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Moral als Bosheit 

Rechtsphilosophische Studien

von Alexander Somek

ISBN: 9783161608353
Genre: Recht/Allgemeines, Lexika
Umfang: 204 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 01.08.2021
Verlag: Mohr Siebeck
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Moralische Vorwürfe verletzen oder verärgern, vor allem wenn sie einen unvermutet und aus dem Hinterhalt treffen. Plötzlich gilt man als Rassist, Sexist oder gar als elitär. Die Daumen werden nach unten gekehrt und die Menge schreit "Buh". In den Chor einzustimmen verspricht den Teilnehmenden Statusgewinn, denn wer andere verurteilt, reiht sich damit sofort unter die Guten ein. Aber dieses Gutsein ist perfide. Die unbeirrbar auftretende Moral erweist sich bei näherer Betrachtung oftmals als boshaft. Sie macht Mehrdeutiges eindeutig und erzeugt so, was sie anprangert. Sie vermeidet Begründungen, belohnt das Ducken und vertraut auf die blanke Macht der Entrüsteten. Inhaltlich lässt sie sich nicht verallgemeinern, denn sie mutet Menschen zu, Verhaltensmaßstäben zu genügen, denen sie nicht genügen müssen. Die Bosheit dieser Moral gilt es zu begreifen und das Recht von ihrem Einfluss freizuhalten.

Philipp Blom:

In seinem Buch Moral als Bosheit befasst sich Alexander Somek, Rechtsphilosoph und kritischer Analytiker der Moralvorstellungen unserer Zeit, mit emotional aufgeladenen Debatten über Gendern, Sexismus, Rassismus oder Diskriminierung, mit dem Verhältnis von Recht und Moral; er stellt sich – und uns –die Frage, wie sich der Trend zur Aufspaltung in Gruppenidentitäten auf das Gemeinwohl auswirkt. Und er fragt, wie es in unserer moralisierenden, konsum- und wachstumsorientierten Gesellschaft um die soziale Frage, um das Streben nach sozialer Gerechtigkeit bestellt ist.
Posted by Wilfried Allé Monday, January 10, 2022 11:14:00 AM Categories: Lexika Recht/Allgemeines
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Dummheit 

Lieferbar ab Jänner 2022

von Heidi Kastner

ISBN: 9783218012881
Reihe: übermorgen
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 128 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 14.10.2021
Verlag: Kremayr & Scheriau
Preis: € 18,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Dummheit begegnet uns in vielerlei Form – doch woran kann man sie er­ken­nen?“ Was ha­ben so unter­schied­li­che Dinge wie „alter­na­ti­ve Fak­ten“, men­schen­leere Be­geg­nungs­zo­nen in Satel­liten­sied­lun­gen und Schön­heits-OPs als Matura­ge­schenk ge­mein­sam? Heidi Kas­tner wagt sich an den auf­ge­la­de­nen Be­griff der Dumm­heit und be­trach­tet so­wohl die so­ge­nann­te mess­bare Intel­li­genz (IQ) so­wie die „hei­li­ge Ein­falt“ und die emo­tio­nale In­tel­li­genz, deren Feh­len im­men­sen Scha­den an­rich­ten kann. Was treibt Men­schen, die an sich ratio­nal-kogni­tiv nach­den­ken könn­ten, dazu, sich und an­dere durch „dumme“ Ent­schei­dungen ins Un­glück zu stür­zen? Wie ist kol­lek­ti­ve Be­reit­schaft zu Igno­ranz zu er­klä­ren und wa­rum nimmt die­ses Phäno­men schein­bar so ekla­tant zu? Gibt es einen Kon­sens da­für, dass lang­fris­tig fa­ta­les, aber un­mit­tel­bar sub­jek­tiv vor­teil­haf­tes Ver­hal­ten als „dumm“ an­zu­se­hen ist? Sind Ab­wägen und Nach­den­ken alt­mo­disch? Und was um Him­mels Wil­len ist so at­trak­tiv am Kon­zept des Leit­ham­mels, der uns das Den­ken ab­nimmt, oder des In­fluen­cers, der uns den ein­zig wah­ren Weg zeigt?

Falter-Rezension

„Querulanten sind unglückliche Menschen“

Was’ wiegt, des hat’s“, lautet eine bekannte Rede­wen­dung. Die in Linz ge­bo­re­ne und eben­dort als Chef­ärztin an der Landes­ner­ven­kli­nik tä­ti­ge Heidi Kas­tner scheint sie zu ihrer Lebens­ma­xime er­ho­ben zu ha­ben. Die in der Öf­fent­lich­keit recht prä­sente und medi­al nach­ge­fragte Medi­zi­nerin nimmt sich kein Blatt vor den Mund und hält sich nicht an poli­tisch kor­rekte Sprach­impe­ra­tive.

Auch nicht in ihrem soeben erschienenen Büchlein mit dem schlich­ten Ti­tel „Dumm­heit“. Kurz­wei­lig, un­aka­de­misch und un­eitel ver­sucht Kas­tner da­rin, ei­ni­ge kons­ti­tu­tive Merk­male der Dumm­heit zu be­stim­men. Sie unter­schei­det zwi­schen Intelli­genz­min­de­rung und Dumm­heit, lie­fert einen kur­zen his­to­ri­schen Ab­riss der Intel­li­genz­for­schung und kom­men­tiert das ak­tuel­le Ges­che­hen um Pan­de­mie und deren Be­gleit­de­bat­ten. Da­rü­ber hi­naus er­zählt sie teils ziem­lich komi­sche Fall­bei­spiele nach, die ihr in ihrer Tätig­keit als Ge­richts­gut­ach­terin unter­ge­kommen sind.

Dabei vermeidet es Kastner, in die Falle der Selbst­über­hebung je­ner zu tap­pen, die die Dumm­heit im­mer nur bei den an­de­ren kons­ta­tie­ren. Dum­me Hand­lungen, so heißt es an einer Stell­e, be­ruh­ten „auch auf un­zu­rei­chen­dem Wis­sen, aber nur dann, wenn man den ei­ge­nen Wis­sens­man­gel nicht als proble­ma­tisch erkennt“.

