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Das neue Kapital –  

Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus

von Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger

Wie entsteht ökonomischer Mehrwert im Kapitalismus? Und wie sollte er umverteilt werden? Das waren die zentralen Fragen, die Karl Marx am Übergang zum Industrie- Kapitalismus in »Das Kapital« auf radikale Weise beantwortete. Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge beantworten die gleichen Fragen am Übergang zum globalen Datenkapitalismus neu.

Wir können mit Daten den Markt neu erfinden – und Wohlstand für alle schaffen. Dazu müssen Big Data, Automatisierung und Künstliche Intelligenz ihr Potenzial voll entfalten können. Den Effizienzgewinn dürfen nicht allein die großen Datenmonopolisten einstreichen. Nur wenn dieser allen zugute kommt, schaffen wir eine digitale soziale Marktwirtschaft. In der aber werden Geld und Banken eine untergeordnete Rolle spielen.

Produktinformation

  • Format: Kindle Edition
  • Dateigröße: 1850 KB
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe: 304 Seiten
  • Verlag: Ullstein eBooks (13. Oktober 2017)
  • Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Sprache: Deutsch
  • ASIN: B0725G1JVX
  • Kindle Edition: EUR 19,99
  • Gebundene Ausgabe: EUR 25,00

Kundenrezensionen
 

Man nimmt das Buch zur Hand, die Anspielung im Titel provoziert: Ist "Das Digital" etwa von ebenso hoher Bedeutung wie "Das Kapital"? Worin liegt die Äquivalenz? Können Daten denn Werte und Vermögen bilden? Womöglich sogar Wohlstand für alle bringen?

Schon die ersten Seiten verschmelzen beide Begriffe und beschreiben Datenkapitalismus überzeugend als reales Phänomen. Denn Daten sind der Reichtum des 21. Jahrhunderts.

In einem Merkmal unterscheidet sich "Das Digital" jedoch vom wuchtigen Werk des berühmten deutschen Philosophen in bemerkenswerter Weise: Man blättert darin, liest hinein und kann nicht mehr aufhören zu lesen. Zu gut sind die Geschichten aus erster Hand und erstklassiger Quelle. Man fliegt förmlich durch den Text und fühlt sich unmittelbar angesprochen - wie in einem spannenden Vortrag.

Der Duktus des Autorenduos (Spitzenwissenschafter im Bereich Big Data/Topjournalist bei brand eins) trägt in präzisen Formulierungen von Seite zu Seite, ohne dabei dem wissenschaftlichen Anspruch in die Quere zu kommen. Anekdoten und Kasuistik illustrieren Phänomene, argumentiert wird aber immer über faktische Trends und Entwicklungen.

Obwohl - offenbar mit Absicht - auf die Verwendung von Diagrammen und Abbildungen gänzlich verzichtet wurde, nimmt man als Leser in ganz großem Kopfkino Platz, erste Reihe fußfrei.

Die Narrative der Argumentationslinien in den einzelnen Kapiteln beleuchten und demonstrieren exemplarisch die Fülle von Entwicklungen und Konsequenzen, die sich aus der Informationsrevolution und ihren technischen Möglichkeiten ergeben. Die Verknüpfung des Potentials von Big Data mit der Breitenwirksamkeit von Social Media etwa. Oder das Umkrempeln ganzer Branchen bis hin zur Auslöschung klassischer Berufsbilder und Dienstleistungen.

Meistens sind es bloß Symptome, die wir sehen. Zugrunde liegen aber die rasanten Dynamiken jener Entwicklung, die es uns ermöglichen, riesige Massen an Informationen von und über uns Menschen durch Algorithmen verarbeiten und verwalten zu lassen. Wir digitalisieren uns. Und unsere Werte, immaterielle wie materielle.

Daten werden ähnlich wie Rohstoffe gewonnen und angehäuft; immer mehr Feedbackschleifen und Sensoren liefern immer genauere Daten über Umwelt, technische Anwendungen, Dienstleistungen und Personen. So entsteht rasant wachsender Datenreichtum. Wie die Autoren zeigen, wachsen Profite und Profitmöglichkeiten mindestens ebenso rasant. Aus Daten läßt sich Kapital schlagen.

Ein Vergleich mit den sozio-ökonomischen Erschütterungen der Industriellen Revolution erscheint daher angebracht: vom "Mehrwert", der aus den Datenminen geschöpft wird, fließt nur wenig an die Träger dieser Daten zurück. Wenig fließt auch an Staatsgebilde und ihre klassischen Finanzierungsformen.

Dem Datenkapitalismus ein menschliches Anlitz geben - geht das überhaupt? Dem Streben nach Datenmonopolen wirksame Regulative entgegensetzen - ist das denkbar? Verweist das erfolgreiche Experimentieren mit Microtargeting und Nudging nicht auf unausweichliche politische Dystopien?

Die Autoren plädieren für Maßnahmen, um digitale Formen von Ausbeutung und politischer Manipulation intelligent und effektiv zu verhindern: vernünftige Regulationen wie progressives Data-Sharing, sinnvolle und gerechte Besteuerung und - last but not least! - die Stärkung funktionierender Märkte in der neuen, digitalen Welt. Datenreichtum bedeutet letztlich ja auch, über ausreichend Feedback für die Optimierung dieser Tools zu verfügen.

"Das Digital" listet ein breites Spektrum an Chancen und positiven Utopien auf: optimierte Logistik und Infrastruktur, effiziente Nutzung von Ressourcen, didaktisch individuell angepaßtes Lernen, partielles bedingungsloses Grundeinkommen.

Das bedeutet viele neue, diverse und spezifische Märkte (oft auch Communities) mit vielen Teilnehmern. Die zufrieden sind, weil ein Plus an geeigneten Daten sie zu besseren Produkten und Resultaten bringt.

Das größte Plus aber könnte sein: ein Zugewinn an Entscheidungsfreiheit, an Wissen und an menschlicher Erkenntnis.

Möge dieses Buch viele Leser finden. Es ist ein Manifest für die Emanzipation gegenüber Datenenteignung und Datenmißbrauch. Und für einen Datenreichtum, dessen Dividenden für möglichst viele ausgeschüttet werden.
am 19. Oktober 2017
Viktor Mayer-Schönbergers und Thomas Ramges Buch "Das Digital: das neue Kapital - Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus" (auf Englisch passenderweise "Reinventing Capitalism in the Age of Big Data" betitelt) wirkt auf den ersten Blick wie ein linker Kampfaufruf: aus “Das Kapital” werde “Das Digital“, und "der Datenkapitalismus werde den Finanzkapitalismus ablösen". Die Anspielung ist Absicht: wollte Marx den ökonomischen Mehrwert umverteilen, so müsste heute Information umverteilt werden, finden die Autoren.

In gewohnt präziser, faktenbasierter Weise beschreiben die Autoren, wie datenreiche Märkte schon längst einen traditionell geldbasierten Markt nach dem anderen auflösen. Anhand ausgewählter Fallbeispiele zeigen sie, wie datengetriebene Unternehmen dank immenser Datenansammlungen und dem Einsatz von Big Data, AI-Systemen und Assistenzprogrammen zu passenderen Transaktionen, zufriedeneren KundInnen, und weniger Verschwendung beitragen. Der Finanzkapitalismus ist am Ende, prognostizieren die Autoren- und belegen es plausibel. Gleichzeitig erkennen sie die dringende Notwendigkeit eines klaren gesellschaftlichen und regulativen Rahmens: zum einen, um die Kontrolle über die Datenkraken zu bewahren, zum anderen, um die Veränderungen von Arbeitswelt und menschlicher Entscheidungsaufgabe zu bewältigen.

Dieses Buch endet nicht in der Analyse und mit Fragen, sondern zeigt Visionen und Wege auf. Ein lesenswertes Buch für alle, die am Wandel und der Gestaltung unserer Zukunft aktiv teilhaben wollen.
Gut zu lesen, und absolut lesenswert!
Posted by Wilfried Allé Thursday, March 22, 2018 12:38:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Wir müssen reden 

Warum wir eine neue Streitkultur brauchen von Susanne Schnabl

Laut, drastisch und unversöhnlich. Nicht nur im Netz, auch im öffentlichen, im politischen Diskurs geht es zunehmend um entweder – oder, gut oder böse. Zunehmend dreht sich alles um das schnelle Urteil bzw. Vorurteil dafür oder dagegen. Es ist eng geworden. „Sich binnen Sekunden zu allem eine Meinung zu bilden und diese vehement und unnachgiebig zu verteidigen“, so Susanne Schnabl, „ist legitim. Aber wo bleibt das Dazwischen?“
Ringen um Argumente, um Standpunkte? Dem anderen zuhören, sich austauschen? Wie steht es um unsere Streitkultur in einer temporeichen, unübersichtlichen Zeit, in der die Versuchung nach vermeintlich simplen Antworten so groß geworden ist? Kommt uns die Diskursfähigkeit in aufwühlenden Zeiten abhanden? Weshalb wir wieder mehr Sachlichkeit statt Drama brauchen, erklärt Susanne Schnabl, und fordert eine neue Kultur des Streitens. Die österreichische Journalistin und Fernsehmoderatorin Susanne Schnabl ist zutiefst überzeugt, dass genaues Fragen und noch genaueres Hinhören wichtiger denn je für unsere Debattenkultur und à la longue wichtig für den Erhalt unserer Demokratie ist. Sie steht für Qualitätsjournalismus und moderiert seit vielen Jahren den „Report“, das wöchentliche Fernsehmagazin für Innenpolitik des ORF.

Preis: € 22,50
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.03.2018

 

Rezension aus FALTER 12/2018

„Demokratie ohne Streit gibt es nicht“

ORF-Moderatorin Susanne Schnabl über den Lärm der Empörer und das Schweigen der Mitte

Die öffentliche Debatte ist gehetzt, schrill und gehässig geworden. Dabei werden die Lauten an den Rändern gehört, während die Mitte auseinanderdriftet oder sich in Schweigen einmauert. Die ORF-Journalistin und „Report“-Moderatorin Susanne Schnabl hat ein Buch mit dem Titel „Wir müssen reden“ geschrieben, in dem sie beklagt, dass das gesellschaftliche Gespräch, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, zunehmend von einer ritualisierenden Erregung dominiert wird, die mehr und mehr die Zwischentöne verliert. Dabei werde die einfachste Grundregel der Kommunikation ignoriert: Dem anderen zuhören und zuerst nachdenken, bevor man sich ein Urteil bildet.

Falter: Was war der Anstoß zu Ihrem Buch?
Susanne Schnabl: Ein Anstoß war die Polarisierung im Zuge der Flüchtlingskrise. Da war eine neue Unerbittlichkeit zu spüren. Es gab die Helfer und jene, die das ablehnten. Die wechselseitige Kritik der beiden Lager bestand aber nicht in Argumenten, sondern in Vorwürfen, die auch an uns Journalisten gerichtet waren. Da ging es nicht nur um die gegensätzlichen Meinungen selbst, sondern die Frage, warum wir dem jeweils anderen überhaupt ein Forum bieten, seine Meinung zu sagen. Zudem bestand eine Diskrepanz in der Kritik an uns Journalisten und dem seither steigenden Publikumszuspruch, der sich in einem Zehnjahreshoch befindet. Ich habe mich gefragt: Wo ist die schweigende Mitte?

