Rezension aus FALTER 12/2018 „Demokratie ohne Streit gibt es nicht“ ORF-Moderatorin Susanne Schnabl über den Lärm der Empörer und das Schweigen der Mitte Die öffentliche Debatte ist gehetzt, schrill und gehässig geworden. Dabei werden die Lauten an den Rändern gehört, während die Mitte auseinanderdriftet oder sich in Schweigen einmauert. Die ORF-Journalistin und „Report“-Moderatorin Susanne Schnabl hat ein Buch mit dem Titel „Wir müssen reden“ geschrieben, in dem sie beklagt, dass das gesellschaftliche Gespräch, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, zunehmend von einer ritualisierenden Erregung dominiert wird, die mehr und mehr die Zwischentöne verliert. Dabei werde die einfachste Grundregel der Kommunikation ignoriert: Dem anderen zuhören und zuerst nachdenken, bevor man sich ein Urteil bildet. Falter: Was war der Anstoß zu Ihrem Buch? Susanne Schnabl: Ein Anstoß war die Polarisierung im Zuge der Flüchtlingskrise. Da war eine neue Unerbittlichkeit zu spüren. Es gab die Helfer und jene, die das ablehnten. Die wechselseitige Kritik der beiden Lager bestand aber nicht in Argumenten, sondern in Vorwürfen, die auch an uns Journalisten gerichtet waren. Da ging es nicht nur um die gegensätzlichen Meinungen selbst, sondern die Frage, warum wir dem jeweils anderen überhaupt ein Forum bieten, seine Meinung zu sagen. Zudem bestand eine Diskrepanz in der Kritik an uns Journalisten und dem seither steigenden Publikumszuspruch, der sich in einem Zehnjahreshoch befindet. Ich habe mich gefragt: Wo ist die schweigende Mitte? Wie haben Sie das Gespräch gesucht? Schnabl: Ich habe zunächst einmal versucht, mit einem jener Menschen zu sprechen, die mir so wütende Mails schrieben – interessanterweise viele mit Klarnamen –, aber ihrer Empörung auch in Foren Luft machten. Sie warfen uns Fake-News vor, teilten jedoch selbst Fake-News über Flüchtlinge. Es hat Monate gedauert, bis mir überhaupt jemand geantwortet hat. Frau T., die ein Nagelstudio im 21. Bezirk betreibt, hatte mir schon zweimal wieder abgesagt. Schließlich durfte ich sie doch besuchen. Und sie hat mir sogar ein Fernsehinterview gegeben. Über die Begegnung mit ihr schreibe ich auch in meinem Buch, weil sie mir exemplarisch erscheint. Wie war das Gespräch? Schnabl: Als ich ihr gegenübersaß, war sie erstaunlicherweise gar nicht mehr so zornig. Sie brachte durchaus auch berechtigte Kritikpunkte vor, aber in erster Linie ging es ihr um Resonanz. Das betrifft die Politik und uns Medien. Hinter all den früheren, zornigen Sätzen kam immer wieder die Aussage zutage, dass sie sich nicht wahrgenommen fühle in ihrer Lebensrealität. Und da ist tatsächlich was dran. Manchmal gehen wir Journalisten alle in eine Richtung, ein Thema beherrscht alles, und wir merken das nicht einmal. Wenn wir jetzt eine Glaubwürdigkeitskrise haben, dann hat es meiner Meinung nach neben anderen Ursachen auch damit zu tun. Antworten Sie allen, die Ihnen schreiben? Schnabl: Den meisten, aber nicht allen. Die Grenze liegt da, wo es gehässig und extremistisch bis hin zu rassistisch oder antisemitisch wird. Ich kann extreme Menschen nicht erreichen oder gar überzeugen. Deswegen schreibe ich diesen nicht zurück – wenn ich etwa merke, dass jemand in einer eigenen, konstruierten Welt lebt. Und natürlich hängt es von meiner Tagesverfassung ab. Man hat nicht jeden Tag die Zeit und Nerven, sich mit allen auseinanderzusetzen. Welche Rollen spielen hier die neuen Medien? Schnabl: Ich bekomme viele Nachrichten noch immer über Mail, aber vieles wird auch in Foren kommentiert. Da ist oft organisierte Kritik oder Hetze dabei, wie es etwa die Puls-4-Infochefin Corinna Milborn erleben musste, als sie den Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer in einem Interview hart anfasste. Nach Recherchen von mokant.at, einem Onlinemagazin für Datenjournalismus, und neuen Auswertungen sind die Lauten, Dominanten in den Debatten eigentlich in der Minderheit. Dass sie gehört werden, überrascht nicht, aber dass sie auch große Resonanz in traditionellen Medien finden, halte ich für eine Fehlentwicklung. Was passiert derweil mit den Leisen? Schnabl: Die hört man selten. Sogar Frau T. hat auf den Empörungsdiskurs und Kritik an ihren eigenen Postings mit Rückzug reagiert. Sie teilt auf Facebook nur noch Katzenfotos, Yin-Yang-Zeichen und Werbung für ihr Nagelstudio, aber keine politischen Kommentare oder Zeitungsartikel mehr. Aber was passiert, wenn sich immer mehr Menschen zurückziehen und sie sich nur noch in Minigruppen, in ihren geschützten Blasen und Gruppen austauschen? Hat das auch mit einer überschießenden Political Correctness zu tun? Schnabl: Nicht jeder hat die Zeit, sich Kritik zu stellen, und nicht jeder hat so eine dicke Haut, das auszuhalten. Und natürlich gibt es die Angst, von der falschen Seite Applaus zu erhalten. Timothy Garton Ash beschreibt das Problem sehr schön: Alles, was nicht auf meiner Seite ist, ist gegen mich. Widerspruch ist unerwünscht. Auf der rechten Seite gibt es eine Polarisierung in „wir“ und „die anderen“, kritischer Journalismus wird gleich als Fake-News diskreditiert. Und auf der anderen Seite beschneidet die Linke die Redefreiheit durch Forderung nach übertriebener politischer Korrektheit, indem alles, was nicht in ihr Weltbild passt, entweder ausgeladen oder übermalt wird – wie das Gedicht von Eugen Gomringer. Und das zum 50. Jubiläum der 68er-Revolution! Kann man heute nicht mehr offen oder „ins Unreine“ denken? Schnabl: Es gibt eine neue Unerbittlichkeit, die meiner Meinung nach auch etwas mit Denkbequemlichkeit zu tun hat. Ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen mit dem anderen. Ich muss nicht nachdenken und hinterfragen. Der Widerspruch wird immunisiert durch Moral. So kann kritisches Denken nicht funktionieren: Wenn ich am Anfang schon weiß, was am Ende rauskommt. Außerdem sollte man zu allem eine fixe Meinung haben, und zwar sofort. Lassen wir uns zu wenig Zeit, uns eine Meinung zu bilden? Schnabl: So pauschal kann ich das nicht beurteilen. Aber durch die Rasanz, in der Dinge verhandelt werden, wird der Druck immer größer, zu allem sofort eine Meinung haben zu müssen, ansonsten gilt man als meinungsschwach. Wie würde richtiges Streiten funktionieren? Schnabl: Ich komme aus keinem sehr politischen Haushalt. Aber in meinem Elternhaus wurde am Esstisch um Positionen gerungen. Es war meinen Eltern wichtig, Fragen auszudiskutieren, nicht nur in der Pubertät. Wenn ich gegen etwas war oder etwas unbedingt tun wollte, dann musste ich es auch begründen, mit Argumenten. Beim konstruktiven Streiten geht es ums Nachfragen und ums Zuhören. Darum, auch einmal die Perspektive zu wechseln oder gegen den Strich zu denken. Ich bin in Kärnten aufgewachsen und in meiner Schulzeit war Jörg Haider Landeshauptmann. Da war man entweder voll und ganz dafür oder ganz dagegen. Und dazwischen gab es die schweigende Mitte. Warum braucht Demokratie eine entwickelte Streitkultur? Schnabl: Demokratie ohne Streit gibt es nicht. Das wäre ja eine Diktatur, wenn alle derselben Meinung zu sein hätten. Deswegen verstehe ich auch gar nicht, warum Streiten im Sinne eines Ringens um Argumente so einen schlechten Ruf hat. Aber den Streit durch die Empörung zu ersetzen, das, was der Medientheoretiker Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch die „große Gereiztheit“ nennt, ist nur allzu bequem. Warum soll es auf der anderen Seite nicht Argumente geben, die genauso stichhaltig sind? Ich muss sie ja nicht übernehmen. Aber ich muss mich mit ihnen auseinandersetzen. Gibt es spezifisch österreichische Ursachen für die unzureichende Streitkultur? Schnabl: Die sogenannte Konsensdemokratie ließ wenig Spielraum, dazu kommt das historisch gewachsene Lagerdenken. In Deutschland etwa wird in der Regel härter diskutiert. Eine Streitkultur braucht Auseinandersetzungen auf Augenhöhe und eine Fehlerkultur. Letzteres ist hoffentlich ein Generationenproblem. Damit meine ich, dass es für frühere Autoritäten schwerer war, Fehler zuzugeben, als für zukünftige. Auf Augenhöhe bedeutet, auf jemanden zuzugehen. Deswegen habe ich Frau T. bei sich zu Hause besucht und sie gefragt, ob sie mir erklären kann, was sie meint, was sie gesagt bzw. geschrieben hat. Kann man rational streiten? Schnabl: Man kann nicht immer nur trocken Sachargument gegen Sachargument abwägen. Streit hat immer auch mit Emotionen zu tun. Dazu gehört auch Leidenschaft. Das merke ich zu Hause in meiner Familie am Küchentisch, und da geht es ja nur um Banales, wohin man auf Urlaub fährt. Man muss damit umgehen lernen, und das geht offenbar nur auf der Grundlage von Emotionen. Deswegen kann man Fake-News so schwer widerlegen, denn die kommen emotional und spektakulär daher. Fakten hingegen sind unspektakulär nüchtern. Solange es nicht persönlich oder untergriffig wird, kann man auch hart in der Sache bleiben. Die Lösung kann jedenfalls nicht Rückzug und Biedermeier 4.0 lauten. Bernhard Pörksen schlägt einen „dialogischen Journalismus“ vor. Wie könnte der aussehen? Schnabl: Wir werden umdenken müssen, wenn wir auch Menschen wie Frau T. erreichen wollen, was ja nicht nur das Anliegen, sondern auch der Auftrag des ORF ist. Bestimmte Menschen erreicht man nur auf Facebook, manche schauen nur fern. Aber viele wissen nicht, wie Journalismus überhaupt funktioniert, wie das auch bei Frau T. der Fall war. Deswegen hat sie uns Fake-News vorgeworfen. Dialogischer Journalismus bedeutet für mich, sich diesen Schwierigkeiten zu stellen. Dafür gibt es schon zahlreiche Ansätze: Die BBC hat zum Beispiel „Question Time“, wo Politiker und Medienleute Publikumsfragen beantworten, oder Town-Hall-Meetings in den Regionen, die ähnlich funktionieren. Der Spiegel veranstaltet im Mai eine sogenannte Leserkonferenz. Die Zeit Online-Kollegen starten gerade die Fortsetzung von #D17, wo es darum geht, Menschen, die politisch denken, mit Andersdenkenden zusammenzubringen. Und in der TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix steigen der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild-Zeitung, Nikolaus Blome, und der Herausgeber des linksorientierten Freitag, Jakob Augstein, in den Ring. Pro-und-Contra-Formate bieten dem Zuschauer grundsätzlich die Gelegenheit zu entscheiden, welches Argument stichhaltiger ist – und sich dann selbst eine Meinung zu bilden. Kirstin Breitenfellner in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 24) Rezension aus FALTER 11/2018 Unterwegs zur Empörungsdemokratie Debattenkultur: Zwei Bücher plädieren für eine neue Streitkultur und mehr Medienkompetenz für alle Das Wichtigste ist nicht, was passiert, sondern wie darüber geredet ist. Das Wirkmächtigste ist nicht, was wahr ist, sondern die Interpretation davon. Und die entsteht immer öfter in der Hitze eines Gefechts als in Ruhe, immer mehr auf der Grundlage von Emotionen als von Argumenten. Die Debattenkultur, Grundlage des Vertrauens in einer Demokratie, verkommt – so lautet die Diagnose zweier Bücher, die sich diesem Thema auf unterschiedliche Weise nähern. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beleuchtet in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ die Entwicklung der Öffentlichkeit zur Emotionsindustrie und macht in der vernetzten Welt einen Brandbeschleuniger aus. Die ORF-Journalistin Susanne Schnabl kommt von der anderen Seite, jener der Medien, und fordert in ihrem Buch „Wir müssen reden“ eine neue Streitkultur ein. Erregung statt Aufklärung Eine Gesellschaft ist immer nur so klug wie der Diskurs, den sie gerade führt. Gemessen an dieser Weisheit, mit der Susanne Schnabl ihre Streitschrift für das Streiten beginnt, haben wir noch Luft nach oben. Denn die gesellschaftliche Debatte, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, ist laut, eng und gehässig geworden, lautet ihre Diagnose, dominiert von einer Dauerempörung. Die einfachste Grundregel der Kommunikation wird dabei ignoriert: „Das Argument des anderen zuerst einmal anhören, bevor man mit Meinung und Urteil schon zur Stelle ist.“ An die Stelle von Argumenten ist eine ritualisierte Erregung getreten. Das Gute dabei: Es wird wieder politisiert. Leider nicht miteinander, sondern in getrennten Räumen. Die Debatte trägt Scheuklappen, ist gefangen in Milieus, die neuerdings gerne Filterblasen genannt werden, und tendiert zur Selbstgerechtigkeit. Ein amerikanischer Präsident vom Kaliber Donald Trumps trägt zur Kontaminierung des Klimas mit Rüpelhaftigkeit und dem Primat von Ego-Agenden bei. Die Frage, um die es eigentlich geht – jene, wie wir leben wollen –, gerät dabei aus dem Blickfeld. Da Schnabl als Moderatorin des Magazins „Report“ Teil des öffentlichen Diskurses ist, nimmt sie sich zuerst einmal selbst an der Nase und sucht das Gespräch mit einer Frau, die nicht nur andere Meinungen vertritt, sondern auch einem anderen Milieu angehört. Im 21. Wiener Gemeindebezirk wohnt Frau T., Inhaberin eines Nagelstudios. Ihr Facebook-Profil liest sich wie das einer typischen Wutbürgerin mit Hass auf „die“ Flüchtlinge und „die da oben“. Sie hat Schnabl mit dem Kampfbegriff „Lügenpresse“ bombardiert, deren Anfragen zu einem Gespräch aber nicht wie viele andere ignoriert. Auch weil sie erstaunt war, dass ihre Nachrichten überhaupt gelesen wurden. Jetzt, einem realen Menschen gegenübersitzend, scheint sie schon weniger zornig. Und aus dem Vorwurf, man dürfe ja nicht mehr sagen, was man denke, wird die Anklage: „Aber mir, uns hier, hört ja niemand zu!“ Trotzdem postet Frau T. auf ihrem Facebook-Account mittlerweile nur noch Werbung für ihr Geschäft. Und antwortet auf die Erhitzung der gesellschaftlichen Debatte mit Rückzug. „Die Annahme, die Kommunikation werde durch die sozialen Medien offener, hat sich als Illusion herausgestellt“, folgert Schnabl. Für eine neue Streitkultur Wie konnte es passieren, dass eine der Säulen der Gesellschaft, der unabhängige Journalismus, derart in Verruf geriet? Und eine Debattenkultur zur Skandalmaschine verkam? Schnabl sieht die Ursachen nicht nur in der Zweiten Republik, die als „Konsensdemokratie“ konzipiert war, in der wichtige Themen in Hinterzimmern verhandelt wurden und die deswegen keine Streitkultur entwickeln konnte, sondern auch in einer zunehmenden Polarisierung sowie einem neuen Tugendterror, in dem fast alle Lebenslagen mit Moral aufgeladen werden und zwischen Weiß und Schwarz, Gut und Böse kein Platz mehr ist, sowie einer neuen Überempfindlichkeit, die zu einer Infantilisierung des Diskurses führt. Eine Gesellschaft, in der die Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen aus Angst vor der Reaktion nicht mehr miteinander reden, könne nicht die Lösung sein, meint Schnabl und plädiert für eine neue Streitkultur. Denn die „Kulturtechnik des Streitens“ könne und müsse man ebenso erlernen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Demokratie bedeutet institutionalisierter Streit. Wie kann man den Streit