Falter: Naheliegende Einstiegsfrage: Wie dumm haben sich unsere Poli­ti­ker wäh­rend der Pan­demie ver­halten?

Heidi Kastner: (Lange Pause.) Ich weiß nicht, ob es Dummheit war. Für mich setzt Dumm­heit vor­aus, dass man für sich selbst einen Vor­teil sucht und Kol­la­teral­schä­den billi­gend in Kauf nimmt. Zu Be­ginn der Pan­de­mie war die In­for­ma­tions­grund­lage gleich null. Man hat auf Ber­ga­mo ge­schaut und sich ge­fürch­tet. Und wenn man zu die­sem Zeit­punkt sagt: „Es wird bald je­der je­man­den ken­nen, der an Coro­na ver­stor­ben ist“, dann ist das we­der mani­pu­la­tiv noch blöd, son­dern eine Prog­nose, die zwar falsch, in Hin­blick auf den da­ma­li­gen In­for­ma­tions­stand aber rea­lis­tisch war.

Eineinhalb Jahre und vier Lock­downs später sieht es aber anders aus.

Kastner: Der vierte Lockdown war ein kommuni­ka­ti­ver Super-GAU. Es ge­hört zum poli­ti­schen Ge­schäft, zu wis­sen, dass Krisen­kom­mu­ni­ka­tion ver­ständ­lich, ein­deu­tig und ein­stim­mig sein muss. Das war tat­säch­lich dumm.

Und die Entscheidung, ihn so lange hinauszuzögern …

Kastner: … war auch nicht klug. Man hätte bereits im Som­mer für den Fall einer dra­ma­ti­schen Ver­schlech­te­rung eine Impf­pflicht in den Raum stel­len, die recht­li­chen Ab­klä­run­gen vor­neh­men und den Ge­setzes­ent­wurf in Be­gut­ach­tung schicken kön­nen. Wir hät­ten dann die Demons­tra­tio­nen schon im Au­gust ge­habt, was nicht so dra­ma­tisch ge­we­sen wäre. Jetzt ren­nen relat­iv viele In­fi­zierte mas­ken­los und brül­lend durch die Ge­gend. Das ist ein idea­les An­steckungs­sze­nario.

Mit Überzeugungsarbeit richtet man bei solchen Leuten wohl nichts mehr aus?

Kastner: Wer nach einem Jahr der Debatten über Impf­ef­fi­zienz und über die be­kannten und neu ak­qui­rier­ten Fak­ten nichts davon wis­sen will, den wird man nicht mehr er­reichen.

Dafür kennen solche Leute „alternative Fakten“. Nur, wenn ich einen Mikro­chip in meine Ober­arm­mus­ku­la­tur in­ji­ziert be­komme – was genau rich­tet der an?

Kastner: Keine Ahnung. Der wird halt irgendwo „andocken“ und ver­heerende Din­ge an­rich­ten. Sol­che An­sich­ten kenne ich an­sons­ten nur von psy­cho­ti­schen Patien­ten. Die fah­ren sich dann mit dem Schrau­ben­zie­her ins Ohr oder boh­ren sich mit der Bohr­ma­schine den Zahn auf, um den Chip zu ent­fer­nen. Es ist ein­fach bloß ein Blöd­sinn, den man aber nicht mehr als sol­chen be­zeich­nen soll. Denn na­tür­lich muss man mit al­len­ re­den, alle ver­ste­hen und sich be­mü­hen, „die Ab­ge­häng­ten“ zu über­zeu­gen. Es gibt frei­lich Stu­dien, denen zu­folge ge­bil­dete Frauen mitt­le­ren Al­ters das Gros der Impf­ge­gner aus­machen. Von „abgehängt“­ kann da keine Rede sein.

Apropos. Wer sich die Auftritte von Dagmar Bela­ko­witsch an­schaut, dem wird klar, dass die ihre sie­ben Zwetsch­ken nicht bei­ei­nan­der hat. Wie kann so je­mand „Gesund­heits­spre­cherin“ werden?

Kastner: Na ja, da muss man sich fragen: von wel­cher Par­tei? Und das ist auch schon die Ant­wort. Der Herr Haim­buchner (Man­fred Haim­buchner, FPÖ-Landes­partei­ob­mann und Landes­haupt­mann­stell­ver­tre­ter Ober­öster­reichs so­wie ge­ne­se­ner Corona-Inten­siv­patient, Red.) ist nicht so gut bei­einan­der ge­wesen. Gar nicht gut. Also über­haupt nicht gut. Aber selbst der hat sei­ne Posi­tion nicht wirk­lich revi­diert, weil das in der FPÖ ohne voll­kom­menen Ge­sichts­ver­lust nicht geht. Ich habe in die­sem Zu­sammen­hang sehr oft an das den­ken müs­sen, was Hannah Arendt über die Stim­mung im Natio­nal­sozia­lis­mus ge­schrie­ben hat: Die Men­schen ha­ben al­les für mög­lich und nichts für wahr ge­hal­ten. In einer sol­che Situa­tion hat man dann ab­so­lut freie Wahl und kann sich auch ent­schei­den, den ab­stru­ses­ten Blöd­sinn zu glauben.

Als Erklärung für die Konjunktur von Verschwörungs­narra­tiven wird oft auf die große Ver­un­si­che­rung ver­wiesen.

Kastner: Es ist unüberschaubar geworden, was sich gegenseitig bedingt. Das sprich­wört­liche Fahr­radl, das in China um­fällt, kann tat­säch­lich Fol­gen für mich ha­ben. Warum, bit­te, krieg ich keine Dach­zie­geln mehr, wenn ein Schiff im Suez­kanal fest­steckt? Das ist auch für mich nicht mehr nach­voll­ziehbar.

Hat es nicht damit zu tun, ob man über ein gewisses Weltvertrauen ver­fügt oder nicht?

