von Nassim Nicholas Taleb
Übersetzung: |
Susanne Held |
Verlag: |
Pantheon |
Format: |
Taschenbuch |
Genre: |
Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft |
Umfang: |
688 Seiten |
Erscheinungsdatum: |
27.08.2018 |
Preis: |
€ 16,50 |
Rezension aus FALTER 16/2020
Talebs Gesetz
Corona ist kein schwarzer Schwan. Nassim Nicholas Taleb, Professor für Risikoanalyse, beschäftigt sich mit Ereignissen, die höchst unwahrscheinlich und deswegen nicht vorhersagbar sind. Er nennt sie „Schwarze Schwäne“. Mit Pandemien müsse die vernetzte Menschheit hingegen rechnen, deswegen sei die Covid-19-Pandemie kein schwarzer, sondern ein weißer Schwan, bekräftigte er unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung. Durch die globalisierte, Struktur der modernen Welt sei die rasante Ausbreitung solcher Krankheiten unvermeidlich.
Obwohl Taleb Prognosen grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, war er einer der wenigen, die den Zusammenbruch der weltgrößten Hypothekenbank Fannie Mae und damit die Finanzmarktkrise von 2008 schon fünf Jahre zuvor angekündigt hatten – und dafür herbe Kritik einstecken mussten.
Sein Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, das bereits im April 2007 erschienen ist, avancierte zum Bestseller, der Begriff „Schwarzer Schwan“ ist seitdem in aller Munde. Corona könnte Taleb erneut zum Denker der Stunde machen.
Der libanesisch-amerikanische Autor warnte bereits im Jänner gemeinsam mit dem Physiker und Systemwissenschaftler Yaneer Bar-Yam vor der Gefahr, die von einem der am stärksten vernetzten Staaten der Welt, China, ausgeht. „Es wird kurzfristig einiges kosten, die Mobilität einzuschränken. Das aber zu unterlassen, wird irgendwann alles kosten, wenn nicht durch die aktuelle Pandemie, dann durch eine in der Zukunft“, sagt Taleb. Deswegen sei es besser, früher Panik zu bekommen als später. Die Regierung von Singapur, die sich von Taleb beraten ließ, hatte übrigens bereits 2010 einen Notfallplan für eine Pandemie aufgestellt.
Geboren 1960 in eine libanesische griechisch-orthodoxe Politiker- und Ärztefamilie, studierte Taleb an der Wharton School der University of Pennsylvania. Anschließend arbeitete er für große Banken wie die Schweizer UBS. So lernte er das derzeitige Finanz- und Risikosystem von innen kennen, eine Voraussetzung dafür, dessen Schwachstellen zu kritisieren.
Als radikaler Querdenker und Freigeist lehnt der zur Praxis bekehrte Ivy-League-Absolvent alles theoretische, bloß akademische Wissen ab und warnt vor dem platonischen Fehlschluss, die Welt als geordnet und grundsätzlich verstehbar anzusehen.
Talebs in Bezug auf die Corona-Krise aktuellstes Werk ist das 2012 erschienene Buch „Antifragilität“. Darin geht der Autor der Frage nach, wie Systeme stressresistenter gemacht werden können. Der 680-Seiten-Wälzer rollt die „Dreifaltigkeit des Missverstehens“ auf.
Darunter versteht Taleb die Illusion, gegenwärtige Ereignisse zu durchschauen. Das zweite Missverständnis besteht darin, dass historische Ereignisse retrospektiv verzerrt werden. Drittens warnt er davor, Sachinformationen sowie die intellektuelle Elite überzubewerten.
Als Finanzmathematiker beschäftigt sich Taleb mit Statistiken und versucht, den Zufall zu berechnen. Wahrscheinlichkeit, Ungewissheit und Unordnung gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten. Das heißt aber nicht, dass seine Bücher für Laien unlesbar wären. So komplex er argumentiert, so süffig schreibt er. Anhand von Parabeln und autobiografischen Anekdoten – einer seiner Protagonisten ist etwa der antiintellektuelle Börsenhändler Fat Tony – macht er Abstraktes anschaulich. Dadurch wird der Autor als Mensch greifbar und angreifbar.
Taleb schimpft und wütet, versprüht Zorn und Sarkasmus und pflegt seine Vorliebe für drastischen Humor. Trotzdem sind seine Bücher strukturiert aufgebaut, sein monumentales Vorhaben wird in einem Kapitelüberblick vorgestellt, und im Glossar kann man seine griffigen, aber oft neuen Begriffe nachschlagen, etwa „Extremistan“ für die globalisierte Moderne oder „Flugunterricht für Vögel“ (auch „Sowjet-Harvard-Illusion“ genannt).
Das Agency-Problem stellt für Taleb eine Hauptquelle für die Fragilität von Systemen dar, insbesondere für das derzeitige Finanzsystem. Es besteht darin, dass der Manager eines Unternehmens, der nicht dessen Besitzer ist, eine Strategie verfolgt, die nur ihm selbst nützt.
Der polyglotte Generalist spricht neben Arabisch, Französisch und Englisch auch mehrere Sprachen der Antike. Wenn er gegen den naiven Rationalismus vieler Zeitgenossen vom Leder zieht, greift er auf die skeptische Philosophietradition zurück, auf Sokrates, Al-Ghazali, Michel de Montaigne oder Karl Popper.
Dabei entstehen Sentenzen, von denen man sich einige gerne über das Bett hängen möchte, etwa: „Man kann nie etwas über den Charakter von jemandem wissen, bevor er nicht die Möglichkeit hatte, moralische Regeln zu verletzen.“ Oder: „Man soll die eigenen Überzeugungen und Handlungen so ausrichten, als hätte man keinen Gesamtüberblick. Um klug zu sein, muss man sich damit abfinden, dass man es nicht ist.“
Talebs Vorliebe für Faustregeln, von denen er viele aus der Antike bezieht, hat philosophische Gründe. Alles, was lange überlebt habe, sei antifragil, sagt er. Antifragilität bezeichnet die Fähigkeit, robust auf Störungen und Stress zu reagieren.
