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Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege

von Armin Thurnher

ISBN: 9783552072787
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 128 Seiten
Erscheinungsdatum: 20.03.2023
Sammlung: Armin Thurnhers Bücher
Preis: € 19,60
Kurzbeschreibung des Verlags:

Armin Thurnher, „einer der scharfsinnigsten Analy­ti­ker öster­reichi­scher Poli­tik“ (NZZ) über die Poli­tik Öster­reichs, von Sebastian Kurz über Kor­rup­tion zum Welt­unter­gang

„Die Welt steht auf kan Fall mehr lang“, heißt es in Nestroys be­rühm­tem „Kometen­lied“. Vieles von dem, was einst zum fes­ten Be­stand demo­kra­ti­scher Selbst­ver­ständ­lich­keiten zähl­te, scheint ab­ge­schafft zu wer­den. Wir wis­sen nicht mehr, was wir für wahr hal­ten sol­len. Ganz schnell löste sich etwa der fal­sche Glanz des kon­ser­va­ti­ven Hoff­nungs­trä­gers Sebastian Kurz auf in einer Wolke von Skan­da­len, Kor­rup­tion und dubi­osem Ge­fol­ge. Wäh­rend die mul­tip­len Kri­sen das Publi­kum aber voll­ends ver­un­si­chern, fin­det Kurz mühe­los An­schluss an jene Kreise um Donald Trump, die unser poli­ti­sches Sys­tem lie­ber heute als mor­gen über Bord wer­fen möch­ten.
In seinem neuen Buch son­diert Armin Thurnher die Lage und zeigt, dass der große Welt­unter­gang wie immer in Öster­reich seine kleine Ge­ne­ral­probe hält.

FALTER-Rezension:

Der Nuntius der Lüge

Armin Thurnher in FALTER 11/2023 vom 17.03.2023 (S. 16)

Lassen Sie sich nicht täuschen! Wenn hier von Sebastian Kurz die Rede ist und von An­stand, dann im­mer von der öffent­li­chen Per­son, vom poli­ti­schen Dar­stel­ler, vom Staats­schau­spie­ler Kurz. Er ist kör­per­sprach­lich und eris­tisch (recht­habe­risch, nicht zu ver­wech­seln mit rhe­to­risch) per­fekt ge­schult. Das ist hin­rei­chend unter­sucht, so­dass nie­mand in die Il­lu­si­on ver­fal­len muss, es handle sich um natür­liche Gaben der Selbst­dar­stel­lung oder der Be­red­sam­keit. Hier ist al­les Kunst, viel­mehr künst­lich, bis hin zum Sche­mel, den ihm bei Wahl­kam­pag­nen ein Be­glei­ter ans Redner­pult stellt, damit er größer wirkt, und an­schlie­ßend gleich wie­der weg­zieht und bis zu den Vor­gaben seines Kabi­netts, aus wel­chem Blick­winkel er zu foto­gra­fie­ren ist ("Blick­winkel leich­tes Pro­fil / nicht fron­tal / auf Augen­höhe"), wir ken­nen die Ver­trauen stif­ten­den Kör­per­hal­tungen und die seg­nen­den Ges­ten, die je­den Kar­di­nal vor Neid er­blas­sen las­sen.
Aber in dieser politischen Persona wurde von An­fang an ein poli­ti­sches Pro­gramm sicht­bar. Kurz machte nie ein Ge­heim­nis da­raus. Das Neue da­ran war die Ent­schlos­sen­heit, so ein Kon­zept durch­zu­zie­hen, voll­kom­men gleich­gül­tig ge­gen­über per­sön­li­chen Rück­sich­ten oder Um­stän­den oder gar Er­for­der­nis­sen des An­stands. Diese Ent­schlos­sen­heit ge­hört zur krie­ge­ri­schen Hal­tung einer Kaste, die Sieg will. Sie wird im Sport vorexerziert und eingeübt und hat nur ein Ziel: die Niederlage des Gegners, nein, des Feindes. Nicht von ungefähr cha­rak­te­ri­sier­te die Kurz-Trup­pe in­tern ihr kri­tisch ge­sinnte Me­dien als "Feind­medien". Man kennt die Rede auch aus dem Sprach­ge­brauch von Kon­zer­nen, die sich stets "im Krieg" mit an­deren be­finden, und aus dem Sport, wo "Mon­ster­men­ta­li­tät" mas­sen­wirk­sam ein­ge­übt und ge­for­dert wird.