rehabilitieren, wie funktioniert echter Streit? Leidenschaftlich, aber höflich, fair, aber hart in der Sache, meint Schnabl. Dabei gelte es, Dampf aus dem Druckkessel des „Sofortismus“ abzulassen. Manchmal kommt die Wahrheit erst später zutage, und die drängenden Themen der Jetztzeit – Globalisierung, Klimawandel und Zuwanderung – erlauben per se keine schnellen und einfachen Antworten. Schnabl erwähnt als Vorbilder Debattierklubs im angloamerikanischen Raum oder die TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix, in der der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild Nikolaus Blome und der Herausgeber der linken Zeitung Freitag Jakob Augstein ihre argumentativen Messer wetzen. „Am Ende ist man meistens klüger, hat neue Begründungen gehört, bestenfalls eine andere, zusätzliche Perspektive und wurde dabei auch noch gut unterhalten.“ Ein Buch als Appell, flott geschrieben, manchmal flapsig, immer wieder redundant, aber ein Auftakt, den man nicht unbeantwortet verhallen lassen sollte. Mediengeschichtliche Zäsur Der Medientheoretiker Bernhard Pörksen kommt zu einem ähnlichen Befund: Das „große gesellschaftliche Gespräch“ drohe in sinnlosen Attacken und bösartigem Gerede zu versinken, und eine zunehmende Diskursanarchie durch den Verlust zivilisierter Filter erzeuge Angst. Die Ursache der immer schnelleren Eskalation von Konflikten und Skandalen und der daraus folgenden Beunruhigung macht Pörksen in den neuen Medien aus. Smartphone, Facebook und Twitter haben eine mediengeschichtliche Zäsur eingeläutet, meint Pörksen, die nicht nur das Kommunikationsklima der Gesellschaft elementar verändert hat, sondern auch den Charakter der Öffentlichkeit beeinflusst, denn sie schließen privates und öffentliches Bewusstsein kurz. Dadurch entsteht eine nie gekannte Dynamik und Dramatik der Enthüllungen, eine rauschhafte Nervosität, die nicht nur Unsicherheit generiert, sondern immer öfter auch in Gewalt endet, obwohl die Erregung oft auf Gerüchten oder Falschmeldungen basiert. Pörksen exemplifiziert seine Thesen von Anfang an mit anschaulichen Beispielen. Etwa jenem der 13-jährigen Lisa, die am 12. Januar 2016 nachts nicht nach Hause kam und ihre Mutter am nächsten Tag anlog, von südländisch aussehenden Männern vergewaltigt worden zu sein. Bereits einen Tag später tauchten wütende Russen vor einem Flüchtlingsheim auf, Fenster splitterten und ein Sicherheitsmann wurde verletzt. Einer der beliebtesten russischen Fernsehsender berichtete, dass es in Deutschland eine neue Ordnung gebe, und auf einer Veranstaltung der NPD wurde die Todesstrafe für Kinderschänder gefordert. Am 26. Januar, 14 Tage später, warf der russische Außenminister Sergej Lawrow den deutschen Behörden vor, das Verbrechen aus Gründen politischer Korrektheit nicht angemessen zu verfolgen. „Die große Gereiztheit hat nun das Parkett der internationalen Diplomatie erreicht.“ In anderen Fällen, wie jenem des jungen Mannes, der im Juli 2010 in einer Mini-Gemeinde in Florida einen Pastor dabei filmte, wie er dafür eintrat, einen Koran zu verbrennen, führte eine wenig bedeutende Nachricht, die durch soziale Medien globale Verbreitung fand, auch schon zu Dutzenden Toten. Fünf Krisendiagnosen Die öffentliche Debatte ist in der Krise. Pörksen macht das an fünf Diagnosen fest. Erstens der Wahrheitskrise: In Zeiten von Fake News und gekonnten Bild- und Videomanipulationen können Realität und Propaganda immer schwerer auseinandergehalten werden. Denn vom Twitter-Poster über den Wikipedia-Mitarbeiter bis zu den Geheimdiensten wird die „große Schlacht um die richtige Auffassung“ oft mit falschen Informationen betrieben. Und die neue Schnelligkeit der Urteile verbessert zumeist nicht ihre Richtigkeit, sondern führt zu einer neuen Ungeduld, zu einer „Unaushaltbarkeit der Ungewissheit“ und „Tabuisierung der Ratlosigkeit“. Die Diskurskrise bedeutet zweitens eine Gesellschaft auf dem Weg von der Medien- zur Empörungsdemokratie, der ungebremsten Herrschaft der „fünften Gewalt der vernetzten Vielen“: der Verschwörungstheoretiker, rechtsradikalen Agitatoren, aber auch der Hypermoralisierten, die Protestgemeinschaften bilden. Sie verändern als „Publikative eigenen Rechts“ die neben Exekutive, Judikative und Legislative vierte Gewalt des traditionellen Journalismus, können aber selbst kaum zur Rechenschaft gezogen werden. In der Autoritätskrise werden drittens Vorbilder und Mächtige via Skandalen abmontiert und reagieren darauf zumeist mit ängstlicher Anpassung oder – wie im Falle von Donald Trump – mit höhnischer Ignoranz. In der Behaglichkeitskrise geht viertens die Sehnsucht nach Ruhe verloren: Noch nie waren die Schrecken der Welt so unmittelbar und pausenlos sichtbar. Ihre Dauerpräsenz via Fernseher und Smartphone erzeugt Empörung und das Gefühl von Ohnmacht. Vor ihnen gibt es keine Flucht mehr. Und der Begriff der Reputationskrise beleuchtet zuletzt die Tatsache, dass Ansehen im digitalen Zeitalter per se zum