Kastner: Ich habe mit 23 promoviert und bin jetzt 59. Ich über­blicke also meh­rere Jahr­zehnte ärzt­li­cher Tätig­keit. Frü­her sind die Leute ge­kom­men, man hat sie durch­unter­sucht, eine Diag­nose er­stellt, und die ha­ben ge­sagt: „Aha, was kann man da ma­chen?“ Vor 25, 30 Jah­ren ging es los mit: „Ich hol mir eine zwei­te Mei­nung ein.“ – „Okay, machen Sie das.“ Und da­nach kam: „Ich muss mich erst er­kun­digen.“ Da wusste man schon, was folgt: „Ich habe im Inter­net nach­ge­sehen und weiß jetzt, was ich habe und brauche.“

Mit den exponentiell steigenden Möglichkeiten, an Informationen zu kommen, steigt auch das Miss­trauen?

Kastner: Ja. Das hat aber schon Anfang der 80er-Jahre begonnen, als die erste Aus­gabe von „Bit­tere Pil­len“ er­schie­nen ist. Da hieß es dann: „Ja, diesen Fir­men geht’s nur um den Ge­winn.“ Ja, no na. Die Pharma­indus­trie ist nicht die Cari­tas. Es kommt aber noch eines hin­zu: Man er­fährt vor al­lem da­von, wenn etwas schief­läuft. „Das Anti­bio­ti­kum hat Herrn Huber von der Pneumo­nie ge­heilt“ ist halt keine Schlag­zeile.

Die Schulmedizin ist generell in Misskredit geraten?

Kastner: Ja, nicht zuletzt durch die ganze Esoterik. Wozu die Ärzte­kam­mer aller­dings auch ein Scherf­lein bei­ge­tra­gen hat, in­dem sie zum Bei­spiel ein Fort­bil­dungs­curri­cu­lum Homöo­pathie an­ge­boten hat. Da hätte man auch gleich noch „Hand­auf­legen und Gesund­beten“ dazu­neh­men kön­nen. Der Haus­arzt, der alles über seine Patien­ten ge­wusst hat, ist auch ver­schwun­den. Aber klar, wenn der allei­ne da­sitzt und ihm die Leute die Ordi ein­re­nnen, kann er sich nicht für jeden eine Stun­de Zeit nehmen.

Der Arzt als Autorität hat abgedankt?

Kastner: Nicht nur der Arzt. Die gewiss auch frag­wür­di­ge Autori­täts­hörig­keit von seiner­zeit ist ins Ge­gen­teil um­ge­schla­gen: Den ober­gschei­ten Eli­ten glaubt man von vorn­herein ein­mal gar nichts. Un­längst habe ich mit einem Kol­legen ge­spro­chen, der eine Coro­na-Infor­mations­ver­an­stal­tung für Lehr­linge ge­macht hat. Er hat die aller­dings nach einer Viertel­stunde ab­ge­bro­chen, weil er an­satz­los mit „Oida, schleich di, red kan Schas!“ empfan­gen wurde. Der Mann ist 35.

In Ihrem Buch zitieren Sie den deutschen Psychi­ater Eduard Hitzig, der sich im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert mit dem „Queru­lan­ten­wahn­sinn“ be­fasst hat. Gibt es die­ses Krank­heits­bild noch?

Kastner: Ja. Und er hat das damals schon kor­rekt be­schrie­ben: Was auch im­mer die Re­gie­rung tun wird, diese Wahn­sin­ni­gen wird sie nicht über­zeu­gen kön­nen. Die Wis­sen­schaft ist ein­fach nicht im­stande, die Men­schen von ihren „ge­fühl­ten Wahr­hei­ten“ ab­zu­bringen.

Was macht das Wesen eines Querulanten aus?

Kastner: Das ist im Kern jemand, der aus seiner gefühl­ten Zu-kurz-Gekom­men­heit die Über­zeu­gung ent­wickelt, dass die Welt ein grauen­haf­ter Ort ist, in der er stets auf der Hut sein muss, weil er sonst im­mer und über­all über­vor­teilt und über den Tisch ge­zogen wird. Alles, was ihm be­geg­net, nimmt er durch die­sen Fil­ter wahr. Meine Groß­tante Wilhel­mine war die Gat­tin eines Ritt­meis­ters und hat in Hiet­zing ge­wohnt. Das Beste war für sie ge­rade gut ge­nug. Also haben ihre bei­den Schwes­tern in der Nach­kriegs­zeit, in der man ohne­dies nichts ge­kriegt hat, ihr unter un­glaub­li­chen Mühen ein Kasch­mir-Twinset be­sorgt. Als sie das Packerl auf­macht, bricht sie in Trä­nen aus: „Ihr wollt mir da­mit nur sagen, dass ich imm­er schlecht an­ge­zogen bin!“

Das ist ja wie ein Musterbeispiel aus Paul Watzlawicks „Anleitung zum Un­glück­lichsein“!

Kastner: Querulanten sind auch total unglückliche Menschen, weil alle Welt gegen sie ist. Und wenn sie da­gegen an­kämp­fen, ent­wickeln sie sich zu einem Michael Kohlhaas …

… den Kleist als einen der „rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen“ beschreibt.

Kastner: Ja, natürlich gibt es Anlässe, wo wirklich etwas falsch ge­laufen ist. Das pas­siert al­len. Nur wis­sen wir, weise wie wir sind: „Shit happens“ – und gehen wei­ter. Wohin­gegen sich der Queru­lant hi­nein­stei­gert und völ­lig verrennt.

Und ignoriert, dass er vielleicht nicht ganz so gerecht und edel ist, wie er gerne wäre.

Kastner: Ja, weil das ein Mindestmaß an Selbstreflexion und -kritik vor­aus­setzt. Das ist aber grad nicht sehr an­ge­sagt. Lie­ber geht man in Thera­pie, vor­zugs­weise zu je­man­dem, der einem die eige­ne Mei­nung be­stä­tigt. Und wenn man nicht gleich „ver­stan­den“ wird, kann man den Thera­peuten ja wechs­eln, bis man end­lich einen fin­det, der „passt“.

Im Zusammenhang mit der Pandemie ist viel vom Versagen der Politik die Rede. Das Wort „Eigen­ver­ant­wor­tung“ kommt eher selten vor.