Wer ist der Feind? Da ist ein­mal die re­prä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie, am ver­achtens­wer­tes­ten in Ge­stalt des Sozi­al­staats. Da ist die Sozi­al­demo­kra­tie. Und das ist, was man im All­ge­mei­nen als den mo­der­nen Libe­ra­lis­mus be­trach­tet, das auf­ge­klärte Den­ken der Mo­derne, die plu­ra­lis­tische Ge­sell­schaft. Wa­rum nen­ne ich eine höchst ak­tu­el­le Figur wie Kurz anti­mo­dern? Weil man jene wirt­schaft­liche Mo­derne, auf deren Seite er sich ge­schla­gen hat, den neo­libe­ra­len Finanz­kapi­ta­lis­mus, nicht mehr zur Mo­derne, son­dern zu deren Fein­den rech­nen muss.

Die Interessen der Mächtigen laufen denen der Demo­kra­tie zu­wider. Der Real­kapi­ta­lis­mus ist vom Fi­nanz­kapi­ta­lis­mus ab­ge­löst wor­den. Das bringt ein neues Set von Ein­stel­lun­gen mit sich. Die lange Wel­le der neo­li­be­ra­len Pro­pa­gan­da hat die­se Ein­stel­lun­gen mit viel Geld und stra­te­gi­scher Aus­dauer in der Welt ver­brei­tet; der Sieg des Neo­libe­ra­lis­mus hat die ein­schlä­gige Men­ta­li­tät von Busi­ness-Schools und Wirt­schafts­eli­ten aus­ge­hend so tief ins all­ge­meine Be­wusst­sein ver­ankert, dass sich die meis­ten nicht ein­mal des­sen be­wusst sind, im Neo­li­be­ra­lis­mus zu leben. Das wäre, als hät­ten Ein­woh­ner der Sowjet­union nicht ge­ahnt, dass sie im Kom­mu­nis­mus leben.

Trotz dieser beinahe allgemeinen Ver­blendung sind in Euro­pa, vor al­lem in ei­nem Staat wie Öster­reich, die Be­har­rungs­kräfte des So­zial­staats noch längst nicht über­wun­den. Neue zi­vil­ge­sell­schaft­liche Or­ga­ni­sa­tio­nen stel­len sich aber nicht an die Sei­te des So­zi­al­staats, viel­mehr defi­nie­ren sie ihre ethi­schen Vor­stel­lun­gen iden­ti­täts­poli­tisch oder vor dem Hori­zont des Über­lebens der Gat­tung. Teile des­sen, was man einst so­zi­ale Be­we­gungen nannte, sind mit den Grünen un­ver­sehens in eine Koa­li­tion mit Kräf­ten ge­raten, die ihren Prin­zi­pi­en zu­wider­lau­fen.

Die sozialdemokratische Opposition wiederum tut sich immer schwerer, die Glaub­wür­dig­keit ihres En­gage­ments für Zivil­ge­sell­schaft und die unte­ren Klas­sen der Ge­sell­schaft dar­zu­tun, weil ihre Ex­po­nen­ten selbst in die Finanz­wirt­schaft stre­ben, als In­ves­to­ren oder ins Manage­ment bör­sen­no­tier­ter Ge­sell­schaf­ten. So fin­den wir eins­ti­ge Ar­beiter­führer als Freun­de der Oli­gar­chen wie­der, er­staunt da­rüber, dass die Mas­sen nicht mehr ihnen glau­ben, son­dern rechts­ex­tremen Agi­ta­toren, die ihnen ihre al­ten Pa­ro­len ge­stoh­len haben.

