erstaunt darüber, dass die Massen nicht mehr ihnen glauben, sondern rechtsextremen Agitatoren, die ihnen ihre alten Parolen gestohlen haben.
Den Gewerkschaften wiederum macht ihr Misstrauen gegen neoliberale Prinzipien eine Unterstützung echt liberaler Initiativen schwer, und sie unterschätzen das Flexibilitäts-und Freiheitsbedürfnis der meisten Menschen. Ihre Schutzfunktion sieht im Neoliberalismus aus wie reine Defensive und wird erst in der Krise attraktiver; politisch offensiv wurde sie nicht.
Keine Angst, wir sind noch bei Sebastian Kurz. Was den Liberalismus der Angst betrifft, genüge die kleine Erinnerung, mit welcher Lust er in der ersten Corona-Phase die damals gewiss notwendige Rolle des scharfen Mahners übernahm und sie im Seitenblick auf die Zustimmung autoritätsgläubiger Klientel übertrieb.
Wir befinden uns in einer großen Auseinandersetzung, in der die prekären Errungenschaften der Demokratie, des Rechts und Sozialstaats, eine Öffentlichkeit mit freier Meinungsäußerung fundamental angegriffen werden, sichtbar von außen durch Autokratien innerhalb und außerhalb der EU, am beeindruckendsten von China und am grausamsten von Russland. Weniger sichtbar ist der Angriff von innen, von rechts, denn diese Auseinandersetzung findet gleichsam hinter einer Nebelwand statt. Die einen vermögen die Wand nicht zu öffnen, die anderen kämpfen darum, sie möglichst dicht zu gestalten.
Nur im Nebel wählen Menschen gegen ihre Interessen. Als Beispiel für diesen Nebel kann die Auseinandersetzung von free speech dienen. Das Problem wurde in der digitalen Welt deswegen groß, weil die digitalen Medien von Anfang an gesetzlich als Plattformen behandelt wurden, das heißt: als Medien in einer rechtsfreien Zone. Die 1996 unter dem fatalen Liberalisierer Bill Clinton beschlossene Section 230 des Communications Decency Act, eines US-Gesetzes gegen Pornografie im Netz, entlastete die digitalen Verbreiter von der Verantwortung für die von ihnen verbreiteten Inhalte. Dies geschah explizit, um den Tech-Konzernen der USA einen globalen Wettbewerbsvorteil gegenüber analogen Medien zu verschaffen. Eine verblendete Linke sah die Gefahren zuerst nicht und betrachtete den Cyberspace als herrschaftsfreien Raum, in dem sie technikgestützt ihre neue kosmopolitische, egalitäre Gesellschaft ausbrüten würde. Die Desillusionierung war beträchtlich, als sich der herrschaftsfreie Raum doch als von Kapitalinteressen dominiert herausstellte und die Silicon-Valley-Ideologie nicht weltweite Befreiung, sondern bloß radikale Kommerzialisierung der globalen Kommunikation im Sinn hatte und sich als der technische Ausdruck dessen herausstellte, was ökonomisch Neoliberalismus, philosophisch Narzissmus heißt, in der zutreffenden Interpretation von Isolde Charim die Fähigkeit, ohne Zwang zu zwingen.
Der Staat hatte die Frage, was in einem Rechtsstaat gesagt werden darf und was nicht, durch seine Regulierung privatisiert. Damit schwächte er sich und überließ die Auseinandersetzung gesellschaftlichen Gruppen, die auf der Linken zur cancel culture tendierten und zur Rechten zu einem missbräuchlichen Free-Speech-Radikalismus. (Es gibt auch ernstgemeinten Free-Speech-Radikalismus, wie ihn etwa der Linguist Noam Chomsky vertritt.)
So kommt es, um zum Nebel zurückzukehren, dass Leute wie Donald Trump oder Elon Musk sich als Helden der Redefreiheit darstellen können, der schönsten der bürgerlichen Freiheiten, obwohl ihnen der Sinn nach nichts anderem steht, als den Rechtsstaat zurückzudrängen, den Garanten dieser Freiheiten. Er soll ihnen ihre Steuerprivilegien und ihre fetten Aufträge garantieren, sich aber nicht mit Gesetzen wichtigmachen, die ihr Business behindern. Selbstbestimmungsrecht für "die Wirtschaft" - eine Art Wirtschaftsdemokratie, in der die (Medien-)kapitalbesitzenden über die anderen bestimmen. Autoritärer Kapitalismus, illiberale Demokratie -wie immer man es nennen mag.