Wie haben Sie das Gespräch gesucht?
Schnabl: Ich habe zunächst einmal versucht, mit einem jener Menschen zu sprechen, die mir so wütende Mails schrieben – interessanterweise viele mit Klarnamen –, aber ihrer Empörung auch in Foren Luft machten. Sie warfen uns Fake-News vor, teilten jedoch selbst Fake-News über Flüchtlinge. Es hat Monate gedauert, bis mir überhaupt jemand geantwortet hat. Frau T., die ein Nagelstudio im 21. Bezirk betreibt, hatte mir schon zweimal wieder abgesagt. Schließlich durfte ich sie doch besuchen. Und sie hat mir sogar ein Fernsehinterview gegeben. Über die Begegnung mit ihr schreibe ich auch in meinem Buch, weil sie mir exemplarisch erscheint.

Wie war das Gespräch?
Schnabl: Als ich ihr gegenübersaß, war sie erstaunlicherweise gar nicht mehr so zornig. Sie brachte durchaus auch berechtigte Kritikpunkte vor, aber in erster Linie ging es ihr um Resonanz. Das betrifft die Politik und uns Medien. Hinter all den früheren, zornigen Sätzen kam immer wieder die Aussage zutage, dass sie sich nicht wahrgenommen fühle in ihrer Lebensrealität. Und da ist tatsächlich was dran. Manchmal gehen wir Journalisten alle in eine Richtung, ein Thema beherrscht alles, und wir merken das nicht einmal. Wenn wir jetzt eine Glaubwürdigkeitskrise haben, dann hat es meiner Meinung nach neben anderen Ursachen auch damit zu tun.

Antworten Sie allen, die Ihnen schreiben?
Schnabl: Den meisten, aber nicht allen. Die Grenze liegt da, wo es gehässig und extremistisch bis hin zu rassistisch oder antisemitisch wird. Ich kann extreme Menschen nicht erreichen oder gar überzeugen. Deswegen schreibe ich diesen nicht zurück – wenn ich etwa merke, dass jemand in einer eigenen, konstruierten Welt lebt. Und natürlich hängt es von meiner Tagesverfassung ab. Man hat nicht jeden Tag die Zeit und Nerven, sich mit allen auseinanderzusetzen.

Welche Rollen spielen hier die neuen Medien?
Schnabl: Ich bekomme viele Nachrichten noch immer über Mail, aber vieles wird auch in Foren kommentiert. Da ist oft organisierte Kritik oder Hetze dabei, wie es etwa die Puls-4-Infochefin Corinna Milborn erleben musste, als sie den Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer in einem Interview hart anfasste. Nach Recherchen von mokant.at, einem Onlinemagazin für Datenjournalismus, und neuen Auswertungen sind die Lauten, Dominanten in den Debatten eigentlich in der Minderheit. Dass sie gehört werden, überrascht nicht, aber dass sie auch große Resonanz in traditionellen Medien finden, halte ich für eine Fehlentwicklung.

Was passiert derweil mit den Leisen?
Schnabl: Die hört man selten. Sogar Frau T. hat auf den Empörungsdiskurs und Kritik an ihren eigenen Postings mit Rückzug reagiert. Sie teilt auf Facebook nur noch Katzenfotos, Yin-Yang-Zeichen und Werbung für ihr Nagelstudio, aber keine politischen Kommentare oder Zeitungsartikel mehr. Aber was passiert, wenn sich immer mehr Menschen zurückziehen und sie sich nur noch in Minigruppen, in ihren geschützten Blasen und Gruppen austauschen?

Hat das auch mit einer überschießenden Political Correctness zu tun?
Schnabl: Nicht jeder hat die Zeit, sich Kritik zu stellen, und nicht jeder hat so eine dicke Haut, das auszuhalten. Und natürlich gibt es die Angst, von der falschen Seite Applaus zu erhalten. Timothy Garton Ash beschreibt das Problem sehr schön: Alles, was nicht auf meiner Seite ist, ist gegen mich. Widerspruch ist unerwünscht. Auf der rechten Seite gibt es eine Polarisierung in „wir“ und „die anderen“, kritischer Journalismus wird gleich als Fake-News diskreditiert. Und auf der anderen Seite beschneidet die Linke die Redefreiheit durch Forderung nach übertriebener politischer Korrektheit, indem alles, was nicht in ihr Weltbild passt, entweder ausgeladen oder übermalt wird – wie das Gedicht von Eugen Gomringer. Und das zum 50. Jubiläum der 68er-Revolution!

Kann man heute nicht mehr offen oder „ins Unreine“ denken?
Schnabl: Es gibt eine neue Unerbittlichkeit, die meiner Meinung nach auch etwas mit Denkbequemlichkeit zu tun hat. Ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen mit dem anderen. Ich muss nicht nachdenken und hinterfragen. Der Widerspruch wird immunisiert durch Moral. So kann kritisches Denken nicht funktionieren: Wenn ich am Anfang schon weiß, was am Ende rauskommt. Außerdem sollte man zu allem eine fixe Meinung haben, und zwar sofort.

Lassen wir uns zu wenig Zeit, uns eine Meinung zu bilden?
Schnabl: So pauschal kann ich das nicht beurteilen. Aber durch die Rasanz, in der Dinge verhandelt werden, wird der Druck immer größer, zu allem sofort eine Meinung haben zu müssen, ansonsten gilt man als meinungsschwach.

Wie würde richtiges Streiten funktionieren?
Schnabl: Ich komme aus keinem sehr politischen Haushalt. Aber in meinem Elternhaus wurde am Esstisch um Positionen gerungen. Es war meinen Eltern wichtig, Fragen auszudiskutieren, nicht nur in der Pubertät. Wenn ich gegen etwas war oder etwas unbedingt tun wollte, dann musste ich es auch begründen, mit Argumenten. Beim konstruktiven Streiten geht es ums Nachfragen und ums Zuhören. Darum, auch einmal die Perspektive zu wechseln oder gegen den Strich zu denken. Ich bin in Kärnten aufgewachsen und in meiner Schulzeit war Jörg Haider Landeshauptmann. Da war man entweder voll und ganz dafür oder ganz dagegen. Und dazwischen gab es die schweigende Mitte.

Warum braucht Demokratie eine entwickelte Streitkultur?
Schnabl: Demokratie ohne Streit gibt es nicht. Das wäre ja eine Diktatur, wenn alle derselben Meinung zu sein hätten. Deswegen verstehe ich auch gar nicht, warum Streiten im Sinne eines Ringens um Argumente so einen schlechten Ruf hat. Aber den Streit durch die Empörung zu ersetzen, das, was der Medientheoretiker Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch die „große Gereiztheit“ nennt, ist nur allzu bequem. Warum soll es auf der anderen Seite nicht Argumente geben, die genauso stichhaltig sind? Ich muss sie ja nicht übernehmen. Aber ich muss mich mit ihnen auseinandersetzen.

Gibt es spezifisch österreichische Ursachen für die unzureichende Streitkultur?
Schnabl: Die sogenannte Konsensdemokratie ließ wenig Spielraum, dazu kommt das historisch gewachsene Lagerdenken. In Deutschland etwa wird in der Regel härter diskutiert. Eine Streitkultur braucht Auseinandersetzungen auf Augenhöhe und eine Fehlerkultur. Letzteres ist hoffentlich ein Generationenproblem. Damit meine ich, dass es für frühere Autoritäten schwerer war, Fehler zuzugeben, als für zukünftige. Auf Augenhöhe bedeutet, auf jemanden zuzugehen. Deswegen habe ich Frau T. bei sich zu Hause besucht und sie gefragt, ob sie mir erklären kann, was sie meint, was sie gesagt bzw. geschrieben hat.

Kann man rational streiten?
Schnabl: Man kann nicht immer nur trocken Sachargument gegen Sachargument abwägen. Streit hat immer auch mit Emotionen zu tun. Dazu gehört auch Leidenschaft. Das merke ich zu Hause in meiner Familie am Küchentisch, und da geht es ja nur um Banales, wohin man auf Urlaub fährt. Man muss damit umgehen lernen, und das geht offenbar nur auf der Grundlage von Emotionen. Deswegen kann man Fake-News so schwer widerlegen, denn die kommen emotional und spektakulär daher. Fakten hingegen sind unspektakulär nüchtern. Solange es nicht persönlich oder untergriffig wird, kann man auch hart in der Sache bleiben. Die Lösung kann jedenfalls nicht Rückzug und Biedermeier 4.0 lauten.

Bernhard Pörksen schlägt einen „dialogischen Journalismus“ vor. Wie könnte der aussehen?
Schnabl: Wir werden umdenken müssen, wenn wir auch Menschen wie Frau T. erreichen wollen, was ja nicht nur das Anliegen, sondern auch der Auftrag des ORF ist. Bestimmte Menschen erreicht man nur auf ­Facebook, manche schauen nur fern. Aber viele wissen nicht, wie Journalismus überhaupt funktioniert, wie das auch bei Frau T. der Fall war. Deswegen hat sie uns ­Fake-News vorgeworfen. Dialogischer Journalismus bedeutet für mich, sich diesen Schwierigkeiten zu stellen. Dafür gibt es schon zahlreiche Ansätze: Die BBC hat zum Beispiel „Question Time“, wo Politiker und Medienleute Publikumsfragen beantworten, oder Town-Hall-Meetings in den Regionen, die ähnlich funktionieren. Der Spiegel veranstaltet im Mai eine sogenannte Leserkonferenz. Die Zeit Online-Kollegen starten gerade die Fortsetzung von #D17, wo es darum geht, Menschen, die politisch denken, mit Andersdenkenden zusammenzubringen. Und in der TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix steigen der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild-Zeitung, Nikolaus Blome, und der Herausgeber des linksorientierten Freitag, Jakob Augstein, in den Ring. Pro-und-Contra-Formate bieten dem Zuschauer grundsätzlich die Gelegenheit zu entscheiden, welches Argument stichhaltiger ist – und sich dann selbst eine Meinung zu bilden.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 24)

 

Rezension aus FALTER 11/2018

Unterwegs zur Empörungsdemokratie

Debattenkultur: Zwei Bücher plädieren für eine neue Streitkultur und mehr Medienkompetenz für alle

Das Wichtigste ist nicht, was passiert, sondern wie darüber geredet ist. Das Wirkmächtigste ist nicht, was wahr ist, sondern die Interpretation davon. Und die entsteht immer öfter in der Hitze eines Gefechts als in Ruhe, immer mehr auf der Grundlage von Emotionen als von Argumenten. Die Debattenkultur, Grundlage des Vertrauens in einer Demokratie, verkommt – so lautet die Diagnose zweier Bücher, die sich diesem Thema auf unterschiedliche Weise nähern. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beleuchtet in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ die Entwicklung der Öffentlichkeit zur Emotionsindustrie und macht in der vernetzten Welt einen Brandbeschleuniger aus. Die ORF-Journalistin Susanne Schnabl kommt von der anderen Seite, jener der Medien, und fordert in ihrem Buch „Wir müssen reden“ eine neue Streitkultur ein.