gefährdeten Gut geworden ist, unabhängig von Macht und Prominenz. Die redaktionelle Gesellschaft Das Problem besteht darin, dass die neuen Herausforderungen zugleich technischer und sozialer Natur sind, bestehend aus Geräten – Smartphones mit Videofunktion –, dem Aufstieg von Plattform-Monopolisten und einem Vertrauensverlust in Journalisten. „Wir leben in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit neuen Möglichkeiten, erschüttert von Wachstumsschmerzen der Medienrevolution“, konstatiert Pörksen. Da sich diese Entwicklungen schwerlich rückgängig machen ließen, bleibe uns nichts anderes übrig, als mit den neuen Gegebenheiten besser umgehen zu lernen. Sein Konzept dafür, das er mit diesem Buch vorlegt, sieht für die klassischen Medien einen stärker dialogisch ausgerichteten Journalismus vor, der vom Prediger und Pädagogen zum Zuhörer, Moderator und Diskurspartner wird – einen Weg, den Susanne Schnabl bereits zu gehen versucht. Sowie das Beharren auf der Relevanz von Informationen entgegen dem neuen Primat der Interessantheit von Plattformen wie Buzzfeed.com oder heftig.de. Aber heute ist via Smartphone, Facebook und Twitter jeder Journalist – und trägt deswegen Mitverantwortung für die Qualität der öffentlichen Debatte. Daraus folgt, dass jeder Einzelne das Rüstzeug zu verantwortungsvollen und reflektierten Publikationsentscheidungen braucht. Diesem „Ideal der Medienmündigkeit“, einer „Utopie der redaktionellen Gesellschaft“, komme man nur durch ein konsequentes Bildungsangebot näher, insistiert Pörksen, dadurch, dass journalistische Fähigkeiten „zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos“ werden. Mediengeschichte und -praxis, Machtanalyse und angewandte Irrtumswissenschaften, die ein „Wertegerüst des öffentlichen Sprechens“ bilden, bestehend aus den Prinzipien Wahrheitsorientierung, Skepsis, Proportionalität, Ethik und Transparenz, gehören für Pörksen dazu, am besten unterrichtet in einem eigenen Schulfach. Das klingt plausibel. Und Pörksen wäre mit seiner Fähigkeit zur anschaulichen Darstellung und Synthese bestens geeignet, dafür das Unterrichtsmaterial vorzulegen. Damit bekäme ein Journalismus neuer Prägung die Chance, zu einer allgemeinen Kulturtechnik oder gar zu einem Bewusstseinszustand zu werden. Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 30)
Rezension aus FALTER 12/2018 „Der ,freie‘ Markt erledigt das nicht!“ Die Schriftstellerin Olga Flor findet, dass der Neoliberalismus genug zerstört hat. Weniger privat, mehr Staat! Der Falter vom 22. Februar 2017 wird als Symptomquelle herangezogen. Olga Flor scannt die „Kleinanzeigen eines österreichischen Wochenblatts, das sich durchaus schmückt mit den Insignien der Urbanität, Aufklärung, Recherchequalität, Ironie“ und findet dort AstroCoaching, Selbstliebe-Training, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Holomantische Energie- und Gedankenarbeit oder Intime Körperarbeit für Genießerinnen und Menschen auf dem Weg dorthin – „also Menschen auf dem Weg zu den Genießerinnen, wie man annehmen darf?“ Gegen dergleichen esoterische Rückzugsbestrebungen und den „Wunsch nach Wohlgefühl, Wärme, Weichheit“ wäre, so die Schriftstellerin, „ja auch nichts weiter einzuwenden, solange die Beschäftigung mit dem eigenen, naturgemäß etwas begrenzten Selbst nicht alle Ressourcen frisst, solange sie die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ergänzt und nicht an deren Stelle tritt“. Flor hat das nun in einem in der sehr ansprechend gestalteten Reihe „Unruhe Bewahren“ bei Residenz erschienenen Essay (zunächst in der unter dem nämlichen Titel laufenden Vorlesungsreihe an der Akademie Graz) formuliert. Es ist ein knapp gehaltener, kurzweiliger und auf zahlreiche interessante Details zoomender Panoramaschwenk über die Verwerfungen in der politischen Landschaft der Gegenwart: Trumps „Twittergewitter“ werden ebenso bedacht wie die Politik mit Angst und Neid oder die Krise der Rationalität, sprich: des argumentbasierten Diskurses im Zeitalter der permanenten Gekränktheitsbereitschaft. „Freiheiten können auch unter formal demokratischen Bedingungen (…) sehr schnell verschwinden, wenn der Glaube an ihren Wert in größeren Teilen der Bevölkerung erst dahin ist“, schreibt Flor zu Beginn des Kapitels „Market Demands“, das sich mit der „Marktnachfrage“ als Letztbegründung für alles und jedes beschäftigt. Als Beispiel führt sie die Türkei nach dem Putschversuch im Jahr 2016 an. Angesichts der politischen Vorgänge in Österreich, zuletzt der Hausdurchsuchung im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), kann man das Augenmerk aber ruhig aufs eigene Land richten. Im Abspann dankt Olga Flor Josef Haslinger für die Erlaubnis, den Titel verwenden zu dürfen. Sie hätte nicht nachfragen müssen, aber Haslingers Österreich-Essay „Politik der Gefühle“, der seinerzeit in Reaktion auf die Wahl von Kurt „Ich habe nur meine Pflicht getan“ Waldheim zum Bundespräsidenten erschien, ist natürlich nicht weit entfernt. Haslinger bemerkt darin unter anderem, dass „die klassische Agitation“, mit der die Politik die Emotionen ihrer Adressatinnen und Adressaten für deklarierte Ziele und Zwecke mobilisiert, in Misskredit geraten sei. Die von ihm beschriebene „Politik der Gefühle“ hingegen funktioniere genau andersrum: „Es ist die Strategie einer prinzipiellen Standpunktlosigkeit. Der Werber bewegt sich selbst, umschmeichelt den Umworbenen, hält ihn in gegebenen Gefühlswelten fest und bestätigt diese. Deren Abkunft interessiert ihn nicht, nur deren Ausdruck.