Den Gewerkschaften wiederum macht ihr Miss­trauen ge­gen neo­li­be­rale Prin­zi­pien eine Un­ter­stüt­zung echt li­be­ra­ler Ini­tia­tiven schwer, und sie unter­schät­zen das Flexi­bili­täts-und Frei­heits­be­dürf­nis der meis­ten Men­schen. Ihre Schutz­funk­tion sieht im Neo­li­be­ra­lis­mus aus wie rei­ne De­fen­si­ve und wird erst in der Krise at­trak­tiver; poli­tisch of­fen­siv wurde sie nicht.

Keine Angst, wir sind noch bei Sebastian Kurz. Was den Libe­ra­lis­mus der Angst be­trifft, genüge die kleine Er­in­ne­rung, mit wel­cher Lust er in der ers­ten Co­ro­na-Phase die da­mals ge­wiss not­wen­dige Rolle des schar­fen Mah­ners über­nahm und sie im Seiten­blick auf die Zu­stim­mung auto­ri­täts­gläu­bi­ger Kli­en­tel über­trieb.

Wir befinden uns in einer großen Aus­einan­der­set­zung, in der die pre­kä­ren Er­run­gen­schaf­ten der Demo­kra­tie, des Rechts und Sozi­al­staats, eine Öf­fent­lich­keit mit frei­er Mei­nungs­äuße­rung fun­da­men­tal an­ge­grif­fen wer­den, sicht­bar von außen durch Auto­kra­tien in­ner­halb und außer­halb der EU, am be­ein­dru­ckendsten von China und am grau­samsten von Russ­land. Weni­ger sicht­bar ist der An­griff von in­nen, von rechts, denn diese Aus­ein­ander­set­zung fin­det gleich­sam hin­ter ei­ner Nebel­wand statt. Die einen ver­mö­gen die Wand nicht zu öff­nen, die ande­ren kämp­fen da­rum, sie mög­lichst dicht zu ge­stal­ten.

Nur im Nebel wählen Menschen gegen ihre Interessen. Als Bei­spiel für die­sen Nebel kann die Aus­einan­der­set­zung von free speech die­nen. Das Pro­b­lem wurde in der di­gi­ta­len Welt des­wegen groß, weil die di­gi­ta­len Me­dien von An­fang an ge­setz­lich als Platt­for­men be­han­delt wur­den, das heißt: als Me­dien in einer rechts­frei­en Zone. Die 1996 unter dem fa­ta­len Libe­ra­li­sie­rer Bill Clinton be­schlos­sene Section 230 des Communi­cations Decency Act, eines US-Ge­set­zes ge­gen Porno­gra­fie im Netz, ent­las­tete die digi­ta­len Ver­breiter von der Ver­ant­wor­tung für die von ihnen ver­brei­te­ten In­halte. Dies ge­schah ex­pli­zit, um den Tech-Kon­zer­nen der USA einen glo­ba­len Wett­be­werbs­vor­teil ge­gen­über ana­lo­gen Me­dien zu ver­schaf­fen. Eine ver­blen­dete Linke sah die Ge­fah­ren zu­erst nicht und be­trach­te­te den Cyber­space als herr­schafts­freien Raum, in dem sie technik­ge­stützt ihre neue kosmo­po­li­ti­sche, egali­täre Ge­sell­schaft aus­brü­ten würde. Die Des­illu­sio­nie­rung war be­trächt­lich, als sich der herr­schafts­freie Raum doch als von Kapi­tal­inter­es­sen domi­niert heraus­stellte und die Sili­con-Valley-Ideo­lo­gie nicht welt­weite Be­freiung, son­dern bloß radi­ka­le Kom­mer­ziali­sie­rung der glo­ba­len Kom­mu­ni­ka­tion im Sinn hat­te und sich als der tech­ni­sche Aus­druck des­sen heraus­stellte, was öko­no­misch Neo­li­bera­lis­mus, philo­so­phisch Nar­ziss­mus heißt, in der zu­tref­fen­den Inter­pre­ta­tion von Isolde Charim die Fähig­keit, ohne Zwang zu zwin­gen.