Erregung statt Aufklärung
Eine Gesellschaft ist immer nur so klug wie der Diskurs, den sie gerade führt. Gemessen an dieser Weisheit, mit der Susanne ­Schnabl ihre Streitschrift für das Streiten beginnt, haben wir noch Luft nach oben. Denn die gesellschaftliche Debatte, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, ist laut, eng und gehässig geworden, lautet ihre Diagnose, dominiert von einer Dauerempörung. Die einfachste Grundregel der Kommunikation wird dabei ignoriert: „Das Argument des anderen zuerst einmal anhören, bevor man mit Meinung und Urteil schon zur Stelle ist.“ An die Stelle von Argumenten ist eine ritualisierte Erregung getreten. Das Gute dabei: Es wird wieder politisiert. Leider nicht miteinander, sondern in getrennten Räumen. Die ­Debatte trägt Scheuklappen, ist gefangen in ­Milieus, die neuerdings gerne Filterblasen genannt werden, und tendiert zur Selbstgerechtigkeit. Ein amerikanischer Präsident vom Kaliber Donald Trumps trägt zur ­Kontaminierung des Klimas mit Rüpelhaftigkeit und dem Primat von Ego-Agenden bei. Die ­Frage, um die es eigentlich geht – jene, wie wir leben wollen –, gerät dabei aus dem Blickfeld.
Da Schnabl als Moderatorin des Magazins „Report“ Teil des öffentlichen Diskurses ist, nimmt sie sich zuerst einmal selbst an der Nase und sucht das Gespräch mit einer Frau, die nicht nur andere Meinungen vertritt, sondern auch einem anderen ­Milieu angehört. Im 21. Wiener Gemeindebezirk wohnt Frau T., Inhaberin eines Nagelstudios. Ihr Facebook-Profil liest sich wie das einer typischen Wutbürgerin mit Hass auf „die“ Flüchtlinge und „die da oben“. Sie hat Schnabl mit dem Kampfbegriff „Lügenpresse“ bombardiert, deren Anfragen zu einem Gespräch aber nicht wie viele andere ignoriert. Auch weil sie erstaunt war, dass ihre Nachrichten überhaupt gelesen wurden.
Jetzt, einem realen Menschen gegenübersitzend, scheint sie schon weniger zornig. Und aus dem Vorwurf, man dürfe ja nicht mehr sagen, was man denke, wird die Anklage: „Aber mir, uns hier, hört ja niemand zu!“ Trotzdem postet Frau T. auf ihrem ­Facebook-Account mittlerweile nur noch Werbung für ihr Geschäft. Und antwortet auf die Erhitzung der gesellschaftlichen Debatte mit Rückzug. „Die Annahme, die Kommunikation werde durch die sozialen Medien offener, hat sich als Illusion herausgestellt“, folgert Schnabl.

Für eine neue Streitkultur
Wie konnte es passieren, dass eine der Säulen der Gesellschaft, der unabhängige Journalismus, derart in Verruf geriet? Und eine Debattenkultur zur Skandalmaschine verkam? Schnabl sieht die Ursachen nicht nur in der Zweiten Republik, die als „Konsensdemokratie“ konzipiert war, in der wichtige Themen in Hinterzimmern verhandelt wurden und die deswegen keine Streitkultur entwickeln konnte, sondern auch in einer zunehmenden Polarisierung sowie einem neuen Tugendterror, in dem fast alle Lebenslagen mit Moral aufgeladen werden und zwischen Weiß und Schwarz, Gut und Böse kein Platz mehr ist, sowie einer neuen Überempfindlichkeit, die zu einer Infantilisierung des Diskurses führt.
Eine Gesellschaft, in der die Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen aus Angst vor der Reaktion nicht mehr miteinander reden, könne nicht die Lösung sein, meint Schnabl und plädiert für eine neue Streitkultur. Denn die „Kulturtechnik des Streitens“ könne und müsse man ebenso erlernen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Demokratie bedeutet institutionalisierter Streit. Wie kann man den Streit rehabilitieren, wie funktioniert echter Streit? Leidenschaftlich, aber höflich, fair, aber hart in der Sache, meint Schnabl. Dabei gelte es, Dampf aus dem Druckkessel des „Sofortismus“ abzulassen. Manchmal kommt die Wahrheit erst später zutage, und die drängenden Themen der Jetztzeit – Globalisierung, Klimawandel und Zuwanderung – erlauben per se keine schnellen und einfachen Antworten. Schnabl erwähnt als Vorbilder Debattierklubs im angloamerikanischen Raum oder die TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix, in der der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild Nikolaus Blome und der Herausgeber der linken Zeitung Freitag Jakob Augstein ihre argumentativen Messer wetzen. „Am Ende ist man meistens klüger, hat neue Begründungen gehört, bestenfalls eine andere, zusätzliche Perspektive und wurde dabei auch noch gut unterhalten.“ Ein Buch als Appell, flott geschrieben, manchmal flapsig, immer wieder redundant, aber ein Auftakt, den man nicht unbeantwortet verhallen lassen sollte.

Mediengeschichtliche Zäsur
Der Medientheoretiker Bernhard Pörksen kommt zu einem ähnlichen Befund: Das „große gesellschaftliche Gespräch“ drohe in sinnlosen Attacken und bösartigem Gerede zu versinken, und eine zunehmende Diskursanarchie durch den Verlust zivilisierter Filter erzeuge Angst. Die Ursache der immer schnelleren Eskalation von Konflikten und Skandalen und der daraus folgenden Beunruhigung macht Pörksen in den neuen Medien aus. Smartphone, Facebook und Twitter haben eine mediengeschichtliche Zäsur eingeläutet, meint Pörksen, die nicht nur das Kommunikationsklima der Gesellschaft elementar verändert hat, sondern auch den Charakter der Öffentlichkeit beeinflusst, denn sie schließen privates und öffentliches Bewusstsein kurz. Dadurch entsteht eine nie gekannte Dynamik und Dramatik der Enthüllungen, eine rauschhafte Nervosität, die nicht nur Unsicherheit generiert, sondern immer öfter auch in Gewalt endet, obwohl die Erregung oft auf Gerüchten oder Falschmeldungen basiert.
Pörksen exemplifiziert seine Thesen von Anfang an mit anschaulichen Beispielen. Etwa jenem der 13-jährigen Lisa, die am 12. Januar 2016 nachts nicht nach Hause kam und ihre Mutter am nächsten Tag anlog, von südländisch aussehenden Männern vergewaltigt worden zu sein. Bereits einen Tag später tauchten wütende Russen vor einem Flüchtlingsheim auf, Fenster splitterten und ein Sicherheitsmann wurde verletzt. Einer der beliebtesten russischen Fernsehsender berichtete, dass es in Deutschland eine neue Ordnung gebe, und auf einer Veranstaltung der NPD wurde die Todesstrafe für Kinderschänder gefordert. Am 26. Januar, 14 Tage später, warf der russische Außenminister Sergej Lawrow den deutschen Behörden vor, das Verbrechen aus Gründen politischer Korrektheit nicht angemessen zu verfolgen. „Die große Gereiztheit hat nun das Parkett der internationalen Diplomatie erreicht.“ In anderen Fällen, wie jenem des jungen Mannes, der im Juli 2010 in einer Mini-Gemeinde in Florida einen Pastor dabei filmte, wie er dafür eintrat, einen Koran zu verbrennen, führte eine wenig bedeutende Nachricht, die durch soziale Medien globale Verbreitung fand, auch schon zu Dutzenden Toten.

Fünf Krisendiagnosen
Die öffentliche Debatte ist in der Krise. Pörksen macht das an fünf Diagnosen fest. Erstens der Wahrheitskrise: In Zeiten von Fake News und gekonnten Bild- und Videomanipulationen können Realität und Propaganda immer schwerer auseinandergehalten werden. Denn vom Twitter-Poster über den Wikipedia-Mitarbeiter bis zu den Geheimdiensten wird die „große Schlacht um die richtige Auffassung“ oft mit ­falschen Informationen betrieben. Und die neue ­Schnelligkeit der Urteile verbessert ­zumeist nicht ihre Richtigkeit, sondern führt zu einer neuen Ungeduld, zu einer „Unaushaltbarkeit der Ungewissheit“ und „Tabuisierung der Ratlosigkeit“.
Die Diskurskrise bedeutet zweitens eine Gesellschaft auf dem Weg von der Medien- zur Empörungsdemokratie, der ungebremsten Herrschaft der „fünften Gewalt der vernetzten Vielen“: der Verschwörungstheoretiker, rechtsradikalen Agitatoren, aber auch der Hypermoralisierten, die Protestgemeinschaften bilden. Sie verändern als „Publikative eigenen Rechts“ die neben Exekutive, Judikative und Legislative vierte Gewalt des traditionellen Journalismus, können aber selbst kaum zur Rechenschaft gezogen werden. In der Autoritätskrise werden drittens Vorbilder und Mächtige via Skandalen abmontiert und reagieren darauf zumeist mit ängstlicher Anpassung oder – wie im Falle von Donald Trump – mit höhnischer Ignoranz. In der Behaglichkeitskrise geht viertens die Sehnsucht nach Ruhe verloren: Noch nie waren die Schrecken der Welt so unmittelbar und pausenlos sichtbar. Ihre Dauerpräsenz via Fernseher und Smartphone erzeugt Empörung und das Gefühl von Ohnmacht. Vor ihnen gibt es keine Flucht mehr. Und der Begriff der Reputationskrise beleuchtet zuletzt die Tatsache, dass Ansehen im digitalen Zeitalter per se zum gefährdeten Gut geworden ist, unabhängig von Macht und Prominenz.

Die redaktionelle Gesellschaft
Das Problem besteht darin, dass die ­neuen Herausforderungen zugleich technischer und sozialer Natur sind, bestehend aus Geräten – Smartphones mit ­Videofunktion –, dem Aufstieg von Plattform-Monopolisten und einem Vertrauensverlust in Journalisten. „Wir leben in einer Phase der ­mentalen Pubertät im Umgang mit neuen Möglichkeiten, erschüttert von Wachstumsschmerzen der Medienrevolution“, ­konstatiert Pörksen. Da sich diese Entwicklungen schwerlich rückgängig machen ließen, bleibe uns nichts anderes übrig, als mit den neuen Gegebenheiten besser umgehen zu lernen.
Sein Konzept dafür, das er mit diesem Buch vorlegt, sieht für die klassischen Medien einen stärker dialogisch ausgerichteten Journalismus vor, der vom Prediger und Pädagogen zum Zuhörer, Moderator und Diskurspartner wird – einen Weg, den Susanne Schnabl bereits zu gehen versucht. Sowie das Beharren auf der Relevanz von Informationen entgegen dem neuen Primat der Interessantheit von Plattformen wie ­Buzzfeed.com oder heftig.de.
Aber heute ist via Smartphone, Facebook und Twitter jeder Journalist – und trägt deswegen Mitverantwortung für die Qualität der öffentlichen Debatte. Daraus folgt, dass jeder Einzelne das Rüstzeug zu verantwortungsvollen und reflektierten Publikationsentscheidungen braucht. Diesem „Ideal der Medienmündigkeit“, einer „Utopie der redaktionellen Gesellschaft“, komme man nur durch ein konsequentes Bildungsangebot näher, insistiert Pörksen, dadurch, dass journalistische Fähigkeiten „zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos“ werden.
Mediengeschichte und -praxis, Machtanalyse und angewandte Irrtumswissenschaften, die ein „Wertegerüst des öffentlichen Sprechens“ bilden, bestehend aus den Prinzipien Wahrheitsorientierung, Skepsis, Proportionalität, Ethik und Transparenz, gehören für Pörksen dazu, am besten unterrichtet in einem eigenen Schulfach. Das klingt plausibel. Und Pörksen wäre mit seiner Fähigkeit zur anschaulichen Darstellung und Synthese bestens geeignet, dafür das Unterrichtsmaterial vorzulegen. Damit bekäme ein Journalismus neuer Prägung die Chance, zu einer allgemeinen Kulturtechnik oder gar zu einem Bewusstseinszustand zu werden.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 30)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 21, 2018 9:27:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Politik der Emotion 

von Olga Flor

Ein engagiertes Plädoyer für eine Politik, die Fakten diskutiert und nicht Stimmungen instrumentalisiert
Aus der Reihe „Unruhe bewahren“ in Kooperation mit der Akademie Graz, dem Literaturhaus Graz und DIE PRESSE.
Mit intellektueller Präzision und Radikalität bezieht Olga Flor Position gegen jene populistische Stimmungsmache, die sich derzeit so gerne als Vertretung der gefühlten Mehrheitsmeinung eines schwammig definierten Volkskörpers ausgibt. Diese „Politik der Emotion“ benutzt berechtigte Ängste, anstatt ihre realen Ursachen zu analysieren. Die zunehmende Unüberschaubarkeit der Ökonomie und die wachsende Informationsdichte dienen ihr als Nährboden, vereinfachte Schuldzuweisungen und „Bauchgefühle“ sind ihr ideologisches Kapital. Dagegen setzt Olga Flor die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses, der Widerspruch zulässt und vor der Komplexität der Fakten nicht zurückschreckt, der Aufklärung will und nicht Vernebelung von Tatsachen.