Meinungsfreiheit auf Europäisch und Rechtsstaatlich bedeutet, die Grenzen dieser Redefreiheit frei und mühelos einklagen zu können. Diese Grenze ist das Gesetz; durch die auch von Progressiven verteidigte Nicht-Auffindbarkeit von Sprechenden im Netz, die Anonymität, lässt sich dieses Gesetz nur unter Mühen durchsetzen, die nicht alle auf sich nehmen können. Es ist also nicht mehr allgemein gültig. Proteste gegen diesen Zustand haben dazu geführt, dass das Regime der Selbstkontrolle, für die Presse nach ähnlichen Protesten in den USA der 1940er-Jahre eingeführt, von den Social-Media-Konzernen wenigstens andeutungsweise angewendet wird. Dies bleibt fragwürdig, weil Selbstkontrolle der Willkür der Konzerne überlassen wird.
Es ist Willkür, einem Lügner die Öffentlichkeit zu entziehen, wenn er nichts Gesetzwidriges tut, ebenso wie es Willkür ist, einen Lügner vor dem Zugriff des Gesetzes zu schützen, wenn er anderen Nachteile zufügt. Die Willkür der Tech-Konzerne führt zur Dominanz der politischen Lüge. Oder führte die Lüge zur Willkür?
Die Lüge wurde zum Mittel rechtsextremer Propaganda. Die von Milliardären finanzierten Medien der Alt-Right, wie das vom notorischen Steve Bannon ("Flood the zone with shit") geleitete Portal Breitbart, verunsicherten die Öffentlichkeit mit Desinformation. Dass ihre politischen Gegenspieler diesbezüglich nicht unschuldig sind, versteht sich; aber die Wucht der Lügen der Rechten, angeführt von Donald Trump, den Medien des Tycoons Rupert Murdoch und der digitalen Alt-Right-Publizistik, war nicht nur überwältigend, sondern systematisch. Das Auffälligste und Neue an Trump war, dass er im Unterschied zur Konkurrenz und seinen Vorgängern unbekümmert log. Von seiner größten Lüge, die Wahl sei ihm gestohlen worden, rückt er nach wie vor nicht ab.
Dieses unverschämte Lügenprinzip in Österreich heimisch zu machen, das war die größte Tat des Sebastian Kurz. Es begann mit der Fabrikation seiner Unwiderstehlichkeit mit gefälschten Umfragen und setzte sich fort bis zur frommen Lüge, er sei abgetreten, weil er sich seiner Familie widmen wolle. Durchgehend zeigte er die geforderte Monstermentalität. Diese Mentalität stellt die Erlangung und den Erhalt der Macht über die Geltung allgemeiner Regeln.
Demokratie beruht auf der Annahme, dass Dinge im öffentlichen Diskurs so erörtert werden, dass alle eine Chance haben, sich unvoreingenommen ihre Meinung zu bilden. Eine Fiktion, gewiss, doch ist die Demokratie insgesamt eine Fiktion, die auf solchen Annahmen beruht. Ein gewisses Maß an Selbstkontrolle, Selbstbegrenzung, ja Anstand ist notwendig, sollen die demokratische Arena und ihre Institutionen funktionieren. Werden die Spielregeln missachtet, führt das zum Diktat der Stärkeren.
Man mag die österreichische Version des "disrupter", des "puer robustus", des starken Mannes nicht als die erkannt haben, die sie war, weil sie in Mariazell im Trachtenjanker posierte, sich mit akkurat beachteter Tiefenschärfe und Farbgebung im Altersheim oder im traulichen Alpinistengewand beim Durchstreifen des Gebirgs fotografieren ließ. Aber sie funktionierte nach dem Prinzip, unsere Werte stehen höher als die der anderen. Wir erringen die Hegemonie nicht mit besseren Argumenten, sondern mit Gewalt, mit dem Brechen von Regeln, mit Lügen, mit Schwindel.
Das sind etwas härtere Worte für das, was euphorisch mit Message-Control beschrieben wird. Diese kämpfte nicht nur an der Front der Botschaften, sie zerstörte auch die Medienlandschaft nachhaltig. Nämlich dadurch, dass sie den korruptesten Boulevard ausgiebig finanzierte; dadurch, dass sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu ruinieren versuchte (nur Ibiza hatte dabei einen verzögernden Effekt); dadurch, dass sie das Privatfernsehen reich alimentierte (zufällig ist Antonella Mei-Pochtler Aufsichtsrätin bei der ProSiebenSat.1-Gruppe); dadurch, dass sie Feindmedien austrocknete.