Der Staat hatte die Frage, was in einem Rechts­staat ge­sagt wer­den darf und was nicht, durch seine Regu­lie­rung pri­va­ti­siert. Da­mit schwäch­te er sich und über­ließ die Aus­ein­ander­set­zung ge­sell­schaft­lichen Grup­pen, die auf der Lin­ken zur cancel culture ten­dier­ten und zur Rech­ten zu einem miss­bräuch­li­chen Free-Speech-Radi­ka­lis­mus. (Es gibt auch ernst­ge­mein­ten Free-Speech-Radi­ka­lis­mus, wie ihn etwa der Lin­guist Noam Chomsky vertritt.)

So kommt es, um zum Nebel zurück­zu­kehren, dass Leute wie Donald Trump oder Elon Musk sich als Hel­den der Rede­frei­heit dar­stel­len kön­nen, der schöns­ten der bür­ger­li­chen Frei­heiten, ob­wohl ihnen der Sinn nach nichts an­derem steht, als den Rechts­staat zu­rück­zu­drän­gen, den Ga­ran­ten die­ser Frei­heiten. Er soll ihnen ihre Steuer­pri­vi­legien und ihre fet­ten Auf­trä­ge garan­tie­ren, sich aber nicht mit Ge­set­zen wich­tig­machen, die ihr Busi­ness be­hin­dern. Selbst­be­stim­mungs­recht für "die Wirt­schaft" - eine Art Wirt­schafts­demo­kra­tie, in der die (Medien-)kapital­be­sitzen­den über die an­deren be­stim­men. Auto­ri­tärer Kapi­ta­lis­mus, il­libe­rale Demo­kratie -wie immer man es nen­nen mag.

Meinungsfreiheit auf Europäisch und Rechts­staat­lich be­deu­tet, die Gren­zen die­ser Rede­frei­heit frei und mühe­los ein­kla­gen zu kön­nen. Diese Gren­ze ist das Ge­setz; durch die auch von Pro­gres­si­ven ver­tei­digte Nicht-Auf­find­bar­keit von Sprechen­den im Netz, die Ano­ny­mi­tät, lässt sich die­ses Ge­setz nur unter Mü­hen durch­setzen, die nicht alle auf sich nehmen kön­nen. Es ist also nicht mehr all­ge­mein gül­tig. Pro­tes­te ge­gen die­sen Zu­stand ha­ben da­zu ge­führt, dass das Regime der Selbst­kon­trol­le, für die Pres­se nach ähn­li­chen Pro­tes­ten in den USA der 1940er-Jahre ein­ge­führt, von den Social-Media-Kon­zer­nen wenigs­tens an­deu­tungs­weise an­ge­wen­det wird. Dies bleibt frag­wür­dig, weil Selbst­kon­trol­le der Will­kür der Kon­zerne über­las­sen wird.

Es ist Willkür, einem Lügner die Öffent­lich­keit zu ent­zie­hen, wenn er nichts Ge­setz­wid­ri­ges tut, eben­so wie es Will­kür ist, einen Lüg­ner vor dem Zu­griff des Ge­set­zes zu schüt­zen, wenn er an­deren Nach­teile zu­fügt. Die Will­kür der Tech-Kon­zerne führt zur Domi­nanz der poli­ti­schen Lüge. Oder führte die Lüge zur Will­kür?

Die Lüge wurde zum Mittel rechts­extremer Pro­pa­gan­da. Die von Mil­liar­dären fi­nan­zier­ten Me­dien der Alt-Right, wie das vom noto­ri­schen Steve Bannon ("Flood the zone with shit") ge­lei­tete Portal Breit­bart, ver­un­si­cher­ten die Öffent­lich­keit mit Des­in­for­mation. Dass ihre poli­ti­schen Ge­gen­spie­ler dies­be­züg­lich nicht un­schul­dig sind, ver­steht sich; aber die Wucht der Lü­gen der Rech­ten, an­ge­führt von Donald Trump, den Me­dien des Tycoons Rupert Mur­doch und der digi­ta­len Alt-Right-Publi­zis­tik, war nicht nur über­wäl­ti­gend, son­dern sys­te­ma­tisch. Das Auf­fäl­ligste und Neue an Trump war, dass er im Unter­schied zur Kon­kur­renz und sei­nen Vor­gän­gern un­be­küm­mert log. Von sei­ner größ­ten Lüge, die Wahl sei ihm ge­stoh­len wor­den, rückt er nach wie vor nicht ab.