Kastner: So wie im Schulkontext seit längster Zeit auch immer nur die Lehrer oder Schul­psycho­lo­gen schuld sind, wenn ir­gend­et­was nicht hin­haut beim Kind. Aber nie­mand nimmt die El­tern als Er­zie­hungs­be­rech­tigte in die Pflicht. Jetzt ist eben die Poli­tik da­für ver­ant­wort­lich, wenn sich die Men­schen nicht in­for­mieren oder sich nicht mehr als Teil eines größe­ren Gan­zen ver­ste­hen, für das sie auch mit­ver­ant­wort­lich sind.

Sie spielen auf die Situation in den Spitälern und den Inten­siv­sta­tionen an?

Kastner: Ja. Es ist kein Einzelfall, dass jemand eine dringend nötige Opera­tion nicht be­kommt und auch nie mehr be­kom­men wird, weil er oder sie in­zwi­schen ge­stor­ben ist. Die Leu­te auf den Warte­lis­ten ster­ben weg. Und dann meint eine Pas­san­tin im „ZiB“-Inter­view: „Ja, die Leute ster­ben halt. Das kommt vor.“ Ob sie das auch sa­gen würde, wenn sie selbst drin­gend ein Inten­siv­bett bräuchte? Das Recht auf Le­ben ist das funda­men­talste Men­schen­recht. Wenn ich meine Frei­heit, nicht ge­impft zu wer­den, be­an­spruche, spreche ich ande­ren in­di­rekt das Recht auf zeit­nahe Be­hand­lung und damit das auf kör­per­liche Un­ver­sehrt­heit oder gar das Le­ben ab. Das ist bru­tal, ego­is­tisch und wirk­lich nicht klug.

Apropos brutal: Was in letzter Zeit leider für Aufmerksamkeit gesorgt hat, sind die hier­zu­lande sehr ho­hen Ra­ten von Mor­den an Frauen. Was sind Ihrer Mei­nung nach die Ur­sachen dafür?

Kastner: Wir haben hierzulande mehr Morde an Frauen als an Män­nern bei einer ins­ge­samt sehr ge­rin­gen Mord­rate. Män­ner ster­ben eher bei es­ka­lie­ren­den Raufe­reien oder im Kon­text von Banden- be­ziehungs­weise or­gani­sier­ter Krimi­na­li­tät, und da­von gibt es in Öster­reich nicht sehr viel. Wir ha­ben al­ler­dings den glei­chen An­teil an ge­tö­teten Frauen aus den über­all üb­li­chen Grün­den. Wo­bei man auch sagen muss, dass die im­por­tierte Ge­walt recht hoch ist: Der Aus­län­der­an­teil bei Femi­ziden liegt bei 30 Pro­zent. Die sind bei Mord­delik­ten also deut­lich über­re­prä­sen­tiert. Aber natür­lich bleibt im­mer noch ein ge­rüt­telt Maß an Frauen­morden, die von „ge­stan­denen Öster­rei­chern“ be­gan­gen werden.

Wobei man zu dem nunmehr sehr häufig verwendeten Begriff „Femizid“ viel­leicht sa­gen sollte, dass das hier­zu­lande keine legi­time Praxis und etwas ande­res ist als eine Steini­gung in der Scharia?

Kastner: Es ist etwas anderes, aber das Endergebnis ist das Gleiche: Die Frauen sind tot. Und die Me­dien be­rich­ten über sol­che Fälle dann als „Fami­lien­tra­gö­dien“ und spre­chen da­von, dass der Mann „die Tren­nung nicht ver­kraf­tet“ und „aus Ver­zweif­lung“ seine Frau um­ge­bracht hat … Hallo?! Ich kann das Gere­de von der Ver­letz­lich­keit der Män­er nicht mehr hören. Er hat sich selbst er­mäch­tigt, ihr das Le­ben zu neh­men. Das ist ein bru­ta­ler, meis­tens ein ge­plan­ter Mord. Und den soll man dann auch als sol­chen be­zeich­nen und nicht als „Fami­lien­tra­gö­die“ oder „Be­zie­hungs­drama“.

Ich frage mich allerdings, an wen es sich richtet und was es bringt, sich einen „Stop Femicide“-Button an die Jacke zu pinnen?

Kastner: Gar nichts. Das ist ja nicht wie bei einem Karussell, wo man auf einen Knopf drücken kann und es hört auf, sich zu dre­hen. Man wird auch nie alle Frauen­morde ver­hin­dern kön­nen, weil ein Teil der Tä­ter völ­lig un­auf­fäl­lig ist. Der Kitz­büh­ler Fünf­fach­mör­der hat seine Freun­din nie ge­schlagen, er hat sie nicht kon­trol­liert, war nicht einmal eifer­süch­tig. Er war bloß deut­lich älter als sie und halt fad. Als sie et­was unter­neh­men wollte, ist er mit ihr in den Alpen­zoo ge­gangen. Das ist viel­leicht pat­schert, aber nicht böse. Sol­che Typen, die auf eine Tren­nung mit einer völ­lig radi­ka­len Ver­wer­fung rea­gieren, wird man nie raus­fil­tern können.

Es gibt aber genug andere, die davor schon auffällig geworden sind?

Kastner: Ja, klar. Das ist dasselbe wie bei der Brunnenmarkt-Geschichte (2017 erschlug ein psy­chisch kran­ker Keni­aner eine Frau mit einer Eisen­stange, Red.): Da hat es zig Hin­weise ge­geben, die von unter­schied­li­chen Poli­zei­dienst­stellen be­ar­bei­tet wur­den, aber keiner hat die ge­sammelt und sich an­ge­sehen. Diese unter­las­sene Ver­net­zung von Infor­ma­tio­nen und aus­blei­bende Aus­wer­tung ist zu­weilen schlicht töd­lich. Beim BKA gibt es eine total gute Grup­pe, die nennt sich VHR, Victims at Highest Risk, die ganz sorg­fäl­tige und fun­dierte Risi­ko­ein­schät­zungen durch­führt. Die kön­nen aller­dings auch nur die Fäl­le prü­fen, die man an sie heranträgt.

Das Männerbild ist hierzulande jedenfalls noch ein recht archaisches?