Preis:
€ 18,00
Verlag: Residenz
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 88 Seiten
Erscheinungsdatum: 23.01.2018

 

Rezension aus FALTER 12/2018

„Der ,freie‘ Markt erledigt das nicht!“

Die Schriftstellerin Olga Flor findet, dass der Neoliberalismus genug zerstört hat. Weniger privat, mehr Staat!

Der Falter vom 22. Februar 2017 wird als Symptomquelle herangezogen. Olga Flor scannt die „Kleinanzeigen eines österreichischen Wochenblatts, das sich durchaus schmückt mit den Insignien der Urbanität, Aufklärung, Recherchequalität, Ironie“ und findet dort AstroCoaching, Selbstliebe-Training, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Holomantische Energie- und Gedankenarbeit oder Intime Körperarbeit für Genießerinnen und Menschen auf dem Weg dorthin – „also Menschen auf dem Weg zu den Genießerinnen, wie man annehmen darf?“
Gegen dergleichen esoterische Rückzugsbestrebungen und den „Wunsch nach Wohlgefühl, Wärme, Weichheit“ wäre, so die Schriftstellerin, „ja auch nichts weiter einzuwenden, solange die Beschäftigung mit dem eigenen, naturgemäß etwas begrenzten Selbst nicht alle Ressourcen frisst, solange sie die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ergänzt und nicht an deren Stelle tritt“.
Flor hat das nun in einem in der sehr ansprechend gestalteten Reihe „Unruhe Bewahren“ bei Residenz erschienenen Essay (zunächst in der unter dem nämlichen Titel laufenden Vorlesungsreihe an der Akademie Graz) formuliert. Es ist ein knapp gehaltener, kurzweiliger und auf zahlreiche interessante Details zoomender Panoramaschwenk über die Verwerfungen in der politischen Landschaft der Gegenwart: Trumps „Twittergewitter“ werden ebenso bedacht wie die Politik mit Angst und Neid oder die Krise der Rationalität, sprich: des argumentbasierten Diskurses im Zeitalter der permanenten Gekränktheitsbereitschaft.
„Freiheiten können auch unter formal demokratischen Bedingungen (…) sehr schnell verschwinden, wenn der Glaube an ihren Wert in größeren Teilen der Bevölkerung erst dahin ist“, schreibt Flor zu Beginn des Kapitels „Market Demands“, das sich mit der „Marktnachfrage“ als Letztbegründung für alles und jedes beschäftigt. Als Beispiel führt sie die Türkei nach dem Putschversuch im Jahr 2016 an. Angesichts der politischen Vorgänge in Österreich, zuletzt der Hausdurchsuchung im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), kann man das Augenmerk aber ruhig aufs eigene Land richten.
Im Abspann dankt Olga Flor Josef Haslinger für die Erlaubnis, den Titel verwenden zu dürfen. Sie hätte nicht nachfragen müssen, aber Haslingers Österreich-Essay „Politik der Gefühle“, der seinerzeit in Reaktion auf die Wahl von Kurt „Ich habe nur meine Pflicht getan“ Waldheim zum Bundespräsidenten erschien, ist natürlich nicht weit entfernt. Haslinger bemerkt darin unter anderem, dass „die klassische Agitation“, mit der die Politik die Emotionen ihrer Adressatinnen und Adressaten für deklarierte Ziele und Zwecke mobilisiert, in Misskredit geraten sei. Die von ihm beschriebene „Politik der Gefühle“ hingegen funktioniere genau andersrum: „Es ist die Strategie einer prinzipiellen Standpunktlosigkeit. Der Werber bewegt sich selbst, umschmeichelt den Umworbenen, hält ihn in gegebenen Gefühlswelten fest und bestätigt diese. Deren Abkunft interessiert ihn nicht, nur deren Ausdruck.“
1987, als der Essay erschien, war Sebastian Kurz ein Jahr alt. Er scheint die „Politik der Gefühle“ mit der Muttermilch aufgesogen zu haben.

Falter: Können wir vielleicht gleich zu Beginn ein Missverständnis ausräumen?
Olga Flor: Wenn es geht. Welches?

Dass Emotionen böse sind und in der Politik nichts verloren haben.
Flor: Natürlich muss man Emotionen sehr ernst nehmen, es ist aber auch Aufgabe der Politik, sich mit den Lebensumständen und Tatsachen zu befassen, die ihnen zugrunde liegen.

Apropos Tatsachen: Sie schreiben einmal vom „nostalgischen Begriff der Faktizität“.
Flor: Genau, in einem Stoßseufzer: „Ach, was waren das noch für faktische Zeiten damals!“

Wobei in der „postfaktischen“ Epoche … 
Flor: … die Emotionen als solche schon Argument genug sind. Das „Wir fühlen uns gekränkt“ oder „Wir sind wütend“ gilt schon als Begründung und Rechtfertigung. Hier wird ein Wir-Gefühl als Abgrenzung von „den anderen“ erzeugt. Und das Andere schlechthin sind derzeit die Asylsuchenden. Wenn es die nicht gäbe, würde sich aber schon wer anderer finden.

Basiert letztendlich nicht jedes „Wir“ auf einer Abgrenzung?!
Flor: Tut es das? Ich denke, jeder Wir-Begriff ist fluide und kann entsprechend offen sein. Nur aus aktuellem Anlass: Ich kann – gemeinsam mit Gleichgesinnten, die sich dann als ein „Wir“ definieren – für oder gegen das Rauchverbot sein, ohne „die anderen“ aggressiv als „böse“ zu markieren. Die haben eben andere Interessen. Problematisch wird es, wenn man auf einer diffusen Wir-Identität eine Politik gründet.

Aber gibt’s dazu überhaupt eine Alternative? Die Krise etwa der europäischen Sozialdemokratie hat doch damit zu tun, dass sie ein glaubhaftes „Wir“ nicht anzubieten hat?
Flor: Das Problem besteht hier aber weniger in einem mangelnden Wir-Begriff, sondern darin, dass sich die Sozialdemokratie schon mit Tony Blair ganz dem neoliberalen Konzept verschrieben hat.

Ob die Besinnung auf „alte Werte“ und traditionelle Wählerschichten reicht, ist allerdings sehr die Frage.
Flor: Die Sozialdemokratie hat den Fundamentalfehler gemacht, zu übersehen, dass sich die Arbeitswelt ändert. Ich zum Beispiel war am Anfang meiner Berufskarriere in den 90er-Jahren eine klassische neue Selbstständige, nicht sozial- und mit Ach und Krach krankenversichert, von Mutterschutz keine Rede. Leute wie ich sind von den Gewerkschaften behandelt worden, als wären sie der Inbegriff des Klassenfeinds, und die Sozialdemokratie hat so getan, als wäre der vollzeitbeschäftigte Metallarbeiter noch immer ihr Hauptadressat. Damit hat sie aber nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen den Zug der Zeit verpasst: Unlängst stand in der Süddeutschen Zeitung, dass Beschäftigte in der Pflegebranche nach dreijähriger Ausbildung in Deutschland 2600 Euro verdienen, wohingegen das Einkommen eines Arbeiters oder einer Arbeiterin in der Metallindustrie deutlich mehr als das Doppelte beträgt. Man hing da viel zu lange einem nostalgischen Bild an. Das ist sicher keine unterprivilegierte Gruppe mehr, was auch damit zusammenhängt, dass die Angestellten der Metallbranche gewerkschaftlich organisiert sind.

Wogegen sich ja nichts sagen lässt.
Flor: Natürlich nicht, im Gegenteil. Die Gewerkschaften hatte Margaret Thatcher nicht grundlos als Feindbild identifiziert, das es zu zerschlagen galt. Und deswegen ist es ja auch ein Hauptanliegen des Neoliberalismus, so etwas wie gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern und die Idee in die Köpfe zu pflanzen, dass jeder und jede ganz alleine für sich und das eigene Scheitern verantwortlich sei.

Ist die Wut des vielzitierten Arbeiters aus dem „Rust Belt“ nicht auch verständlich oder zumindest nachvollziehbar?
Flor: Da geht es, wie der Wahlkampf von Trump auch gezeigt hat, doch auch darum, dass die privilegierte Stellung des weißen, heterosexuellen Mannes nicht mehr so selbsterklärend selbstverständlich ist wie in den 50er- und 60er-Jahren.

Apropos Trump: Ist es nicht die entscheidende Frage, warum Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen?
Flor: Sie können mich jetzt eine Bildungsnostalgikerin schimpfen, aber ich bin schon der Auffassung, dass es unterlassen wurde, Menschen in ausreichendem Maß in die Lage zu versetzen, die politischen Gegebenheiten zu analysieren. In der Hinsicht scheint mir auch die Aufrechterhaltung des sogenannten „differenzierten“ Schulsystems in Österreich mit einer frühzeitigen Trennung der Kinder als absolut kontraproduktiv. Ich glaube allerdings, dass diese Sortierung nach sozialer Herkunft durchaus gewollt ist. Man sollte die Bildung aber nicht dem Privatfernsehen überlassen. Ich hatte in letzter Zeit während mehrerer Krankenhausaufenthalte die Gelegenheit, das diesbezügliche Angebot genauer zu studieren. In den permanent laufenden Verkaufs-, Hochzeits-, Dating- und Beautyshows wird vor allem Frauen das Gefühl vermittelt, nicht zu genügen, und als „Trost“ wird die Einsicht angeboten, dass es anderen noch schlechter geht. Da geht es um eine vermeintliche Aufwertung des eigenen Ichs auf Kosten anderer, wie man sie überall beobachten kann. Den ohnehin schon Benachteiligten wird dann das Zuckerbrot der Herabwürdigung anderer angeboten. Statt Verteilungsgerechtigkeit gibt es eine „Nivellierungsgerechtigkeit nach unten“.

Auch das fügt sich in das Muster der „Privatisierung“ dessen, was früher einmal mehr oder weniger selbstverständlich öffentliche Angelegenheit und Sache des Staates war.
Flor: Ja, wobei hier in Österreich geradezu nach Lehrbuch vorgegangen wird: Zuerst die Desavouierung der freien Presse, dann ein „Sicherheitspaket“, dann der Versuch, den Verfassungsgerichtshof umzufärben. Dass ein Staat mit Steuergeldern ein Bildungs- oder Gesundheitssystem für alle zu gewährleisten hat, ist eine Idee, die immer stärker in Misskredit gerät. Es sei denn, es geht um die Erhaltung der Straßen – die wurde noch von keinem Rechtspopulisten infrage gestellt.