Dieses unverschämte Lügenprinzip in Öster­reich hei­misch zu ma­chen, das war die größte Tat des Sebastian Kurz. Es be­gann mit der Fa­bri­ka­tion sei­ner Un­wider­steh­lich­keit mit ge­fälsch­ten Um­fra­gen und setzte sich fort bis zur from­men Lüge, er sei ab­ge­tre­ten, weil er sich seiner Fa­mi­lie wid­men wol­le. Durch­gehend zeigte er die ge­for­derte Monster­men­ta­li­tät. Diese Men­ta­li­tät stellt die Er­lan­gung und den Er­halt der Macht über die Gel­tung all­ge­meiner Regeln.

Demokratie beruht auf der Annahme, dass Dinge im öffent­lichen Dis­kurs so er­ör­tert wer­den, dass alle eine Chance haben, sich un­vor­ein­ge­nom­men ihre Mei­nung zu bil­den. Eine Fik­tion, ge­wiss, doch ist die Demo­kra­tie ins­ge­samt eine Fik­tion, die auf sol­chen An­nah­men be­ruht. Ein ge­wis­ses Maß an Selbst­kon­trol­le, Selbst­be­gren­zung, ja An­stand ist not­wendig, sol­len die demo­kra­tische Are­na und ihre Ins­ti­tu­tionen funk­tio­nieren. Wer­den die Spiel­re­geln miss­ach­tet, führt das zum Dik­tat der Stär­keren.

Man mag die österreichische Version des "disrupter", des "puer robustus", des star­ken Man­nes nicht als die er­kannt ha­ben, die sie war, weil sie in Maria­zell im Trach­ten­janker po­sier­te, sich mit ak­kurat be­ach­te­ter Tiefen­schär­fe und Farb­ge­bung im Alters­heim oder im trau­lichen Alpi­nisten­ge­wand beim Durch­strei­fen des Ge­birgs foto­gra­fie­ren ließ. Aber sie funk­tio­nier­te nach dem Prin­zip, un­sere Wer­te ste­hen hö­her als die der ande­ren. Wir er­rin­gen die Hege­mo­nie nicht mit bes­se­ren Ar­gu­men­ten, son­dern mit Ge­walt, mit dem Bre­chen von Re­geln, mit Lü­gen, mit Schwin­del.

Das sind etwas härtere Worte für das, was eupho­risch mit Mes­sage-Con­trol be­schrie­ben wird. Die­se kämpfte nicht nur an der Front der Bot­schaf­ten, sie zer­stör­te auch die Medien­land­schaft nach­haltig. Näm­lich da­durch, dass sie den kor­rup­tes­ten Boule­vard aus­gie­big fi­nan­zier­te; da­durch, dass sie den öf­fent­lich-recht­li­chen Rund­funk zu rui­nie­ren ver­suchte (nur Ibiza hatte dabei einen ver­zö­gern­den Ef­fekt); da­durch, dass sie das Privat­fern­sehen reich ali­men­tier­te (zu­fällig ist Anto­nella Mei-Pochtler Auf­sichts­rä­tin bei der ProSiebenSat.1-Grup­pe); da­durch, dass sie Feind­medien aus­trock­nete.