Kastner: Mir scheint, dass es in letzter Zeit sogar Aufwind be­kom­men hat. Eine Par­tei wie die FPÖ ist zwar ge­gen Mi­gran­ten, müsste aber eigent­lich froh sein über die Zu­wan­de­rung, denn was das Frauen­bild an­be­langt, sind sie sich eigent­lich einig: Die Frau soll zu­hause blei­ben und den Mund halten.

Und die tradierten Rollenbilder werden in der Familie weiter­gegeben?

Kastner: So ist es. Ich weiß persönlich von einem Fall, der sich vor drei, vier Jahren zu­ge­tra­gen und unter „ge­stan­denen Öster­reichern“ ab­ge­spielt hat. Der Sohn einer Familie, von der man wusste, dass der Mann die Frau drischt, kam in die Volks­schule, und da steht eine Frau Leh­rerin. Was macht der Bub? Er geht zu ihr und sagt: „Du bist a Weib und schaffst mir gar nix an.“ Das, was er halt zu­hause hört und vor­ge­lebt bekommt.

Was ist dann passiert?

Kastner: Man würde annehmen, dass die Schule die Erziehungs­be­rech­tig­ten her­be­stellt und ihnen er­klärt, dass das so nicht geht. Weit gefehlt. Man hat den Buben in eine Klas­se mit einem Leh­rer ver­setzt. Und so­lange sol­che Kon­flikte so ge­re­gelt wer­den, braucht man sich nicht groß zu wun­dern. Das mag in Wien-Neubau etwas an­ders sein, aber in wei­ten Tei­len des länd­li­chen Raums ist Frauen­ver­ach­tung im­mer noch all­täg­lich ge­lebte Realität.

Sie haben jahrzehntelange Erfahrung als Gerichtsgutachterin. Wie haben sich die Moti­va­tions­lagen und die Art der Ver­bre­chen im Laufe der Zeit ve­rändert?

Kastner: Wie überall gibt es auch in der Kriminalität Mode­er­schei­nungen be­zie­hungs­weise ist das Straf­recht auch im­mer Aus­druck der ak­tuel­len ge­sell­schafts­poli­ti­schen Ver­fasst­heit. Der Tat­be­stand der be­harr­lichen Ver­fol­gung, des Stal­king, ist noch rela­tiv jung. Das hat man frü­her halt ein­fach aus­hal­ten müs­sen. Es hat nicht einmal einen Namen gehabt.

Was meinten Sie mit „Modeerscheinungen“?

Kastner: Na, zum Beispiel, dass heute kaum jemand ent­führt wird. Man kann noch so wich­tig und ver­mö­gend sein, aber man wird nicht mehr ent­führt. Das ist ja fast schon krän­kend. Außer­dem schreibt heute kein Men­sch mehr ano­nyme Drohbriefe.

Mediziner und Wissenschaftler, die sich öffentlich für die Impfung aussprechen, müssen aber damit rechnen, Morddrohungen zu erhalten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Kastner: Wenn, dann kriegt man Mails und keine Briefe. Es ist sicher schon zehn Jahre her, dass ich ein ziem­lich graus­li­ches Mail er­hal­ten habe, in dem man mir an­ge­kün­digt hat, wie man mich gerne um­brin­gen würde. Die Spur dazu hat sich bei einem Ser­ver in der Ukraine ver­laufen. Ak­tuell er­halte ich keine Dro­hun­gen, son­dern nur Be­schimpfungen.

Auch nicht schön.

Kastner: Nein, aber if you can’t stand the heat, get out of the kitchen.

Klaus Nüchtern in Falter 49/2021 vom 10.12.2021 (S. 26)

Heidi Kastner im Standard-Interview mit Anna Giulia Fink ->

Posted by Wilfried Allé Friday, December 31, 2021 3:24:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Bin ich das? 

Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft

von Valentin Groebner

ISBN: 9783103970999
Ausgabe: 1. Auflage
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 192 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 24.11.2021
Verlag: S. FISCHER
Preis: € 22,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was steckt eigentlich hinter dem neuen Zwang, sich zu zeigen? Mit viel Humor, Selbstironie und klugen Beobachtungen erzählt Valentin Groebner – »eine(r) der coolsten Geschichtswissenschaftler momentan überhaupt« (litera.taz) – seine kurze Geschichte der Selbstauskunft. Denn ob im Bewerbungsgespräch oder per Instagram-Account, bei der Teambildung oder im Dating-Profil: Ohne Selbstauskunft geht heute nichts. Sie ist sowohl Lockstoff als auch Pflicht, steht für Reklame in eigener Sache und das Versprechen auf Intensität und Erlösung, in den Tretmühlen der digitalen Kanäle ebenso wie in politischen Debatten um kollektive Zugehörigkeit.Doch wie viel davon ist eigentlich Zwang, und wie viel Lust? Was haben wir, was haben andere vom inflationären Ich-Sagen und Wir-Sagen? Diesen Fragen geht Valentin Groebner auf der Suche nach dem Alltäglichen nach. Er zeigt, was historische Beschwörungen der Heimat mit offenherzigen Tattoos gemeinsam haben, und was den Umgang mit alten Familienfotos und demonstrative Rituale des Paar-Glücks (Stichwort Liebesschlösser an Brückengeländern) verbindet. Doch ist öffentliche Intimität wirklich die Währung für Erfolg – oder eine Falle? 
 

Falter-Rezension

Muss ich alles über mich preisgeben?

Geheimnisse sind out, Offenheit ist Pflicht -als Bürger, Liebende und natürlich Teilnehmende an der schönen neuen Medienwelt. Wie kam das und tut uns das überhaupt gut?, fragt Valentin Groebner in "Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft". Groebner lehrt als Professor für Allgemeine Schweizer Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern und legte populäre Bücher über Geschichtstourismus, die Geschichte des Gesichts oder über Wissenschaftssprache vor.