Die Gleichschaltung der Medien war das Ziel des Kurz-Regimes, erklärte sein Parteigenosse und Vorgänger Reinhold Mitterlehner im Untersuchungsausschuss. Mit dem Mann, der in einem Chat mit dem ORF-Feind Heinz-Christian Strache von lauter "roten Zecken" im ORF redete, dem Investor Alexander Schütz, ist Kurz nun geschäftlich verpartnert. Wie ein Satyrspiel muten die gegenseitigen Bezichtigungen von Sebastian Kurz und Thomas Schmid an, die sich in einem von Kurz aufgezeichneten und zum Zweck seiner Entlastung von den Inseratenkorruptionsvorwürfen geführten Telefonat mit Schmid zu einem Vortext gegenseitigen Schwindelns aufbauten, denn Schmid hatte die Absicht des Anrufers erfasst, sodass das Publikum, dem dieser denkwürdige Lügnerdialog sogleich übermittelt wurde, vor der alten Frage stand, ob es dem Kreter glauben soll, der behauptet, dass alle Kreter lügen. Was man bekanntlich damit beantwortet, dass man sich auf die Metaebene zurückzieht und die beiden Kreter von außen betrachtet. Aus dieser Perspektive versteht man, dass Lügen einerseits dazu dient, das bestehende System zu kippen, und andererseits nur eine Form ist, die Aufmerksamkeit zu steigern.
Beides trifft idealtypisch bei dem neuen Twitter-Besitzer Elon Musk zusammen. Er strebt mit der Wiederzulassung des von der Selbstkontrolle ausgeschlossenen Trump und seinem ostentativ disruptiven Gebaren drei Dinge an: erstens als kommunikative Kraft zu mächtig zu werden, um reguliert werden zu können; zweitens den bisher, bei aller systemisch angelegten Toxizität, doch auch diskursiv orientierten Mikrobloggingdienst Twitter zu einer kompletten Cloud-App zu machen, digitale Kontrolle, Datenanhäufung und Steuerung des Publikums zwecks Erhöhung von Profit und Macht inklusive; und drittens das Ziel aller Nebel-und Lügenpolitik, bei allem gegenteiligen Gerede über unternehmerische Tugenden und Risikofreude vom Staat massive Aufträge und Subventionen zu lukrieren und gleichzeitig Vermögenssteuern zu vermeiden oder zu minimieren. Das Business heißt Überwachungskapitalismus oder Cloud-Kapitalismus. Das klingt etwas wolkig-unverbindlich, aber man kann schön beschreiben, was Kurz mit ihm verbindet.
Es wurde oft bemerkt, dass der Cloud-Kapitalismus einige Wunder vollbringt. Zum einen veranlasst er uns dazu, kostenlos zu arbeiten, zum anderen, dass er in uns Begierden nach Dingen erweckt, die wir drittens dort, in der Cloud, gleich haben und kaufen und auch bezahlen wollen, wofür wir nicht nur mit Geld, sondern auch mit unseren Daten bezahlen. Das vierte Wunder aber besteht darin, all das nicht zu sehen und die Vorgänge auf der individualpsychologischen Ebene zu belassen. So ist das Interessante an der politischen Persona Kurz weniger die Tatsache, dass sein Erfolg auch auf gekonntem digitalem Marketing beruhte; viel interessanter sind die Wurzeln seines radikal disruptiven Handelns.
Er rückte es nie in den Vordergrund, und auch seine Kritiker brachten selten die Fäden zusammen. Manche wurden erst nach dem Ende seiner politischen Laufbahn sichtbar. Aber die Kontakte zum neoliberalen und cloudorientierten Kapital entstanden von Anfang an durch seine Chefberaterin Mei-Pochtler. Sie war nicht nur im weltweiten Executive Committee der Boston Consulting Group, sie leitete auch die Stabstelle für Strategie, Analyse und Planung im Kanzleramt, verantwortlich für Österreichs "Digitalisierungsstrategie" (im Beirat neben anderen: Wirecard-Chef Markus Braun), sie verhandelte in der ersten Koalition "Wirtschaft und Entbürokratisierung", und sie vermittelte gemeinsam mit ihrem Mann, dem Industriellen Christian Pochtler (seit 2020 ebenfalls Aufsichtsrat in einem ÖBAG-Unternehmen), für Kurz Kontakte zu mächtigen Männern der Cloud-Industrie wie dem ehemaligen Google-Chef Eric Schmidt, auf deren Einladung Kurz in den USA Veranstaltungen und Seminare besuchte.