Wäre es nicht notwendig, Standards des Wohlstands zu definieren? Dinge, die wirklich jedem zustehen. Es ist doch absurd, dass in einer Gesellschaft, die moderne Computertechnologie als selbstverständlich betrachtet, Empörung darüber herrscht, dass Geflüchtete über Smartphones verfügen?
Flor: Ja. Das ist wieder genau dieses auf Neid und Ausgrenzung basierende Wir-Gefühl, das ich kritisiere. Deswegen bin ich auch der Auffassung, dass es Aufgabe der Politik ist, Plattformen einzurichten und anzubieten, wo sich Menschen real begegnen und miteinander diskutieren. Das wäre auch ein probates Mittel, um der von den sozialen Medien beförderten „Blasenbildung“ entgegenzuwirken, die dafür sorgt, dass man nur noch Menschen begegnet, die die eigene Meinung teilen. Wenn sich die Stadt Graz für die Olympischen Winterspiele bewerben möchte – was ich für eine Schnapsidee halte, weil sich damit noch jede Stadt ruiniert hat –, wäre es doch sinnvoll und nötig, das vor der Bewerbung mit und in der Bevölkerung breit zu diskutieren.

Was also sollte die Politik Ihrer Meinung nach tun?
Flor: Man muss in der Tat versuchen, mithilfe der guten alten Umverteilung, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen – und das auch vermitteln. Und man muss versuchen, das Konzept der Exklusion durch Angebote der Teilhabe zu ersetzen. Der „freie“ Markt erledigt das nicht. Die Pflege von alten oder kranken Menschen etwa ist auf Basis eines durchschnittlichen Einkommens auf legalem Wege einfach nicht zu gewährleisten. Also kann man sich nicht mit der typischen hingeschummelten österreichischen Lösung begnügen, sondern muss das Problem einmal ganz klar benennen und eine realistische staatlich finanzierte Lösung finden. Es kann ja nicht sein, dass man für die Heimpflege mehr zuschießt als für eine, die zu Hause stattfindet. Es darf auch nicht sein, dass die pflegenden Angehörigen unter der Last zusammenbrechen.

Die türkis-blaue Regierung hat demnächst die ersten hundert Tage hinter sich, wie fällt Ihre Einschätzung aus?
Flor: Sebastian Kurz wird die ständigen Ausflüge einiger FPÖ-Politiker in Richtung des ultrarechten Spektrums nicht ewig beschweigen können, ohne sich lächerlich zu machen. Als Bundeskanzler trägt er die Verantwortung dafür, dass solche Personen Schlüsselstellen in Politik und Verwaltung übernommen haben. Ist die martialisch inszenierte Hausdurchsuchung und Beschlagnahmung von behördliche Unterlagen im BVT als Einschüchterung gedacht oder sind das schon die heftigen Vorwehen von etwas, worüber man sich „noch wundern“ wird? Oder vielleicht wundert man sich gar nicht, vielleicht ist es genau das, was zu erwarten war.

Klaus Nüchtern in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 34)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 21, 2018 9:01:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Internat 

Roman von Serhij Zhadan

In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt.

Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn „geparkt“ hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.
Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft. Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. Zhadan lebt in Charkiw.

Preis: € 22,70
Übersetzung: Juri Durkot
Übersetzung: Sabine Stöhr
Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 300 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.03.2018

Rezension aus FALTER 11/2018

Wenn nichts mehr so ist, wie es war

Serhij Zhadan erzählt vom Krieg in der Ukraine aus der Perspektive jener, die zwischen die Fronten gerieten

Wenn Menschen ums Leben kommen, Städte brennen, Tausende ihr Zuhause hinter sich lassen und fliehen müssen, dann ist es auch mit dem Alltag des Schriftstellers vorbei. Das sagte der ostukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan angesichts des Krieges zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten im Donbass vor vier Jahren in einem Interview mit Spiegel online. „Wir alle sind heute in einer Situation, in der es gilt, das Wichtigste zu behaupten: das Recht auf Freiheit, das Recht auf unseren souveränen Staat, das Recht auf unsere Zukunft. Ob man darüber schreiben kann? Man kann nicht, man muss.“
Als Sänger einer Band ist Zhadan in den letzten Jahren immer wieder in den Donbass gereist, um Konzerte zu geben und Hilfsmittel dorthin zu transportieren. Seine Texte sind von anschaulicher Direktheit, seine Beobachtungen von lakonischer Präzision. „Jeder Tote an der Front“, so Zhadan, „schürt den Hass, jedes zerbombte Haus provoziert Flüche, jeder Tag im Widerstreit ist ein weiterer Baustein an der endlosen Mauer, die wir jetzt zwischen uns errichten.“

Vom Krieg, vom Hass und dem tiefen Graben zwischen den Menschen im Donbass erzählt Serhij Zhadan nun auch in seinem neuen, beeindruckenden Roman „Internat“. Es ist die Geschichte einer Metamorphose: Der unpolitische, sich aus allem heraushaltende Lehrer Pascha bricht auf, um seinen 13-jährigen Neffen aus dem nahe gelegenen Internat abzuholen. Aber nachdem die Kriegshandlungen eingesetzt haben, ist die Situation brenzlig, die üblichen Kommunikationskanäle sind zusammengebrochen, auf die Infrastruktur ist ebenso wenig Verlass wie auf die Behörden, die sich in Auflösung befinden.
Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Stadt in eine bedrohliche, undurchschaubare Zone der Gewalt verwandelt. Wo eben noch Nachbarn waren, gibt es nun Flüchtende, wo eben noch Ordnung herrschte, regiert nun Willkür. Die kurze Reise zum Internat wird für Pascha zu einer surrealen Erfahrung, die auch ihn verändert. Er durchquert eine Landschaft, in der sich urbane und dörfliche Kulissen ablösen, die etwas Unwirkliches, Geisterhaftes, Apokalyptisches angenommen haben. Er begegnet Rohheit und Zynismus, Elend und Hilfsbereitschaft, und die Zeit dehnt sich, während er sich seinen Weg durch die einstmals vertraute, nunmehr vollkommen fremd gewordene Umgebung bahnt.
Unklar bleibt, wer hier überhaupt das Sagen hat oder seine Kompetenzen unrechtmäßig überschreitet – es ist ein rechtsfreier Raum, in dem fortwährend Kontrollen stattfinden, als müsste der Schein gewahrt werden, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Von Unterschlupf zu Unterschlupf kämpft sich der erschöpfte und zugleich hellwache Pascha weiter zu seinem Ziel, von seiner Angst und Mutlosigkeit weniger gelähmt als angetrieben.
Pascha erreicht schließlich das Internat, er findet seinen Neffen unversehrt, aber die Szenerie gleicht auch hier einer befremdenden Kriegslandschaft. Jede einzelne Begegnung auf seiner Odyssee lässt ihn die Orientierungslosigkeit stärker wahrnehmen. Und während er mit seinem Neffen durch Minenfelder und Kanonenfeuer im Zickzack zurückzufinden sucht in die noch verschonte Heimat, erkennt er nach und nach die Unhaltbarkeit seines bisherigen Lebens. Er wusste, wie ihm nun in aller Drastik vor Augen geführt wird, nichts über die Welt. Es ist eine existenzielle Erfahrung.
„Internat“ – das bedeutet im Ukrainischen auch Waisenheim. Und genau das ist diese Ostukraine, die aufgerieben wird zwischen den verschiedenen Interessen: ein Ort, an dem die heimatlos Gewordenen ums Überleben kämpfen.
Das Großartige an Zhadans Roman ist, wie sich hier Realitätspartikel und Albtraumsplitter auf gespenstische Weise vermischen. Fast schon parabelhaft erzählt „Internat“ von einer zeitenthobenen Schreckenssphäre: Die Bilder, die Zhadan von dieser dreitägigen Wanderung durch die versehrte Stadt zeichnet, sind von immenser Suggestivität. Man fühlt sich durch die Wucht der Sprache, die fortwährend gesteigerte Gereiztheit der Protagonisten, die zum Reißen gespannte Atmosphäre hineinversetzt in eine Zwischenwelt, in der das Alltägliche als Vorhölle erscheint.

Wo die Kampflinien verlaufen, ist kaum zu sagen. „Es schlägt ganz in der Nähe ein, vor allem aber schlägt es so ein, dass man nicht weiß, wohin es als Nächstes fallen wird. Die ganze Zeit Explosionen: mal hinter den Gleisen, mal hinter dem Boulevard. Alle drücken sich an die Wände, nach der Explosion hört man ein gedämpftes Heulen, dann wird es still. Bis die Stille hinter den Fenstern wieder reißt und das Heulen wieder anfängt. ,Es brennt!‘, ruft jemand am Eingang, und alle stürzen dorthin, schauen aus dem Fenster. Auch Pascha schaut hinaus, steht mitten in dieser Menschenmenge, die ihn vor einer halben Stunde noch fast mit ihren Goldzähnen zerrissen hätte, und sieht, wie hinter den Hochhäusern öliger schwarzer Qualm aufsteigt, so ölig und schwarz, als würden dort Leichen verbrannt.“
Zhadan erzählt von der Absurdität des Krieges – nicht aus der Perspektive der Soldaten, sondern aus dem Blickwinkel jener, die unversehens und unverschuldet zwischen die Fronten geraten.
In jeder Zeile sind die Erfahrungen spürbar, die der Autor auf seinen Reisen in den Donbass gesammelt hat und von denen ihm die Menschen erzählt haben. Zu einem Kunstwerk aber wird der Roman durch seine verstörende Szenerie und der von Juri Durkot und Sabine Stöhr brillant ins Deutsche gebrachten Sprache.

Ulrich Rüdenauer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 17)

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:57:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Hochdeutschland 

Roman von Alexander Schimmelbusch

Victor kann sein albernes Siegerdasein als erfolgreicher Investmentbanker schon lange nicht mehr ernst nehmen. Alle Versuche, sich zu verlieben, scheinen ebenso zum Scheitern verdammt zu sein, wie es seine Ehe war. Er ist ein Produkt der marktorientierten deutschen Gesellschaft und dieselben Fähigkeiten, auf denen sein Erfolg in diesem System basiert, weisen ihm jetzt den Ausweg – eine Revolution.

Er bewohnt eine gläserne Villa im Taunus, hat bei Bedarf Sex im Spa-Bereich des Hotel Adlon und schafft es, die Work-Life-Balance der Mitarbeiter seiner Bank in einem rentablen Ungleichgewicht zu halten. Doch all das führt zu nichts. Zum Glück lernt er den italophilen Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland kennen, dessen Lebenstraum es ist, nach seiner politischen Laufbahn als steinreicher Investmentbanker mit dem Ferrari durch Mailand zu gleiten. Dafür braucht er Victors Hilfe und unterstützt ihn im Gegenzug dabei, eine populistische Bewegung zu gründen, deren rohe Lebendigkeit Victor erlösen wird. In seinem Roman wirft Alexander Schimmelbusch ein grelles Licht auf die deutsche Volksseele und stellt die zentralen Fragen unserer Zeit: Ist unser System kaputt? Was ist Elite? Können wir überhaupt noch kommunizieren? Haben wir Prinzipien? Welchen Preis zahlt man dafür, nach seinen eigenen Regeln zu leben? Ist es Zeit für einen radikalen Neuanfang? Für eine Stunde null, wie nach einem Krieg?   Alexander Schimmelbusch, geboren 1975 in Frankfurt am Main, wuchs in New York auf, studierte an der Georgetown University in Washington und arbeitete dann fünf Jahre lang als Investmentbanker in London. Sein Debüt »Blut im Wasser« gewann den Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage. »Hochdeutschland« ist sein vierter Roman.