"Bin ich das?" widmet sich in acht kurzweiligen Kapiteln der Crux, die darin liegt, sich individuell zu geben und doch nicht unangenehm aufzufallen. Ich zu sagen, meint Groebner, sei weder unmittelbar noch persönlich, sondern bestimmt von "rhetorischen Kunststücken, Zwangssystemen und Projekten radikaler Selbstverbesserung". Die Ich-Auskünfte kämen zwar locker und spontan daher, würden aber genauen Spielregeln folgen. Da ihnen niemand entkommen könne, ohne sich verdächtig zu machen, fielen sie in die Kategorie "freiwillige Unfreiwilligkeit".

Zu den stärksten Passagen des Buches gehören die Reflexionen über seine eigene Biografie. Aufgewachsen in einem Döblinger Gemeindebau, fühlt Groebner sich, obwohl seine Eltern Akademiker sind, in den Villen der höheren Töchter und Söhne kaum geduldet. Auch im Schweizer Bürgertum lernt er diesen Distinktionswillen kennen und begreift: Das Ich definiert sich nicht selbst - es wird von den anderen etikettiert.

Die letzten Kapitel dieses launig geschriebenen und gut zu lesenden Buches handeln von Fotos als Erinnerungsmaschinen und von Tattoos als den verzweifelten Versuchen, sich selbst mit Zeichen der Vergangenheit zu versehen.

Am Schluss bezieht Groebner auch die aktuelle Covid-19-Pandemie mit ein. An der moralischen Erregungs- und Befürchtungsgemeinschaft, die Angst in Rechthabenwollen umwandelt, möchte er lieber nicht teilnehmen. Stattdessen empfiehlt er, Unklarheiten ertragen zu lernen. Auch darüber, wer man selbst ist.

Kirstin Breitenfellner in Falter 51-52/2021 vom 24.12.2021 (S. 49)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, December 29, 2021 5:34:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Salonfähig 

Roman

von Elias Hirschl

ISBN: 9783552072480
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 23.08.2021
Verlag: Zsolnay, Paul
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was, wenn man sich ein perfektes Leben wie eine zweite Haut über­ziehen könnte? Will­kommen bei Austrian Psycho
Stundenlang übt er vor dem Spie­gel seinen Gang, sein Lächeln, seine Art zu sprechen. Julius Varga, der Partei­chef, ist das ganz große Idol des namen­losen Er­zäh­lers. „Ich gebe mich für dich auf, Julius. Ich liebe dich.“ In seiner Ab­wesen­heit gießt er seine Zimmer­pflan­zen, als ob dies ein Staats­akt wäre. Auf einer unteren Ebene dient der Er­zähler der Par­tei und eifert seinem Vor­bild nach. Er ist be­ses­sen von Mar­ken und Äußer­lich­keiten und der Äs­the­tik von Ter­ror­an­schlä­gen. Elias Hirschls neuer Ro­man ist ein großer Wurf und ein Ver­gnü­gen. Das wahn­wit­zige Por­trät der Gene­ra­tion Slim Fit: jung, schön, in­tel­li­gent, reich, ober­fläch­lich und brand­ge­fähr­lich.

3 Fragen von Bettina Wörgötter an Elias Hirschl

Herr Hirschl, was fasziniert Sie an der Generation Slim Fit, die Sie in Ihrem Roman "Salonfähig" porträtieren?

Die Generation der Slim-Fit-Politiker drückt für mich eine Art Zu­spit­zung und Per­fek­tio­nie­rung der po­li­ti­schen Rhe­to­rik aus. Ich stell mir das gern wie beim Ski­sprin­gen vor, wo zu Be­ginn noch ver­schie­den­ste Sprung­tech­ni­ken aus­pro­biert wor­den sind, da wurde mit den Armen ge­ru­dert, an­ge­legt, ab­ge­spreizt, bis sich schließlich eine einzige Sprungtechnik durchgesetzt hat, die dann nur noch verfeinert und perfektioniert wurde. Wie beim Skispringen werden die politischen Pro­ta­go­nis­ten im­mer jün­ger, ihre Kampf­an­züge werden im­mer aero­dy­nami­scher und ihre Aus­drucks­weise ver­engt sich auf einen sehr spezi­fi­schen, schma­len Rhe­to­rik­stil der völ­lig ent­leerten Phrasen­dre­sche­rei, durch den jedes echte Ge­spräch schon im An­satz ver­hin­dert wird. Und die Tat­sache, dass letzt­end­lich keine poli­tisch inter­es­sier­ten Men­schen an der Spitze lan­den, son­dern nur noch die­je­ni­gen, die die­sen spezi­fi­schen Stil der leeren Rede am besten be­herr­schen, die keine ein­zige inter­essante Idee her­vor­brin­gen, aber die Kunst der Be­we­gung per­fek­tion­iert ha­ben, fas­zi­niert mich und macht mir auch ziem­liche Angst. Da fehlen im Grunde nur noch die Spon­soren­logos auf der Kra­watte.

Was fasziniert Sie an Maskulinität?

Im Buch wird toxische Männlichkeit auf ver­schie­dene Ar­ten ge­schil­dert. Vor allem die hie­rar­chi­schen Struk­turen in der Jungen Mitte und der Mut­ter­par­tei Mitte Öster­reichs sind stark pa­tri­ar­chal ge­prägt. Mich fas­zi­niert hier vor allem die­ses in­trin­sische Leis­tungs­den­ken, das je­den As­pekt der neo­libe­ra­len Po­li­tik durch­zieht. Der Mensch ist nur dann etwas wert, wenn er etwas aus ei­ge­nem An­trieb schaf­fen kann. Jeder Mensch de­fi­niert sich nur durch die ihm zu­ge­wie­sene Rolle, je­der be­misst seinen ei­ge­nen Selbst­wert an dem, was er leis­tet. Da­durch ent­frem­den sich alle Fi­gu­ren von­ei­nan­der, weil es nicht mehr um den Men­schen geht, son­dern nur noch da­rum, was man von einem Men­schen be­kom­men kann, wel­che Po­si­tio­nen, Kon­takte oder fi­nan­ziel­len Mit­tel man von je­man­dem be­kom­men kann. Damit ein­her geht auch die fal­sche Prä­mis­se, alle Men­schen hät­ten die­sel­ben Start­be­din­gun­gen und seien für ihr Schick­sal selbst ver­ant­wort­lich, wo­durch sich als Macht­haber an­ge­nehm jede Ver­ant­wor­tung von sich wei­sen lässt. Mich fas­zi­niert vor allem auch, wie die­ser Leis­tungs­wahn, der ja dem an­geb­lichen christ­lich-so­zi­alen Leit­ge­dan­ken der Par­tei völ­lig zu­wider­läuft, schließ­lich in einer Art para­reli­gi­ösen, ri­tuel­len Ver­ehrung die­ses omi­nö­sen Kon­strukts der „Leis­tung“ mündet, als wäre sie eine Art Gott­heit, zu deren Zweck alles ge­schieht.