Die Gleichschaltung der Medien war das Ziel des Kurz-Regimes, er­klär­te sein Par­tei­ge­nos­se und Vor­gän­ger Rein­hold Mitter­lehner im Unter­suchungs­aus­schuss. Mit dem Mann, der in einem Chat mit dem ORF-Feind Heinz-Christian Strache von lauter "roten Zecken" im ORF re­dete, dem Inves­tor Alexan­der Schütz, ist Kurz nun ge­schäft­lich ver­partnert. Wie ein Satyr­spiel muten die gegen­sei­ti­gen Be­zich­ti­gungen von Sebastian Kurz und Thomas Schmid an, die sich in einem von Kurz auf­ge­zeich­neten und zum Zweck sei­ner Ent­las­tung von den Inse­raten­kor­ruptions­vor­wür­fen ge­führ­ten Tele­fo­nat mit Schmid zu einem Vor­text ge­gen­sei­ti­gen Schwin­delns auf­bauten, denn Schmid hatte die Ab­sicht des An­ru­fers er­fasst, so­dass das Pub­li­kum, dem die­ser denk­wür­dige Lügner­dia­log so­gleich über­mit­telt wurde, vor der alten Fra­ge stand, ob es dem Kreter glauben soll, der be­hauptet, dass alle Kreter lügen. Was man be­kannt­lich da­mit be­ant­wor­tet, dass man sich auf die Meta­ebene zu­rück­zieht und die bei­den Kreter von außen be­trach­tet. Aus dieser Per­spek­tive ver­steht man, dass Lügen einer­seits da­zu dient, das be­ste­hende Sys­tem zu kip­pen, und anderer­seits nur eine Form ist, die Auf­merk­sam­keit zu stei­gern.

Beides trifft idealtypisch bei dem neuen Twitter-Besitzer Elon Musk zu­sam­men. Er strebt mit der Wieder­zu­las­sung des von der Selbst­kon­trol­le aus­ge­schlos­senen Trump und sei­nem osten­ta­tiv dis­rup­ti­ven Ge­baren drei Dinge an: ers­tens als kom­mu­ni­ka­ti­ve Kraft zu mäch­tig zu wer­den, um re­gu­liert wer­den zu kön­nen; zwei­tens den bis­her, bei al­ler sys­te­misch an­ge­leg­ten Toxi­zi­tät, doch auch dis­kur­siv orien­tier­ten Mikro­blog­ging­dienst Twitter zu einer kom­plet­ten Cloud-App zu machen, digi­ta­le Kon­trol­le, Daten­an­häu­fung und Steue­rung des Publi­kums zwecks Er­hö­hung von Pro­fit und Macht in­klu­sive; und drit­tens das Ziel aller Nebel-und Lügen­poli­tik, bei al­lem gegen­tei­ligen Ge­rede über unter­neh­me­ri­sche Tu­gen­den und Risi­ko­freu­de vom Staat mas­sive Auf­träge und Sub­ven­tio­nen zu lu­krie­ren und gleich­zei­tig Ver­mögens­steuern zu ver­mei­den oder zu mini­mie­ren. Das Busi­ness heißt Über­wachungs­kapi­ta­lis­mus oder Cloud-Kapi­ta­lis­mus. Das klingt et­was wol­kig-un­ver­bind­lich, aber man kann schön be­schrei­ben, was Kurz mit ihm ver­bindet.

Es wurde oft bemerkt, dass der Cloud-Kapitalismus einige Wunder voll­bringt. Zum einen ver­an­lasst er uns da­zu, kos­ten­los zu ar­bei­ten, zum an­deren, dass er in uns Be­gier­den nach Din­gen er­weckt, die wir drit­tens dort, in der Cloud, gleich haben und kau­fen und auch be­zah­len wol­len, wo­für wir nicht nur mit Geld, son­dern auch mit un­seren Da­ten be­zah­len. Das vier­te Wun­der aber be­steht da­rin, all das nicht zu se­hen und die Vor­gän­ge auf der in­di­vi­dual­psycho­lo­gi­schen Ebe­ne zu be­las­sen. So ist das Inter­essante an der po­li­ti­schen Persona Kurz weni­ger die Tat­sache, dass sein Er­folg auch auf ge­konntem digi­ta­lem Mar­ke­ting be­ruhte; viel inter­es­san­ter sind die Wur­zeln sei­nes radi­kal dis­rup­tiven Han­delns.