Darüber hinaus ermöglicht es, gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Antifragilität bedeutet auch, von Ungewissheit und Chaos bis zu einem gewissen Maß profitieren zu können. Das betrifft unterschiedliche Bereiche, von der Evolution über die Gesundheit und Erziehung bis zur Technik, der Kultur, Politik und Wirtschaft.
Die zentrale These lautet, dass die Zukunft nicht vorhersehbar sei und Prognosen daher gefährlich werden könnten. Menschen würden nämlich dazu tendieren, sich auf sie zu verlassen. Taleb schlägt statt der üblicherweise geforderten Verbesserung von Daten und Berechnungsmethoden eine Erhöhung der Stressresistenz, sprich der Antifragilität von Systemen, vor.
Denn das Antifragile könne auf nichtlineare Prozesse besser reagieren als das Fragile. Die globalisierte Wirtschaft beruht auf schierer Größe, Technikabhängigkeit und maximaler Effizienz. In der Corona-Krise zeigen sich die Schwachstellen dieses Systems. Die Schlussfolgerung ist klar: Wir brauchen mehr Sicherheitspuffer und weniger Effizienz.
Für den aktuellen Zusammenbruch ließe sich daraus folgern, dass die Auslagerung von Grundversorgung, sprich Nahrungs- und Medikamentenproduktion, in Zukunft überdacht gehört. Auch die globalen Lieferketten und die Verantwortlichkeiten in den Finanzsystemen stehen auf dem Prüfstand.
Während jeder Flugzeugabsturz aufgrund der darauffolgenden Fehleranalyse die Wahrscheinlichkeit des nächsten verringere, erhöhe jeder Bankenzusammenbruch die Wahrscheinlichkeit eines weiteren, moniert Taleb. „Der Aktienmarkt ist der größte, in industriellem Ausmaß betriebene Antifragilitätstransfer in der Geschichte der Menschheit – und beruht ausschließlich auf einer bösartigen Form von Asymmetrie hinsichtlich der Bereitschaft, seine Haut aufs Spiel zu setzen“, konstatiert er.
Auch den eigenen Berufsstand spart Taleb aus seiner Kritik nicht aus, die Wirtschaftswissenschaftler. Es sei falsch, dass Professoren, die Inhalte unterrichten, mit denen das Finanzsystem notwendig hochgehe, keine Konsequenzen zu spüren bekämen.
Taleb und sein Co-Autor Mark Spitznagel beanstanden in einem NZZ-Artikel, dass Banker mehr Geld verspielt hätten, als in der gesamten Geschichte des Bankwesens verdient worden sei. Dennoch durften sie sich 2010 aus dem größten Bonustopf bedienen, den es bis dato gab. „Es sollte keine Hilfsmaßnahmen geben, wo Finanzinstrumente wie Hedge-Funds und hochriskante Investitionsstrategien im Spiel sind. Denn dort gibt es keine ehrlich gemeinte Strategie zur Risikominderung, sondern lediglich ein gewollt naives Gottvertrauen, dass es am Ende der Staat schon richten wird.“
Es gibt kein Leben ohne Risiko. Taleb begann seine Berufslaufbahn als Trader und Hedgefonds-Manager und hatte dort naturgemäß mit Risiken zu tun, die seiner Meinung nach aber falsch verstanden und analysiert wurden. In der Antike, betont Taleb, seien Gesellschaften von Menschen gelenkt worden, die Risiken trugen. Heute hingegen streifen Manager unverschämt hohe Bonuszahlungen ein, auch wenn sie ein Unternehmen in den Ruin getrieben haben.
Ohne Bereitschaft zum Risiko und Scheitern gibt es für Taleb keine Moral, das gelte auch für Wissenschaftler, Intellektuelle und Journalisten.
Statt Top-down-Konzepten – also Verordnungen von oben – propagiert Taleb Bottom-up-Systeme wie das politische System der Schweiz, die keine zentrale Führung hat. Er schätzt Regionalität und grundsätzlich alle Methoden, die auf Tüfteln, Versuch und Irrtum beruhen, sowie das Prinzip Selbstregulation. Denn es sei viel leichter und sicherer, die fragilen Teile eines lecken Systems ausfindig zu machen und zu entfernen, als Risiken vorauszusagen.
Überlieferten Weisheiten vertraut er mehr als den Einsichten von Elfenbeinturm-Akademikern. Eine seiner Lieblingsfaustregeln kommt von den alten Römern: Baumeister müssten eine bestimmte Zeit unter der Brücke verbringen, die sie gebaut haben. Von den antiken Autoren übernahm Taleb auch einen gewissen Stoizismus, die Fähigkeit, seine Emotionen zu regulieren.
Risikobereitschaft endet für ihn im Angesicht eines Ruins, ob von Privatpersonen, Firmen oder unserer Lebenswelt durch eine Öko-Katastrophe. Und, möchte man heute hinzufügen: einer Pandemie. Denn dann sind auch für den Finanzmathematiker keine Kosten-Nutzen-Analysen mehr möglich. „Rationalität ist die Vermeidung eines systemischen Ruins“, lautet sein Fazit.
Neben Risikobereitschaft und Mut braucht es auch die klassische Tugend der Besonnenheit. Von Nassim Nicholas Taleb kann man lernen, in einer Welt zu handeln, die man nicht zur Gänze versteht.
Kirstin Breitenfellner in FALTER 16/2020 vom 17.04.2020 (S. 32)