Preis: € 20,60
Verlag: Tropen
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 214 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.03.2018

 

Rezension aus FALTER 11/2018

Der Neoliberalismus ist bloß Schnee von gestern

In seinem Zukunftsroman „Hochdeutschland“ imaginiert Alexander Schimmelbusch das Ende unseres Systems

Irgendwann einmal wird es auch mit dem Neoliberalismus ein Ende nehmen. Vielleicht, weil niemand mehr an die höhere Vernunft des Marktes glauben will. Vielleicht, weil den Gewinnern des freien Spiels der Kräfte ganz einfach langweilig wird. Coole Villen, teure Weine, scharfe Autos: Soll das wirklich alles gewesen sein? Okay: Dass der Neoliberalismus eines Tages von seinen Profiteuren zu Grabe getragen wird, dass sie irgendwann den ultimativen Kick nur noch in der Vergesellschaftung des Reichtums suchen, klingt jetzt erst einmal nicht sehr wahrscheinlich. Aber man kann sich ja mal ausmalen, was wäre, wenn …
Alexander Schimmelbuschs Roman „Hochdeutschland“ buchstabiert diese Möglichkeit vom Ende der totalen Herrschaft des Marktes aus. Der Held heißt Victor, das wird kein Zufall sein. 39 Jahre alt, Investmentbanker, Inhaber der Birken Bank, Spezialität Mergers & Acquisitions, also Unternehmenskäufe, Fusionen, all das. Die Ehe allerdings ist zerbrochen, nun bekommt er im Spa eines Berliner Luxushotels, was er als Mann so zu brauchen glaubt. Der wichtigste Mensch ist ihm seine Tochter, seine einzige wirklich ernste Wette auf die Zukunft. Durch den Taunus, das Revier des Frankfurter Geldadels, rast er mit einem hochgetunten Elektro-Porsche. Man wird die Handlung also um die Mitte unseres Jahrhunderts datieren können.
Die Zeit der großen Fusionen ist dann vorbei, weil einander nur noch wenige große Konglomerate gegenüberstehen. Nun gilt plötzlich als wahre Lehre, sich aufs Kerngeschäft zu konzentrieren und alle Unternehmensteile abzustoßen, die damit nichts zu tun haben: Schließlich kann eine Investmentbank auch damit ihr Geld verdienen. Victor durchschaut dieses Spiel und macht sich keine Illusionen darüber, dass damit nur ein neuer Zyklus seinen Anfang nimmt und die nunmehr filetierten Unternehmensteile früher oder später wieder fusioniert werden, um den Investmentbanken ein weiteres Geschäft zu sichern. Soll das alles im Leben gewesen sein?

Dann doch lieber eine Revolution! Alles rückgängig machen, was die neoliberale Ideologie in den letzten Jahrzehnten angerichtet hat. Die ­Infrastruktur zurück in die Hände des Staats; für eine neue bürgerliche Gesellschaft kämpfen, die auf allen Ebenen das gemeinsame Wohl in den Mittelpunkt stellt, von der gerechten Verteilung der Vermögen bis zur ­Gleichberechtigung der Geschlechter. Und Victor weiß auch schon, wer ihm beim Aufbau einer entsprechenden Bürgerbewegung mit seinen Erfahrungen helfen kann: der türkischstämmige Bundesfinanzminister, dem er im Gegenzug seinen größten Wunsch erfüllen kann, einen Posten als Investmentbanker in Mailand samt Dienst-Ferrari.

Der Roman treibt ein böses Spiel mit der tiefen Verunsicherung, die sich in den westlichen Industriestaaten breitgemacht hat. Die vertrauten politischen Lager haben sich aufgelöst, es ist gar nicht mehr so einfach, bestimmte Positionen der Linken, den Liberalen oder den Konservativen zuzuordnen.
Wo die Politik nicht überhaupt der Wirtschaft ihr ureigenes Terrain überlassen hat, spielt sie immer häufiger den Unternehmer, der sich eher ungern mit der Frage aufhält, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Man nennt diese Zeit gerne postideologisch, vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner, wenn man einen Mangel an grundlegenden Überzeugungen konstatiert, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Und so können Investmentbanker und Finanzminister problemlos ihre Rollen tauschen, wobei der Banker immer die Nase vorn hat, denn er verfügt über das Geld und die Expertise, der sich die Politik nur zu gern anvertraut. Dass Schimmelbusch selbst fünf Jahre als Investmentbanker gearbeitet hat, lässt einen bei der Lektüre bisweilen schaudern. Aber dann auch wieder durchatmen, denn, so lernen wir aus diesem Buch: Auch Investmentbanker erzählen ihrem Publikum nur Geschichten, denen man glauben mag – oder auch nicht.

Tobias Heyl in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:31:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Wurzeln 

Die trügerischen Mythen der Identität

von Maurizio Bettini

Ein heilsames Vademecum gegen die Leitkultur- Debatte, eine kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Missbrauch von Tradition und Geschichte.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von unseren »Wurzeln« sprechen? In unsicheren Zeiten beschwören wir (statt der Zukunft) gern Geschichte und Tradition, unser kulturelles Erbe, die gemeinsame Identität. Doch Bilder und Metaphern sind keineswegs unschuldig. Mit dem der »Wurzeln« – so Bettini – drücken wir aus, dass unsere Welt so bleiben soll, wie sie ist. Wir wehren uns gegen Wandel und grenzen uns von anderen ab, deren eigenen kulturellen Wurzeln wir keineswegs dieselbe Wertschätzung entgegenbringen.
Die Metapher suggeriert etwas Naturgegebenes, im wahrsten Sinne »Fundamentales«, eine quasi automatische Zugehörigkeit. Dabei wissen wir eigentlich, dass auch unsere Kultur wie alle anderen durch Aneignung, Wandel und Vermischung mit fremden Einflüssen entstanden ist; dass die vielzitierte kollektive Erinnerung oft nicht mehr ist als persönliche Nostalgie.
Mit funkelnder Ironie umkreist Bettini die vielen Spielarten unserer neuen identitären Obsession: von wiederentdeckten, wenn nicht gar erfundenen Traditionen bis zur Inflation von Gedenktagen, vom Kult der Authentizität und Ursprünglichkeit bis zur Idealisierung von Großmutters Küche. Maurizio Bettini, geb. 1947, lehrt als Professor für klassische Philologie an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Mythologie und Anthropologie und schreibt regelmäßig für »La Repubblica«.
Wurzeln
 
Preis: € 16,50
Übersetzung: Rita Seuß
Verlag: Kunstmann, A
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.02.2018


Rezension aus FALTER 11/2018

Verabsolutierung des Eigenen und Provinzialismus

Wurzeln: Maurizio Bettini legt ein Plädoyer gegen identitäre Bewegungen und für die freie Gesellschaft vor

Die Figur auf dem Buchumschlag macht schon klar: Wurzeln sind dem Autor nicht geheuer. Sie wachsen dem Menschen auf dem Cover aus den Füßen beziehungsweise ist er durch sie mit dem Boden verwurzelt und muss wie ein Baum an Ort und Stelle stehen. Wurzeln beengen – lautet die These von Maurizio Bettini. Sie schmälern unseren Blick auf die Gegenwart, auf die kulturelle Vielfalt, auf unsere Freiheit, Ungebundenheit und unsere Möglichkeiten. Er sieht die pluralistische Gesellschaft in Gefahr, wenn neue Bewegungen Begriffe wie „Identität“ oder „Wurzeln“ von Rechtsaußen okkupieren und über Nationalstaatliches stülpen.
In Deutschland wurde der Begriff „Heimatministerium“ salonfähig, und die FPÖ forderte ein „Heimatschutzministerium“. US-Präsident Trump rief protektionistisch „America first!“ und es ging um die christlichen Wurzeln, die wieder heraufbeschworen wurden. Italien, Polen und Irland wollten sie in der Präambel einer europäischen Verfassung verankern, die allerdings nicht zustande kam. Gleichzeitig leben wir in einer mobilen globalen Gesellschaft. Nie zuvor gab es so viel Anknüpfung und Bezugspunkte zu anderen Kulturen. Ganz ohne Verlust der persönlichen Identität bereichern uns diese Erfahrungen und schärfen den Blick sowohl auf Gewohntes als auch auf Neuartiges.

Dass Identität schwer zu definieren ist, verleiht der Metapher der Wurzel ihre Popularität, mag sie auch noch so abgedroschen sein. Wurzeln sind ein sprachliches Bild, das eine Tradition und die daraus abgeleitete Identität als biologisches Schicksal oder unvermeidliches Erbe beschreibt. Aber Tradition ist keine genetische Anlage, die sich mechanisch von einer Generation zur nächsten überträgt, meint Bettini, sondern wird Schritt für Schritt aufgebaut.
Geht es nach ihm, so sind Muster rekonstruiert und erlernt: mit der Schrift verbreitet, mit Sprache und Tracht zur Schau gestellt und besonders im Bereich der Kulinarik verklärt.
Dabei ist der Apfel quasi ein Integrationswunder aus Kasachstan, und die Marille kam aus Armenien zu uns. Der gebürtige Toskaner bringt aber natürlich das Beispiel Polenta. Er schont sich selbst nicht und relativiert an seinem eigenen Beispiel den nostalgischen Schleier, der ihm den Blick zurück trübt, wenn er sich an seine Jugend in Livorno erinnert.
Im italienischen Original, unter dem Titel „Radici. Tradizioni, identità, memoria“, ist sein Büchlein 2016 übrigens als eine Weiterentwicklung des Essays „Contro le radici“ (Gegen die Wurzeln, 2012) erschienen. Der kleine, feine Kunstmann-Verlag war auf der Suche nach interessanten Stoffen zum Thema Identität. Er hatte dazu zuletzt 2013 den Titel „Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“ des Belgiers Paul Verhaeghe im Programm. Bettinis Buch kam da gerade recht.

Der Professor für klassische Philologie lehrt an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Dementsprechend liefert er zuerst eine Begriffsklärung und warnt dann mit historischem Unterfutter vor dem Phänomen der sozialen Ausgrenzung. Den 19 knappen Kapiteln schließt sich ein übersichtliches, umfangreiches Quellenverzeichnis an.
Künstliche ethnische Zuschreibung und erfundene Tradition polarisieren und spalten die Gesellschaft. Das zeigt er nicht nur anhand von Beispielen aus der Antike. Besonders erhellend und erschreckend ist die Schilderung der Hintergründe des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi. Die imperialistischen Europäer projizierten Wurzeln und Unterschiede, wo vorher keine waren, und spalteten Ruandas Bevölkerung in zwei Gruppen – eine tragische und paradoxe Situation, die in Krieg mündete.
Bettini beruft sich auf den Schriftsteller Fernando Pessoa, wenn er Folgendes verdeutlicht: Wenn man das Eigene verabsolutiert, führt das immer zu Provinzialismus. Einerseits sind wir so geschichtsvergessen, dass wir, wie der Zeit-Kolumnist Harald Martenstein sagt, die Vergangenheit mit ihren Fehlbildungen ausradieren möchten. Andererseits verklären wir Vergangenes und gehen davon aus, dass wir ausgerechnet heute wissen, was die einzige Wahrheit ist.