Er rückte es nie in den Vordergrund, und auch seine Kri­ti­ker brachten sel­ten die Fäden zu­sam­men. Man­che wur­den erst nach dem Ende sei­ner po­li­ti­schen Lauf­bahn sicht­bar. Aber die Kon­tak­te zum neo­libe­ralen und cloud­orien­tier­ten Kapi­tal ent­stan­den von An­fang an durch seine Chef­be­ra­terin Mei-Pochtler. Sie war nicht nur im welt­wei­ten Execu­tive Commit­tee der Boston Con­sul­ting Group, sie lei­tete auch die Stab­stel­le für Stra­te­gie, Ana­ly­se und Pla­nung im Kanzler­amt, ver­ant­wort­lich für Öster­reichs "Digi­ta­li­sierungs­strate­gie" (im Bei­rat neben an­deren: Wire­card-Chef Markus Braun), sie ver­han­del­te in der ers­ten Koa­li­tion "Wirt­schaft und Ent­büro­kra­ti­sie­rung", und sie ver­mit­telte ge­mein­sam mit ihrem Mann, dem Indus­triel­len Christian Pochtler (seit 2020 eben­falls Auf­sichts­rat in einem ÖBAG-Unter­nehmen), für Kurz Kon­tak­te zu mäch­ti­gen Män­nern der Cloud-Indus­trie wie dem ehe­ma­li­gen Google-Chef Eric Schmidt, auf deren Ein­la­dung Kurz in den USA Ver­an­stal­tun­gen und Semi­nare be­suchte.

Dass Kurz sofort nach Ende seiner Tätigkeit im Kanzler­amt einen Job bei Peter Thiel er­hielt, darf man wohl eben­falls mit sol­chen Kon­tak­ten er­klä­ren. Thiel war der erste of­fen mit dem rech­ten Flü­gel der Repu­bli­ka­ner sym­pa­thi­sie­rende Sili­con-Valley-Tycoon, er be­riet auch Donald Trump und prä­sen­tiert sich als Intel­lek­tu­eller der Neuen Rechten. Er ist nicht nur vom fran­zö­si­schen Kultur­kri­tiker René Girard und des­sen Mimesis-Theorie be­ein­flusst, er ist viel­mehr ein be­ken­nen­der Straussianer. Auf den Philo­sophen Leo Strauss (1899-1973) be­ru­fen sich Gene­ra­tionen der den­ken­den US-ameri­ka­ni­schen Rechten, Neo­cons und Kriegs­trei­ber. Rechts­plato­ni­ker und in der Nach­fol­ge von Carl Schmitt ste­hend, ver­tritt Strauss eine radi­kal anti­auf­kläre­rische Hal­tung. Einer von Thiels be­rühm­tes­ten und am sel­tens­ten ge­le­senen Essays trägt den Titel "The Straussian Moment". Auch wenn Thiel darin, unmittelbar nach 9/11, gegen die Anwendung von Gewalt plädiert, nennt er das Ziel der postmodernen Welt un­miss­ver­ständl­ich: "The peace of the king­dom of God." Der Weg dort­hin ist klar: "Es kann kein wirk­li­ches Über­ein­kom­men mit der Auf­klä­rung ge­ben, denn zu viele ihrer Binsen­weis­heiten haben sich in unserer Zeit als töd­liche Lü­gen er­wiesen."

Neben seiner Tätigkeit bei Thiel Capital agiert Kurz auch als Inves­tor. Eine sei­ner ers­ten Akti­vi­täten war die Grün­dung einer Firma namens "Dream Secu­rity" ge­mein­sam mit dem ehe­ma­li­gen Lei­ter der israe­li­schen Firma NSO, be­rüch­tigt für die Spion­age­soft­ware Pegasus. Ge­schäfts­zweck des Kurz-Unter­nehmens ist "Cyber-Security". Das passt recht gut zu den Akti­vi­tä­ten Thiels, dessen Big-Data-Firma Palantir Techno­lo­gies nicht nur für Hedge-Fonds und Ban­ken ar­bei­tet, son­dern vor allem für das US-Ver­teidi­gungs­minis­terium.