Dass Kurz sofort nach Ende seiner Tätigkeit im Kanzleramt einen Job bei Peter Thiel erhielt, darf man wohl ebenfalls mit solchen Kontakten erklären. Thiel war der erste offen mit dem rechten Flügel der Republikaner sympathisierende Silicon-Valley-Tycoon, er beriet auch Donald Trump und präsentiert sich als Intellektueller der Neuen Rechten. Er ist nicht nur vom französischen Kulturkritiker René Girard und dessen Mimesis-Theorie beeinflusst, er ist vielmehr ein bekennender Straussianer. Auf den Philosophen Leo Strauss (1899-1973) berufen sich Generationen der denkenden US-amerikanischen Rechten, Neocons und Kriegstreiber. Rechtsplatoniker und in der Nachfolge von Carl Schmitt stehend, vertritt Strauss eine radikal antiaufklärerische Haltung. Einer von Thiels berühmtesten und am seltensten gelesenen Essays trägt den Titel "The Straussian Moment". Auch wenn Thiel darin, unmittelbar nach 9/11, gegen die Anwendung von Gewalt plädiert, nennt er das Ziel der postmodernen Welt unmissverständlich: "The peace of the kingdom of God." Der Weg dorthin ist klar: "Es kann kein wirkliches Übereinkommen mit der Aufklärung geben, denn zu viele ihrer Binsenweisheiten haben sich in unserer Zeit als tödliche Lügen erwiesen."
Neben seiner Tätigkeit bei Thiel Capital agiert Kurz auch als Investor. Eine seiner ersten Aktivitäten war die Gründung einer Firma namens "Dream Security" gemeinsam mit dem ehemaligen Leiter der israelischen Firma NSO, berüchtigt für die Spionagesoftware Pegasus. Geschäftszweck des Kurz-Unternehmens ist "Cyber-Security". Das passt recht gut zu den Aktivitäten Thiels, dessen Big-Data-Firma Palantir Technologies nicht nur für Hedge-Fonds und Banken arbeitet, sondern vor allem für das US-Verteidigungsministerium.
Bei einem Teil der US-amerikanischen Rechten ist das Verhältnis zu den Evangelikalen anders als bei Donald Trump nicht nur instrumentelles Zweckbündnis. Fundamentalismus und Neoliberalismus gehen sehr gut zusammen, und Peter Thiel ist dafür ein prominentes Beispiel. Auf fundamentalere Art wird hier die platte ökonomische Maxime des Friedrich August von Hayek überhöht, die Wolfgang Schüssel, Kurz' Vorläufer und Berater im Hintergrund, mit dem Slogan "Mehr privat, weniger Staat" unübertroffen trivialisiert hatte.
Im österreichischen Sandkistenformat erstaunt es nun weniger, dass ein Fundamentalismus-Sympathisant wie Bernhard Bonelli, ausgebildet im Reich Mei-Pochtlers bei Boston Consulting, das Kabinett von Kurz leitete. Es nimmt nun weniger wunder, dass Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka Gebetsstunden im Parlament abhalten lässt. Und das evangelikale Weihespiel von Sebastian Kurz in der Stadthalle bekommt einen Sinn.
Das antiaufklärerische Revirement fundamentalistischer Religion ist in Österreich mit dem Rücktritt verschiedener von Papst Johannes Paul II. ernannter Kardinäle und Bischöfe einer moderneren Kirche gewichen. Aber in Europa kamen zur gleichen Zeit Regimes mit reaktionär-klerikalen Anliegen auf: Polen und Ungarn machten die "illiberale Demokratie" zum Schlagwort. Vor allem die Freundschaft von Kurz zum Orbán-Regime war von Anfang an nicht zu übersehen.
Die Persona Kurz ist eine Nebelfigur erster Klasse, ein höflicher Rüpel, versiert in der Kunst, alles perfekt auszusprechen und dahinter ganz anderes zu verbergen. Niemals die Contenance zu verlieren und auf scheinbar unerschütterlich nette Weise die Gegner gnadenlos mit allen Mitteln niederzumachen. Er war nicht nur ein Fabrikant schönen Scheins. Er hat ein Land beschissen, seine eigene Partei beschissen, die Medien, die er mit Staatsknete zuschiss, die Kirche, die ihm paraevangelikal huldigte, das Parlament, das er diskreditierte, die Justiz, die er instrumentalisierte, die Staatsanwaltschaft, die er attackierte -sie alle sehen den Saubermann nun als einen dastehen, der anpatzte: sich selbst und ein ganzes Land mit ihm
Über den Author:
Armin Thurnher, geboren 1949 in Bregenz, ist Mitbegründer, Chefredakteur und Herausgeber der Wiener Wochenzeitung FALTER. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, unter anderem den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz, als erster Nicht-Deutscher den Otto-Brenner-Preis für seinen Einsatz für ein soziales Europa und den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch für sein Lebenswerk. Thurnher ist Autor einer Vielzahl an Büchern. Im Falter Verlag erschienen seine politischen Kommentare „Seinesgleichen“ und das mit Irena Rosc verfasste Kochbuch „Thurnher auf Rezept“. Seine Kolumne „Seinesgleichen geschieht“ erscheint seit 1983 jede Woche im FALTER.