“ 1987, als der Essay erschien, war Sebastian Kurz ein Jahr alt. Er scheint die „Politik der Gefühle“ mit der Muttermilch aufgesogen zu haben. Falter: Können wir vielleicht gleich zu Beginn ein Missverständnis ausräumen? Olga Flor: Wenn es geht. Welches? Dass Emotionen böse sind und in der Politik nichts verloren haben. Flor: Natürlich muss man Emotionen sehr ernst nehmen, es ist aber auch Aufgabe der Politik, sich mit den Lebensumständen und Tatsachen zu befassen, die ihnen zugrunde liegen. Apropos Tatsachen: Sie schreiben einmal vom „nostalgischen Begriff der Faktizität“. Flor: Genau, in einem Stoßseufzer: „Ach, was waren das noch für faktische Zeiten damals!“ Wobei in der „postfaktischen“ Epoche … Flor: … die Emotionen als solche schon Argument genug sind. Das „Wir fühlen uns gekränkt“ oder „Wir sind wütend“ gilt schon als Begründung und Rechtfertigung. Hier wird ein Wir-Gefühl als Abgrenzung von „den anderen“ erzeugt. Und das Andere schlechthin sind derzeit die Asylsuchenden. Wenn es die nicht gäbe, würde sich aber schon wer anderer finden. Basiert letztendlich nicht jedes „Wir“ auf einer Abgrenzung?! Flor: Tut es das? Ich denke, jeder Wir-Begriff ist fluide und kann entsprechend offen sein. Nur aus aktuellem Anlass: Ich kann – gemeinsam mit Gleichgesinnten, die sich dann als ein „Wir“ definieren – für oder gegen das Rauchverbot sein, ohne „die anderen“ aggressiv als „böse“ zu markieren. Die haben eben andere Interessen. Problematisch wird es, wenn man auf einer diffusen Wir-Identität eine Politik gründet. Aber gibt’s dazu überhaupt eine Alternative? Die Krise etwa der europäischen Sozialdemokratie hat doch damit zu tun, dass sie ein glaubhaftes „Wir“ nicht anzubieten hat? Flor: Das Problem besteht hier aber weniger in einem mangelnden Wir-Begriff, sondern darin, dass sich die Sozialdemokratie schon mit Tony Blair ganz dem neoliberalen Konzept verschrieben hat. Ob die Besinnung auf „alte Werte“ und traditionelle Wählerschichten reicht, ist allerdings sehr die Frage. Flor: Die Sozialdemokratie hat den Fundamentalfehler gemacht, zu übersehen, dass sich die Arbeitswelt ändert. Ich zum Beispiel war am Anfang meiner Berufskarriere in den 90er-Jahren eine klassische neue Selbstständige, nicht sozial- und mit Ach und Krach krankenversichert, von Mutterschutz keine Rede. Leute wie ich sind von den Gewerkschaften behandelt worden, als wären sie der Inbegriff des Klassenfeinds, und die Sozialdemokratie hat so getan, als wäre der vollzeitbeschäftigte Metallarbeiter noch immer ihr Hauptadressat. Damit hat sie aber nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen den Zug der Zeit verpasst: Unlängst stand in der Süddeutschen Zeitung, dass Beschäftigte in der Pflegebranche nach dreijähriger Ausbildung in Deutschland 2600 Euro verdienen, wohingegen das Einkommen eines Arbeiters oder einer Arbeiterin in der Metallindustrie deutlich mehr als das Doppelte beträgt. Man hing da viel zu lange einem nostalgischen Bild an. Das ist sicher keine unterprivilegierte Gruppe mehr, was auch damit zusammenhängt, dass die Angestellten der Metallbranche gewerkschaftlich organisiert sind. Wogegen sich ja nichts sagen lässt. Flor: Natürlich nicht, im Gegenteil. Die Gewerkschaften hatte Margaret Thatcher nicht grundlos als Feindbild identifiziert, das es zu zerschlagen galt. Und deswegen ist es ja auch ein Hauptanliegen des Neoliberalismus, so etwas wie gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern und die Idee in die Köpfe zu pflanzen, dass jeder und jede ganz alleine für sich und das eigene Scheitern verantwortlich sei. Ist die Wut des vielzitierten Arbeiters aus dem „Rust Belt“ nicht auch verständlich oder zumindest nachvollziehbar? Flor: Da geht es, wie der Wahlkampf von Trump auch gezeigt hat, doch auch darum, dass die privilegierte Stellung des weißen, heterosexuellen Mannes nicht mehr so selbsterklärend selbstverständlich ist wie in den 50er- und 60er-Jahren. Apropos Trump: Ist es nicht die entscheidende Frage, warum Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen? Flor: Sie können mich jetzt eine Bildungsnostalgikerin schimpfen, aber ich bin schon der Auffassung, dass es unterlassen wurde, Menschen in ausreichendem Maß in die Lage zu versetzen, die politischen Gegebenheiten zu analysieren. In der Hinsicht scheint mir auch die Aufrechterhaltung des sogenannten „differenzierten“ Schulsystems in Österreich mit einer