Doch Kultur ist kein monolithischer Block. Sie verändert sich. Es geht nicht darum, etwas zu verleugnen, sondern mit ungetrübtem Blick zu sehen und für sich selbst zu definieren, wer man ist und welche Werte für einen gelten. Wer das plumpe Argument der Wurzeln vorschiebt, läuft Gefahr, sich mit reaktionärer Sicht zu erinnern, Vergangenes aufzuwärmen und zu überhöhen, was längst nicht mehr zeitgemäß ist, aber auch früher nicht die heute fantasierte Kraft besaß. Selbst Griechenland sei als einzige Wiege der Demokratie erst im Nachhinein in einer Art Heilsgeschichte (v)erklärt worden.
Als Basis für eine Leitkulturdebatte, die nicht an der Oberfläche bleibt, bietet sich Bettinis kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung im Schlepptau von reaktionärer Idealisierung an. Er zerlegt abgedroschene Metaphern unter Berücksichtigung der Erkenntnisse von Etymologie, Biologie, Kulturgeschichte und Rhetorik. Und er betont, dass die gerne bemühte „Tabula rasa“ auch keine Option darstellt. Als Wappnung gegen populistische Vereinnahmung propagiert er das Grundgerüst der Werte der Aufklärung.
Eine zukunftsfähige Tradition beinhaltet für den Autor Menschlichkeit, Toleranz und Offenheit. Diese europäischen Werte kann man besser verteidigen, wenn der Blick nicht engstirnig und der Standpunkt nicht festgenagelt ist. Statt den Wurzeln schlägt er die Metapher des fließenden Stroms mit vielen Einflüssen aus Nebenflüssen vor, die die Identität im wahrsten Sinne „beeinflussen“.

Juliane Fischer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 35

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:12:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Liebe in Zeiten des Kapitalismus 

Unsere Gesellschaft in zehn Thesen

Wie funktioniert die Liebe in Zeiten des Kapitalismus? Warum sehnen wir uns nach Sicherheit? Was wird uns die Zukunft bringen? An welchen Gott wollen wir noch glauben? Warum finden wir Geiz geil? Was bedeutet uns Freiheit? Welche Konsequenzen hat Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung?
Robert Misik, der renommierte Sachbuchautor, macht sich Gedanken zu unserer Gegenwart. Anhand zehn exemplarischer Begriffe, die Zeitgeist und Verfasstheit unserer Gesellschaft treffend skizzieren, geht er der Frage nach, welchen Paradigmen wir unsere Leben unterwerfen. Robert Misik, arbeitet regelmäßig für die in Deutschland erscheinende taz sowie für die in Österreich erscheinenden Zeitschriften profil und Falter, des Weiteren betreibt er auf der Homepage der Tageszeitung Der Standard einen Videoblog. Er ist Sachbuchautor, etwa des Theoriebestsellers Genial dagegen, publizierte bisher bei Aufbau und Picus. Jüngste Publikation: Was Linke denken, 2015.

Preis: € 19,90
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

Rezension aus FALTER 9/2018

Misiks Stichworte zur geistigen Situation der Zeit

Publizist Robert Misik hat ein unterhaltsames wie kluges Handbuch für kritische Zeitgenossen geschrieben

Denken ist das größte Abenteuer. Es gibt kein entschiedenes Handeln, das mit zahmem Denken einhergeht: Stay Strong, Stay Brave, Stay Rebel!“, schreibt Robert Misik im Vorwort seines neuen Buches „Liebe in Zeiten des Kapitalismus“.
Es wäre zu gefällig zu schreiben, dass das Denken eine Renaissance erlebt. Gedacht wurde immer, neu (oder besser gegenwärtig) ist, dass sich wieder mehr Menschen für Theorien und Erklärungsmuster und damit auch für Handlungsanweisungen interessieren.
In Zeiten der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, nach bald zehn Jahren der Wirtschafts- und Politikkrise, die Trumpismus, Orbánismus und Kurzismus an die Macht gebracht hat, im Angesicht neuer Religionen wie Apple und neuer sozialer Gesellschaftsformen wie Facebook, sucht man nach Antworten. Was ist los mit uns? Was sind unsere Werte? Ist das noch meine Welt? Und wenn nein, wo ist hier der Ausgang?

Misiks Antworten und Wegweiser sind zeitgemäß mit Hashtags versehen und in 33 kurze Kapitel verpackt. Jürgen Habermas’ „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“, erschienen 1979, waren ihm dabei Vorbild. Der Vielschreiber griff dabei auch auf Vorlesungen, Vorträge und Essays zurück, die er in den letzten 17 Jahren für die taz, den Falter, das Profil und den Standard geschrieben hat. Das macht das Buch – im Unterschied zu vielen klugen, aber langweiligen wissenschaftlichen Publikationen – erfreulich gut lesbar und zugänglich.
Wer gerade frisch verliebt ist, blättert beispielsweise zum Kapitel #Liebe, das Misik klugerweise mit den Schlagworten #Kapitalismus und #Tinderisierung zusammenfasst und in dem er uns eine Tour d’Horizon über den Einbruch der Konsumkultur und der Selbstoptimierung in unser Beziehungsleben gibt. Es geht um „sexuelle Performance“, also Sex als Leistung, um unsere Vorstellungen von romantischer Liebe, die im Grunde ein Klischee westlichen Upperclass-Kapitalismus sind – Kerzenlichtdinner, Schampus und Erdbeeren, ein Trip nach Venedig.
Sein ganzes Können als philosophischer Feuilletonist und feuilletonistischer Philosoph spielt Misik bei Begriffen wie #Spiessigkeit oder #Ironie aus, die er mit Witz, Leichtigkeit und sehr viel Selbstironie seziert. Wir erfahren nicht nur Autobiografisch-Anekdotisches, etwa wie Misik – bekanntermaßen selbst dem Gestus des Intellektuellen gehorchend mit wildem Haar, Lederjacke und im Sommer auch schon einmal bloß im Ruderleiberl – einmal verzweifelt die Polizei rief, weil das Männermodel unter ihm unentwegt Party feierte und er nicht mehr schlafen konnte. Zudem liefert uns Misik natürlich auch klassische Zugänge der kritischen Soziologie. Weil Waren heute „Kultur-Waren“ sind, imitieren Firmen den „Gestus der Avantgarde – immer neu, immer hip, immer am Puls der Zeit. So wurde auch die Schrägheit, wie die Spießigkeit, zu einem Lifestyle unter vielen“, schreibt Misik.

Kritisch geht Misik auch mit der #Ironie ins Gericht, die ihre „große Zeit hinter sich“ habe, wenn sie „sich selbst zur stets gegenwärtigen Dauerironie verallgemeinert“. Zwar sei „die totale Ironieunfähigkeit“ immer noch „unerträglicher als die Totalironie“, aber trotzdem habe die Ironie uns in eine Sackgasse manövriert.
In der Süddeutschen Zeitung würdigte Heribert Prantl die Geschwister Scholl, die vor 75 Jahren von einem Unrechtsrichter zum Tode verurteilt wurden, als Heldinnen des Widerstands gegen Adolf Hitler. Das Deutsche Grundgesetz kennt Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und – anders als das österreichische – auch Artikel 20 Absatz 4. Gegen jeden, der es unternimmt, die Grundrechte zu beseitigen, haben „alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Deutsche Juristen nennen das „kleiner Widerstand“. Widerspruch, Zivilcourage, Whistleblowerei, Gutmenschentum.
Misik hat ein kleines, feines Handbuch für jene geschrieben, die an den kleinen Widerstand glauben.

Barbaba Tóth in FALTER 9/2018 vom 02.03.2018 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 28, 2018 12:56:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Ende der Kreidezeit 

Ein bisschen Schule - und der irre Rest des Lebens

von Niki Glattauer

Schule war gestern, diesmal geht es um den Rest des Lebens. Bestsellerautor Niki Glattauer, nebenberuflich berühmtester Schuldirektor Österreichs, legt in seiner neuen Satire den Kreidefinger auf die Wunden unserer digitalen Irrwitz-Gesellschaft: Navis mit bitterbösem Eigenleben, Do-it-Yourself-Kassen im Supermark ohne t, Callcenter in Kalkutta, ländliche Orte ohne Kerne, und – wohin man starrt – Handys, Handys, Handys. Glattauers Heldin ist die aus seinen „Lukas ...“-Büchern („Österreichischer Buchliebling“, Belletristik, 2014) bekannte Mathe-Lehrerin Reingard Söllner. Pointenreich, vergnüglich und surreal überzeichnet führt Glattauer die alleinerziehende Mutter durch den Wahnsinn „Alltag“, er lässt sie wütend werden, lachen, verzweifeln, staunen – und beim Bärlauchpflücken zwischen galoppierenden, selbstfahrenden Gigalinern sogar ihr kleines Glück finden. Glattauer eben.

Preis: € 24,90
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Astronomie
Umfang: 196 Seiten
Erscheinungsdatum: 05.02.2018

 

Rezension aus FALTER 8/2018

 

Nicht Pippi hat ein Problem

Kinder & Smartphones: Die wahren Fallen der Verdigitalisierung sind andere

Mein Sohn, 9, ist so einer: Als er in der Kapuze seiner Winterjacke Kastanien sammelte, sagte er nicht: „Ich tu die Kastanien in die Kapuze“. Er sagte: „Ich tu die Kastanien in den Speicherplatz da.“ Und meine Tochter, 15, ist so eine: Wenn du sie ein Mal ohne Stöpsel in ihren Ohren aus dem Zimmer kommen siehst, in dem sie ihre Pubertät zuzubringen pflegt, fragst du dich irritiert, was in ihrem Gesicht plötzlich nicht stimmt.
Was ich damit sagen will: Meine Kinder sind beide genau wie diese Pippi Langstrumpf 2.0 auf den Illus in der letzten Falter-Ausgabe, die die Welt vor allem per Display wahrnimmt. Und trotzdem schrillen bei mir die Alarmglocken, wenn ich sehe, wie Menschen 30+ plötzlich konzertiert gegen das Handy mobilisieren und eine Phalanx bilden, um den Untergang des Abendlands zu beklagen, oder zumindest den der Kindheit.

Bestimmt. Der Smarttrottel macht etwas mit uns. Und mitunter höchst Unerfreuliches. Ich sehe junge Menschen, die nur noch miteinander reden, wenn sie gerade kein Netz haben, und ihre Eltern höchstens dann ansprechen, wenn ihr Smarttrottel leider lädt; ich stelle fest, dass das, was einmal ein ordentlicher Fußgängerfließverkehr war, inzwischen vollkommen zum Erliegen gekommen ist, weil die Blicke sämtlicher Beteiligten 20 Zentimeter unter dem eigenen Kinn wieder enden; und ich sehe Menschen im strömenden Regen stehen und auf der Wetter-App nachschauen, ob sie einen Schirm brauchen. Ich nenne das in meinem neuen Buch das „Ende der Kreidezeit“ – wir analogen Menschen sind die Dinosaurier unserer Zeit.
Ich kenne aber auch Mütter, die seit Jahren keine TV-Serie auslassen und jetzt ihre Kinder dafür kritisieren, am „digitalen Tropf“ zu hängen; ich weiß von Vätern, die es schaffen, sogar beim Sex mit ihrem Arbeitsplatz zu telefonieren oder eingehende Mails zu checken, aber für den Fortpflanz (© Polly Adler) mit erhobenem Zeigefinger handyfreie Zonen, Tage und sogar Schulen fordern. Und die heftigsten Ex-68er sprechen sich plötzlich für den kalten Entzug von Drogen aus, solange es sich bei diesen um iPhone, Smartphone, Tablet & Co handelt.