Bei einem Teil der US-amerikanischen Rechten ist das Ver­hältnis zu den Evan­geli­kalen anders als bei Donald Trump nicht nur instru­men­telles Zweck­bünd­nis. Funda­men­ta­lis­mus und Neo­libe­ralis­mus gehen sehr gut zu­sam­men, und Peter Thiel ist da­für ein promi­nen­tes Bei­spiel. Auf funda­men­ta­lere Art wird hier die plat­te öko­no­mi­sche Maxi­me des Fried­rich August von Hayek über­höht, die Wolf­gang Schüs­sel, Kurz' Vor­läufer und Be­rater im Hinter­grund, mit dem Slogan "Mehr privat, weniger Staat" un­über­trof­fen tri­via­li­siert hatte.

Im österreichischen Sandkistenformat erstaunt es nun weniger, dass ein Funda­men­ta­lis­mus-Sympa­thi­sant wie Bern­hard Bonelli, aus­ge­bil­det im Reich Mei-Pochtlers bei Boston Con­sul­ting, das Kabi­nett von Kurz lei­tete. Es nimmt nun weni­ger wunder, dass Natio­nal­rats­prä­si­dent Wolf­gang Sobotka Gebets­stun­den im Par­la­ment ab­hal­ten lässt. Und das evan­geli­ka­le Weihe­spiel von Sebastian Kurz in der Stadt­halle be­kommt einen Sinn.

Das antiaufklärerische Revirement fundamentalistischer Religion ist in Öster­reich mit dem Rück­tritt ver­schie­de­ner von Papst Johannes Paul II. er­nannter Kardi­näle und Bi­schöfe einer moder­neren Kir­che ge­wichen. Aber in Euro­pa kamen zur glei­chen Zeit Re­gimes mit reak­tio­när-kleri­ka­len An­lie­gen auf: Polen und Un­garn mach­ten die "illi­berale Demo­kratie" zum Schlag­wort. Vor allem die Freund­schaft von Kurz zum Orbán-Regime war von An­fang an nicht zu über­sehen.

Die Persona Kurz ist eine Nebelfigur erster Klasse, ein höf­li­cher Rüpel, ver­siert in der Kunst, al­les per­fekt aus­zu­spre­chen und da­hin­ter ganz an­deres zu ver­ber­gen. Nie­mals die Con­te­nance zu ver­lieren und auf schein­bar un­er­schüt­ter­lich net­te Wei­se die Geg­ner gna­den­los mit al­len Mit­teln nieder­zu­machen. Er war nicht nur ein Fabri­kant schö­nen Scheins. Er hat ein Land be­schis­sen, seine ei­gene Par­tei be­schis­sen, die Me­dien, die er mit Staats­knete zu­schiss, die Kir­che, die ihm para­evan­geli­kal hul­digte, das Par­la­ment, das er dis­kre­di­tierte, die Jus­tiz, die er ins­tru­men­ta­li­sierte, die Staats­an­walt­schaft, die er at­ta­ckierte -sie alle sehen den Sauber­mann nun als einen da­stehen, der an­patzte: sich selbst und ein ganzes Land mit ihm

Über den Author:

Armin Thurnher, geboren 1949 in Bregenz, ist Mitbegründer, Chef­redak­teur und Heraus­geber der Wiener Wochen­zeitung FALTER. Er er­hielt zahl­reiche Preise und Aus­zeich­nungen, unter an­derem den Ehren­preis des Öster­rei­chi­schen Buch­handels für Tole­ranz, als erster Nicht-Deut­scher den Otto-Brenner-Preis für seinen Ein­satz für ein so­zia­les Eu­ro­pa und den Bruno-Kreisky-Preis für das poli­ti­sche Buch für sein Lebens­werk. Thurnher ist Autor einer Viel­zahl an Büchern. Im Falter Verlag er­schienen seine poli­ti­schen Kom­men­tare „Seinesgleichen“ und das mit Irena Rosc ver­fasste Koch­buch „Thurnher auf Rezept“. Seine Kolumne „Seines­gleichen ge­schieht“ er­scheint seit 1983 jede Woche im FALTER.

Posted by Wilfried Allé Monday, April 10, 2023 10:32:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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