frühzeitigen Trennung der Kinder als absolut kontraproduktiv. Ich glaube allerdings, dass diese Sortierung nach sozialer Herkunft durchaus gewollt ist. Man sollte die Bildung aber nicht dem Privatfernsehen überlassen. Ich hatte in letzter Zeit während mehrerer Krankenhausaufenthalte die Gelegenheit, das diesbezügliche Angebot genauer zu studieren. In den permanent laufenden Verkaufs-, Hochzeits-, Dating- und Beautyshows wird vor allem Frauen das Gefühl vermittelt, nicht zu genügen, und als „Trost“ wird die Einsicht angeboten, dass es anderen noch schlechter geht. Da geht es um eine vermeintliche Aufwertung des eigenen Ichs auf Kosten anderer, wie man sie überall beobachten kann. Den ohnehin schon Benachteiligten wird dann das Zuckerbrot der Herabwürdigung anderer angeboten. Statt Verteilungsgerechtigkeit gibt es eine „Nivellierungsgerechtigkeit nach unten“. Auch das fügt sich in das Muster der „Privatisierung“ dessen, was früher einmal mehr oder weniger selbstverständlich öffentliche Angelegenheit und Sache des Staates war. Flor: Ja, wobei hier in Österreich geradezu nach Lehrbuch vorgegangen wird: Zuerst die Desavouierung der freien Presse, dann ein „Sicherheitspaket“, dann der Versuch, den Verfassungsgerichtshof umzufärben. Dass ein Staat mit Steuergeldern ein Bildungs- oder Gesundheitssystem für alle zu gewährleisten hat, ist eine Idee, die immer stärker in Misskredit gerät. Es sei denn, es geht um die Erhaltung der Straßen – die wurde noch von keinem Rechtspopulisten infrage gestellt. Wäre es nicht notwendig, Standards des Wohlstands zu definieren? Dinge, die wirklich jedem zustehen. Es ist doch absurd, dass in einer Gesellschaft, die moderne Computertechnologie als selbstverständlich betrachtet, Empörung darüber herrscht, dass Geflüchtete über Smartphones verfügen? Flor: Ja. Das ist wieder genau dieses auf Neid und Ausgrenzung basierende Wir-Gefühl, das ich kritisiere. Deswegen bin ich auch der Auffassung, dass es Aufgabe der Politik ist, Plattformen einzurichten und anzubieten, wo sich Menschen real begegnen und miteinander diskutieren. Das wäre auch ein probates Mittel, um der von den sozialen Medien beförderten „Blasenbildung“ entgegenzuwirken, die dafür sorgt, dass man nur noch Menschen begegnet, die die eigene Meinung teilen. Wenn sich die Stadt Graz für die Olympischen Winterspiele bewerben möchte – was ich für eine Schnapsidee halte, weil sich damit noch jede Stadt ruiniert hat –, wäre es doch sinnvoll und nötig, das vor der Bewerbung mit und in der Bevölkerung breit zu diskutieren. Was also sollte die Politik Ihrer Meinung nach tun? Flor: Man muss in der Tat versuchen, mithilfe der guten alten Umverteilung, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen – und das auch vermitteln. Und man muss versuchen, das Konzept der Exklusion durch Angebote der Teilhabe zu ersetzen. Der „freie“ Markt erledigt das nicht. Die Pflege von alten oder kranken Menschen etwa ist auf Basis eines durchschnittlichen Einkommens auf legalem Wege einfach nicht zu gewährleisten. Also kann man sich nicht mit der typischen hingeschummelten österreichischen Lösung begnügen, sondern muss das Problem einmal ganz klar benennen und eine realistische staatlich finanzierte Lösung finden. Es kann ja nicht sein, dass man für die Heimpflege mehr zuschießt als für eine, die zu Hause stattfindet. Es darf auch nicht sein, dass die pflegenden Angehörigen unter der Last zusammenbrechen. Die türkis-blaue Regierung hat demnächst die ersten hundert Tage hinter sich, wie fällt Ihre Einschätzung aus? Flor: Sebastian Kurz wird die ständigen Ausflüge einiger FPÖ-Politiker in Richtung des ultrarechten Spektrums nicht ewig beschweigen können, ohne sich lächerlich zu machen. Als Bundeskanzler trägt er die Verantwortung dafür, dass solche Personen Schlüsselstellen in Politik und Verwaltung übernommen haben. Ist die martialisch inszenierte Hausdurchsuchung und Beschlagnahmung von behördliche Unterlagen im BVT als Einschüchterung gedacht oder sind das schon die heftigen Vorwehen von etwas, worüber man sich „noch wundern“ wird? Oder vielleicht wundert man sich gar nicht, vielleicht ist es genau das, was zu erwarten war. Klaus Nüchtern in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 34)