Was fasziniert Sie an Satire?

Satire widersetzt sich der For­de­rung, eine Auf­gabe er­fül­len zu müs­sen, denn Kunst und Sa­ti­re sind ja, wie wir dank Coro­na wis­sen, nicht system­re­le­vant. Aber das Gute da­ran, nicht sys­tem­re­le­vant zu sein, ist, dass man auch nicht an spezi­fi­sche Er­war­tungen ge­bun­den ist. Sa­tire kann daher alles Mög­liche tun. Und was Sa­tire her­vor­ragend tun kann, ist, ver­steckte Struk­turen, vor allem Macht­struk­turen sicht­bar zu machen, und diese auf eine Art zu ent­lar­ven, dass sie et­was von ihrem Schrecken ein­büßen, dass man zu­min­dest da­rüber lachen kann. Salonfähig ist auch der Versuch zu zeigen, was vom politischen Menschen übrig bleibt, wenn man den Menschen heraus­schält und nichts als die rhe­to­ri­sche Struk­tur zu­rück­bleibt, und was vom Leis­tungs­den­ken zu­rück­bleibt, wenn man diese Idee auf die Spitze treibt und den Wert ei­nes Men­schen tat­säch­lich nur noch an sei­ner Pro­duk­ti­vi­tät be­misst. In bei­den Fäl­len bleibt letzten Endes nichts zu­rück als eine rei­ne Pro­jek­tions­fläche, los­ge­löst von je­der Emo­tion und je­der Mensch­lich­keit, un­fähig zu Mit­ge­fühl, Inter­es­se oder ech­ter An­teil­nahme.

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 8:26:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Macht in weltweiten Lieferketten 

Eine Flugschrift

von Christoph Scherrer

ISBN: 9783964881243
Genre: Wirtschaft/Internationale Wirtschaft
Umfang: 96 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 17.12.2021
Verlag: VSA
Preis: € 10,30

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Lieferketten ist der wohl promi­nen­teste Be­griff, um die Struk­tur des Glo­bal Sour­cing, der welt­wei­ten Be­schaf­fung von Waren, zu be­schrei­ben. Er wird auch von der Bun­des­re­gie­rung für das An­fang Juni ver­ab­schie­dete Lie­fer­ket­ten­ge­setz ge­nutzt, das die Ein­hal­tung von Men­schen­rech­ten bes­ser re­geln soll. Der Au­tor kri­ti­siert, dass der Be­griff der Kom­plexi­tät von Macht­un­gleich­hei­ten und struk­tu­rel­ler Aus­beu­tung nicht ge­recht wird. Das spie­geln auch die un­ter­­schied­li­chen Theo­rie­kon­zepte wider, die, so Chris­toph Scher­rer, meis­tens spezi­fi­sche Macht­­as­pek­te fo­kus­sieren, ohne die Wechsel­be­zie­hungen zu be­rück­sich­tigen.
Der Autor ergänzt daher all­ge­mein­gül­tige Macht­ana­ly­sen durch Über­le­gun­gen für spezi­fi­sche Kon­texte. Am Bei­spiel klein­bäuer­licher Be­triebe zeigt er, wer am we­nigs­ten von der Ar­beits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer daran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.
Er liefert damit zugleich eine theo­re­ti­sche Grund­lage, mit der Leser:in­nen die Macht­be­zie­hungen welt­wei­ter Lie­fer­ket­ten bes­ser ver­ste­hen und auch die Wirk­mäch­tig­keit des im Juni 2021 ver­ab­schie­deten Lieferket­ten­ge­setzes bes­ser ein­ord­nen können.
Die Flugschrift soll dazu bei­tragen, die täg­lichen und sys­te­mi­schen Men­schen­rechts­ver­let­zungen bei ­denen, die in glo­ba­len Pro­duk­tions­netz­wer­ken ­ar­bei­ten müssen, zu über­winden.

Zusammenfassung

Die Fragilität globaler Liefer­ketten ist wäh­rend der Pan­de­mie und durch die Blockade des Suez­ka­nals be­son­ders deut­lich ge­worden. Zu­gleich sind sie »Aus­beutungs­ket­ten«, in denen Macht­be­zie­hungen ab­ge­bil­det sind. Christoph Scherrer zeigt, wie Macht in Pro­duk­tions­netz­wer­ken durch­ge­setzt wird, wer am we­nigs­ten von der Arbeits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer da­ran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.

Tipps für Verbraucherinnen und Verbraucher

Einkaufskorb mit Fairtrade-Produkten

Jede und jeder kann dazu bei­tragen, dass unsere Welt ge­rech­ter wird. Fair und nach­hal­tig zu leben be­deu­tet, sich die Fol­gen seiner Lebens- und Kon­sum­ge­wohn­heiten be­wusst zu machen und ver­ant­wor­tungs­voll zu han­deln.

Nachhaltigkeit ist dabei nicht nur auf öko­lo­gische As­pekte be­schränkt – sie hat eben­so wich­tige wirt­schaft­liche, sozi­ale und poli­ti­sche Dimen­si­onen. Hel­fen Sie mit, dem Ideal einer ge­rech­ten und nach­hal­ti­gen Welt ein Stück näher­zu­kom­men! Zum Bei­spiel indem Sie fair ein­kau­fen, fair reisen oder ihr Geld fair an­legen.