Überhaupt, warum wird alles, was jemand mit Leidenschaft tut, als Sucht abgestempelt? Ich bin auch nicht radiosüchtig, nur weil ich mir, so oft ich kann, das Radio aufdrehe, oder fernreisesüchtig, nur weil ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit so weit wie möglich verreise. Oder das: Da kriegt eine wochenlang ihren Kopf nicht hoch, isst nur nebenbei und zwischendurch, redet nicht, reagiert nicht, wenn man sie anspricht, benimmt sich, als lebte sie in einem Paralleluniversum, weil sie nämlich, nein eben nicht …, sondern BÜCHER VERSCHLINGT.
Bezeichnen wir jemanden, der oder die gern und viel liest, abwertend als süchtig? Unterstellen wir solchen auch Kontaktunfähigkeit und Soziopathie und diskutieren dann über die Höhe der maximal zulässigen Dosis, pro Tag 30 Minuten Lesen für Zehnjährige sind genug, ab 15 Jahren 60 plus ein bücherfreier Tag, so was? Meine beiden Kinder sind Leseratten, sind ziemlich gut in der Schule, haben einen wachen Geist und eine ausgeprägte Empathiefähigkeit, und das, obwohl wir den Smarttrottelgebrauch in all den Jahren nie groß reglementiert oder gar verboten haben. Ein paar Tabus gibt es: Kein Kasterln (so heißt glattauerintern das mentale Versinken in elektronischen Quadern aller Art) beim gemeinsamen Essen, keines bei der gemeinsamen Fahrt in einem Öffi, keines nach dem Zubettgehen, keines, wenn Freunde oder Freundinnen zu Besuch sind. Den Rest der Zeit verbringen wir alle mehr oder weniger online. Nicht selten stundenlang.

Und nur als Gedanke jetzt: Kann es sein, dass uns die Handy-Diskussion in Wahrheit nur von der wahren Falle der aktuellen Verdigitalisierung unserer Gesellschaft ablenken soll? In diese sind wir nämlich, wenn du mich fragst, längst getappt: Angefangen von Netbanking über Do-it-yourself-Kassen im Supermarkt bis zum Web-Check-in am Flughafen lassen wir uns sehenden Auges ununterbrochen Arbeiten umhängen, die noch bis gestern andere Menschen für uns getan haben und dafür auch mehr oder weniger anständig bezahlt worden sind. Überall werden Arbeitsplätze wegrationalisiert, weil wir so dumm sind, Dienstleistungen an uns nun selber zu verrichten.
Die sprichwörtliche Billa-Kassierin, die Stewardess, die Bankangestellte sind demnächst Schnee von gestern, als Nächstes, lese ich, sind Chauffeure, Briefträger und Notare dran. Die Protagonistin meines neuen Buches, eine doppelte Mutter und Mathe-Lehrerin, unterrichtet noch selbst. Im richtigen Leben da draußen hält so mancher Physiklehrer seine Stunden bereits, indem er seine Lieben vor den Laptop setzt, ihnen kurz zeigt, welcher Youtuber die Gravitation am besten erklärt, und sich dann liebevoll George zuwendet.

Nikolaus Glattauer in FALTER 8/2018 vom 23.02.2018 (S. 46)

Posted by Wilfried Allé Monday, February 26, 2018 5:58:00 PM Categories: Sachbücher/Natur Technik/Astronomie
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... sind Bücher und Zeitschriften 

ausgewählt nach ganz persönlichem Geschmack von Wilfried

Also lassen Sie sich nichts einreden, was gut und lesenswert ist. Entscheiden Sie stets selbst, was lesenswert ist!
Wenn das hier Vorgestellte eine Hilfestellung ist, freuen wir uns darüber und kann auch bewertet werden (Rate this Content:  5 Sterne  = Bestnote) und/oder in einem Kommentar (Comments) festgehalten werden
Gerne geben wir hier auch Empfehlungen vom Magazin "Falter" 1:1 weiter.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 7, 2018 1:04:00 PM
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Puszta-Populismus 

Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?

Als Viktor Orbán 2010 die Wahl in Ungarn gewann, sprach er von einer „Revolution an der Wahlurne“. Seitdem hat der Rechtspopulist die Institutionen in Ungarn auf seine Machtbedürfnisse maßgeschneidert und will nun auch die EU umkrempeln.
In der Wählergunst ist der Ungar nach wie vor unumstritten – trotz Korruptionsskandalen rund um die Regierungspartei Fidesz. Was macht Orbán so erfolgreich ? Seine populistische Rhetorik ist ein Schlüssel seines Erfolges, meint Autor Stephan Ozsváth.
Er zeigt auf, wie meisterhaft der ungarische Ministerpräsident mit Ängsten spielt und daraus politisches Kapital schlägt. Er bedient sich dabei nationaler Mythen und Rollenbilder. Orbán setzt auf Symbole wie den Mythenvogel Turul, er okkupiert den Aufstand von 1956 und inszeniert sich als Anführer einer Nation von Freiheitskämpfern, die sich gegen ausländische Mächte zur Wehr setzt: Der David-Goliath-Mythos im magyarischen Gewand. In seinem Rhetorik-Baukasten hat Orbán Globalisierungskritik, Anti-Establishment-Parolen und sogar antisemitische Verschwörungstheorien.
Während der Flüchtlingskrise stellte sich Orbán als Verteidiger des Christentums dar - und Ungarn als Bollwerk gegen den Ansturm der Muselmanen. Eine Rhetorik, die sein Publikum in das Jahr 1526 versetzt, als die Türken die Ungarn bei Mohács überrannten. Diese populistischen Assoziationsfelder machen Angst und sie kommen an. Nicht nur in Ungarn, sondern zunehmend auch im Rest Europas. Fast unwidersprochen kann sich Viktor Orbán als Verteidiger Mitteleuropas gegen eine „Völkerwanderung“ inszenieren – ein Anti-Merkel.
Aus dem liberalen Revoluzzer von einst ist ein Politiker geworden, der einen illiberalen Staat errichtet. Im Herzen der EU ist er der Spaltpilz, der die Union von innen angreift. Kämpfernatur Orbán wettert heute gegen die Macht der „Brüsseler Bürokraten". Er sieht sich als Vorkämpfer einer anti-liberalen Gegenbewegung, die mehr Nation und weniger Europa will.
Als Populist braucht Orbán Sündenböcke. Er trat eine perfide Kampagne los, die Flüchtlinge pauschal mit Terroristen gleich setzte, er hält die ungarische Gesellschaft in einem ständigen Erregungszustand, einem künstlichen Krieg mit Worten und Symbolen: Ein Heerführer ohne Soldaten. Seine Waffe sind Trugbilder, Halbwahrheiten, Lügen.
All das dient letztlich nur einem Ziel: Dem eigenen Machterhalt. Der Kollateralschaden ist enorm. Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten, Hass statt Zusammenhalt ist die Devise, Hunderttausende kehren ihrer Heimat den Rücken. Doch Orbán wird zum Vorbild für Europas Populisten, sein illiberaler Staat ist die Blaupause.

Vorwort: Paul Lendvai
Preis: € 16,50
Verlag: danube books Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Sonstiges
Umfang: 200 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.10.2017

Rezension aus FALTER 6/2018

Der kann ja gar kein Ungarisch!

Der Journalist Stephan Ozsváth erklärt, warum Viktor Orbán ausgerechnet in Ungarn reüssiert

Der kann ja gar kein Ungarisch“: Wenn die Ausländer Ungarn nach allem Erklären immer noch nicht verstanden haben, handelt es sich um einen Fall von mangelnder Bereitschaft, sich auf die komplizierte Psyche dieser verkannten Nation einzulassen. Manchmal funktioniert das Argument­ nicht, wie im Falle des früheren Wiener ARD-Korrespondenten Stephan Ozs­váth, Sohn eines ungarischen Vaters. Er kann Ungarisch. Gegen ihn hilft nur der unverblümt ideologische Angriff auf den „Verräter“. Ausländische­ Kritik „an Ungarn“ beruht entweder­ auf schierer Unkenntnis, oder sie kommt in Wirklichkeit von innen, so die Propaganda: Die illoyale Opposition bedient sich ihrer Kontakte zum Ausland.
Ozsváth, der selbst schon Opfer eines nationalen Shitstorms war, beschreibt nachvollziehbar, wie das funktioniert. Der „Werkzeugkasten des Populisten“, so Ozsváths erstes Kapitel, umfasst eher grobe Instrumente: viel Angst, eine Portion Starker-Mann-Getue, Pomp, etwas Ideologie, aber von Letzterem nicht zu viel.

Die Macht Viktor Orbáns, der Ungarn seit siebeneinhalb Jahren ungefährdet regiert, beruht wesentlich auf dessen Bereitschaft, die Minderwertigkeitskomplexe, die Mythisierung der Geschichte, ein diffuses Bedrohungsgefühl, gerechtfertigte Abstiegs- und irrationale Entgrenzungsängste sowie Fremdelei gegenüber der großen, weiten Welt zusammenzusetzen.
Mit der so gewonnenen Popularität zieht man auch die Elite der Nation in seinen Bann, die vielleicht nicht so leicht zu elektrisieren ist, die sich aber von Orbáns Macht gern ein Stück ausleiht. Wer nicht mitmachen will, kann ja gehen. Viktor Orbán, der „Puszta-Populist“, wie Ozsváth seinen negativen Helden im Buch nicht weniger als 16 Mal nennt, war in seinen Zwanzigern nach Ozsváths Befund ein Linksliberaler; im Buch finden sich dafür schöne Belege. Gerade die Konversion macht sein Charisma aus: Hier regiert einer, der auch die andere Seite gut kennt.

Mit Orbáns Psychologie hält Ozsváth sich nicht weiter auf, wie es überhaupt zu den Stärken seines Buches gehört, dass es nichts überhöht, nichts mystifiziert. Etwas mehr hätte man allerdings gern über das nationale Nervengeflecht erfahren, das Orbán so erfolgreich nutzt. Sind die vielzitierten nationalen Traumata alle wirklich so spezifisch ungarisch? Ist das Selbstbild als Glacis Europas nicht auch in allen benachbarten Nationen verbreitet?
„Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?“, fragt schüchtern der Untertitel. Dabei legt Ozsváth überzeugend dar, dass sein „Puszta-Populist“ sich von den Konstruktionsfehlern der Union prächtig nährt. Für einen Regierungschef in der Pose des Volkstribuns und des Rächers der Enterbten ist die Gemeinschaft wie gemacht. Funktionieren kann die Projektion nur in Staaten von mittlerer Größe, deren es in der Union allerdings eine Menge gibt: Sie müssen nur groß genug sein, im Baltikum oder in Luxemburg hätte ein Orbán keine Chance.
In Deutschland oder Frankreich dagegen würden die Wähler ihre Anführer nicht aus der Verantwortung für Europa entlassen.
Im Vorwort zu Ozsváths Buch lobt der alte Ungarn-Kenner Paul Lendvai, dass der Autor „keine abstrakten oder romantischen Zukunftsszenarien skizziert“. Schlussfolgerungen darf der Leser selbst ziehen. Dass Orbán etwa für Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ein schönes Role-Model abgibt, muss man ja nicht unbedingt aussprechen.

Norbert Mappes-Niediek in FALTER 6/2018 vom 09.02.2018 (S. 21)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 7, 2018 12:51:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Sonstiges
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