Rezension aus FALTER 11/2018 Wenn nichts mehr so ist, wie es war Serhij Zhadan erzählt vom Krieg in der Ukraine aus der Perspektive jener, die zwischen die Fronten gerieten Wenn Menschen ums Leben kommen, Städte brennen, Tausende ihr Zuhause hinter sich lassen und fliehen müssen, dann ist es auch mit dem Alltag des Schriftstellers vorbei. Das sagte der ostukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan angesichts des Krieges zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten im Donbass vor vier Jahren in einem Interview mit Spiegel online. „Wir alle sind heute in einer Situation, in der es gilt, das Wichtigste zu behaupten: das Recht auf Freiheit, das Recht auf unseren souveränen Staat, das Recht auf unsere Zukunft. Ob man darüber schreiben kann? Man kann nicht, man muss.“ Als Sänger einer Band ist Zhadan in den letzten Jahren immer wieder in den Donbass gereist, um Konzerte zu geben und Hilfsmittel dorthin zu transportieren. Seine Texte sind von anschaulicher Direktheit, seine Beobachtungen von lakonischer Präzision. „Jeder Tote an der Front“, so Zhadan, „schürt den Hass, jedes zerbombte Haus provoziert Flüche, jeder Tag im Widerstreit ist ein weiterer Baustein an der endlosen Mauer, die wir jetzt zwischen uns errichten.“ Vom Krieg, vom Hass und dem tiefen Graben zwischen den Menschen im Donbass erzählt Serhij Zhadan nun auch in seinem neuen, beeindruckenden Roman „Internat“. Es ist die Geschichte einer Metamorphose: Der unpolitische, sich aus allem heraushaltende Lehrer Pascha bricht auf, um seinen 13-jährigen Neffen aus dem nahe gelegenen Internat abzuholen. Aber nachdem die Kriegshandlungen eingesetzt haben, ist die Situation brenzlig, die üblichen Kommunikationskanäle sind zusammengebrochen, auf die Infrastruktur ist ebenso wenig Verlass wie auf die Behörden, die sich in Auflösung befinden. Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Stadt in eine bedrohliche, undurchschaubare Zone der Gewalt verwandelt. Wo eben noch Nachbarn waren, gibt es nun Flüchtende, wo eben noch Ordnung herrschte, regiert nun Willkür. Die kurze Reise zum Internat wird für Pascha zu einer surrealen Erfahrung, die auch ihn verändert. Er durchquert eine Landschaft, in der sich urbane und dörfliche Kulissen ablösen, die etwas Unwirkliches, Geisterhaftes, Apokalyptisches angenommen haben. Er begegnet Rohheit und Zynismus, Elend und Hilfsbereitschaft, und die Zeit dehnt sich, während er sich seinen Weg durch die einstmals vertraute, nunmehr vollkommen fremd gewordene Umgebung bahnt. Unklar bleibt, wer hier überhaupt das Sagen hat oder seine Kompetenzen unrechtmäßig überschreitet – es ist ein rechtsfreier Raum, in dem fortwährend Kontrollen stattfinden, als müsste der Schein gewahrt werden, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Von Unterschlupf zu Unterschlupf kämpft sich der erschöpfte und zugleich hellwache Pascha weiter zu seinem Ziel, von seiner Angst und Mutlosigkeit weniger gelähmt als angetrieben. Pascha erreicht schließlich das Internat, er findet seinen Neffen unversehrt, aber die Szenerie gleicht auch hier einer befremdenden Kriegslandschaft. Jede einzelne Begegnung auf seiner Odyssee lässt ihn die Orientierungslosigkeit stärker wahrnehmen. Und während er mit seinem Neffen durch Minenfelder und Kanonenfeuer im Zickzack zurückzufinden sucht in die noch verschonte Heimat, erkennt er nach und nach die Unhaltbarkeit seines bisherigen Lebens. Er wusste, wie ihm nun in aller Drastik vor Augen geführt wird, nichts über die Welt. Es ist eine existenzielle Erfahrung. „Internat“ – das bedeutet im Ukrainischen auch Waisenheim. Und genau das ist diese Ostukraine, die aufgerieben wird zwischen den verschiedenen Interessen: ein Ort, an dem die heimatlos Gewordenen ums Überleben kämpfen. Das Großartige an Zhadans Roman ist, wie sich hier Realitätspartikel und Albtraumsplitter auf gespenstische Weise vermischen. Fast schon parabelhaft erzählt „Internat“ von einer zeitenthobenen Schreckenssphäre: Die Bilder, die Zhadan von dieser dreitägigen Wanderung durch die versehrte Stadt zeichnet, sind von immenser Suggestivität. Man fühlt sich durch die Wucht der Sprache, die fortwährend gesteigerte Gereiztheit der Protagonisten, die zum Reißen gespannte Atmosphäre hineinversetzt in eine Zwischenwelt, in der das Alltägliche als Vorhölle erscheint. Wo die Kampflinien verlaufen, ist kaum zu sagen. „Es schlägt ganz in der Nähe ein, vor allem aber schlägt es so ein, dass man nicht weiß, wohin es als Nächstes fallen wird. Die ganze Zeit Explosionen: mal hinter den Gleisen, mal hinter dem Boulevard. Alle drücken sich an die Wände, nach der Explosion hört man ein gedämpftes Heulen, dann wird es still. Bis die Stille hinter den Fenstern wieder reißt und das Heulen wieder anfängt. ,Es brennt!‘, ruft jemand am Eingang, und alle stürzen dorthin, schauen aus dem Fenster. Auch Pascha schaut hinaus, steht mitten in dieser Menschenmenge, die ihn vor einer halben Stunde noch fast mit ihren Goldzähnen zerrissen hätte, und sieht, wie hinter den Hochhäusern öliger schwarzer Qualm aufsteigt, so ölig und schwarz, als würden dort Leichen verbrannt.“ Zhadan erzählt von der Absurdität des Krieges – nicht aus der Perspektive der Soldaten, sondern aus dem Blickwinkel jener, die unversehens und unverschuldet zwischen die Fronten geraten. In jeder Zeile sind die Erfahrungen spürbar, die der Autor auf seinen Reisen in den Donbass gesammelt hat und von denen ihm die Menschen erzählt haben. Zu einem Kunstwerk aber wird der Roman durch seine verstörende Szenerie und der von Juri Durkot und Sabine Stöhr brillant ins Deutsche gebrachten Sprache. Ulrich Rüdenauer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 17)