Nähere Informationen dazu finden Sie hier  ->

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 4:33:00 PM Categories: Wirtschaft Wirtschaft/Internationale
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Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom 

von A. E. Hotchner

ISBN: 9783836960731
Genre: Kinder- und Jugendbücher/Kinderbücher bis 11 Jahre
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 28.06.2021
Verlag: Gerstenberg Verlag
Empf. Lesealter: ab 10 Jahre
Übersetzung: Anja Malich
Illustrationen: Tim Köhler
Preis: € 16,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

St. Louis inmitten der Weltwirtschaftskrise. Der zwölfjährige Aaron Broom muss mit ansehen, wie nach einem Überfall auf ein Juweliergeschäft sein Vater in Handschellen abgeführt wird. Dabei wollte sein Pop, ein Uhrenvertreter, dort doch bloß seine neueste Kollektion vorführen! Aus seinen Lieblingsbüchern weiß Aaron genau, dass er den wahren Täter nun auf eigene Faust „detektivieren“ muss, wenn er will, dass sein Pop wieder freikommt. Von unverhoffter Seite bekommt er Hilfe: von Ex-Boxer und Hauswart Vernon, von Augie, dem Zeitungsjungen an der Ecke, von einem freundlich gesinnten Anwalt für Seerecht – aber er hat auch gefährliche Widersacher …

FALTER-Rezension

Vor 100 Jahren war die Welt nicht in Ordnung

Ein Kinderkrimi über die Weltwirtschaftskrise in den USA

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war gestern. Der amerikanische Autor und Journalist A.E. Hotchner starb im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren. Kurz zuvor hatte er mit 100 noch eine Detektivgeschichte verfasst, die in der Zeit der Großen Depression angesiedelt ist. Hotchner war während der Weltwirtschaftskrise selbst Kind und hat seine eigene Story bereits früher niedergeschrieben, Steven Soderbergh verfilmte sie als „Der König der Murmelspieler“. Auch „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ lebt von der unglaublich lebendigen Erinnerung des Autors an diese so schwierige wie turbulente Zeit. Atmosphäre und Ton stimmen einfach, Straßenslang inklusive.

Held der Geschichte ist der nicht ganz 13-jährige Aaron Broom. Nach einem Raub in einem Juwelierladen wird durch ein Missverständnis sein Vater inhaftiert, wo der doch nur harmloser Vertreter für Uhren ist. Aaron ergreift gleich die Initiative. Zum einen hat er genug einschlägige Bücher verschlungen, um zu wissen, wie er „detektivieren“ muss, damit der wahre Schuldige gefasst wird. Unterstützung erhält er außerdem von einem Zeitungsjungen, einem Hausmeister und einem ehemaligen Boxer. Die kann er auch gebrauchen, bekommt er es doch mit üblen Zeitgenossen zu tun. Eine packende und zugleich berührende Geschichte, die nebenbei historisches Wissen vermittelt.

Sebastian Fasthuber in Falter 42/2021 vom 22.10.2021 (S. 29)

Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2021

Der Junge, der detektiviert
Ein Krimi aus der großen Depression in Amerika
Dass manch Hundertjähriger ungewöhnliche Eskapaden unternimmt, weiß man seit Jonas Jonassons Romanen. Dass jemand mit 99 Jahren eine Detektivgeschichte wie „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ schreibt, bei deren Lektüre Emil Tischbein bleich geworden wäre, das ist allerdings besonders.
Der Krimi spielt Anfang der Dreißigerjahre in St. Louis, mitten in der Zeit der Großen Depression. Der Autor dieser Geschichte, der offensichtlich mit großer Empathie und Kenntnis in die Rolle seines jugendlichen Helden Aaron („fast dreizehn“) schlüpft, ist der US-amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor A.E. Hotchner, der im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren starb. Seine Geschichte beruht auf dem Roman seiner Kindheit, „King of the Hill“ (Der König der Murmelspieler), den Steven Soderbergh 1993 verfilmte. Hotchner wurde unter anderem durch Biografien von Ernest Hemingway und Paul Newman bekannt.
Aaron ist ein aufgewecktes, wissbegieriges Bürschchen, ein guter Schüler und Sportler, und er blickt stets optimistisch in die Zukunft. Und das, obwohl seine Mutter in einem Sanatorium liegt und sein Vater, ein polnisch-jüdischer Emigrant, in der Krise sein Geschäft verlor und sich nun erfolglos als Handelsvertreter abmüht. Aaron ist mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen, um zu überleben. Alles wird noch schlimmer, als der Junge Zeuge eines Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft wird und sein Vater in Untersuchungshaft gerät. Der Sohn versucht sich über Wasser zu halten und gleichzeitig die Hintergründe des Verbrechens aufzuklären. Er, der Icherzähler, „detektiviert“ – wie er es in der stilsicheren Übersetzung von Anja Malich nennt. Das erinnert ans Berliner Milieu von Emil Tischbein und seinen Freunden um Gustav mit der Hupe. In Hotchners Roman unterstützt ein flinker Zeitungsjunge den Teilzeitdetektiv. Um die beiden herum gruppiert sich eine kleine Gruppe von Helfern. Hotchners wichtigste, in die Handlung verwobene moralische Botschaft: Wenn sich eine solch katastrophale Situation überhaupt überwinden lässt, dann nur mit der Solidarität anderer Menschen und einem Grundgefühl von Geborgenheit und Vertrauen. Allerdings ist das vom Autor gewählte Großstadtmilieu brutaler als das in Kästners Kinderkrimi. Da fallen Schüsse, da kippen Bösewichter um, bevor sich die Verhältnisse klären.
Hotchners Geschichte ist im sympathischen Sinn altmodisch erzählt, mit viel Liebe zu kleinen Details und nicht nur im Schwung von einer Aktion zur nächsten. Gerade dadurch gewinnt das Milieu fassbare Konturen, in dem sich redliche arme Menschen, Glücksritter und Kriminelle begegnen. Die realistischen Schwarzweiß-Illustrationen von Tim Köhler unterstreichen diesen Eindruck noch. (ab 12 Jahre)
SIGGI SEUSS
A. E. Hotchner: Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom. Mit Illustrationen von Tim Köhler. Aus dem Englischen von Anja Malich. Gerstenberg 2021.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

Posted by Wilfried Allé Friday, December 17, 2021 8:42:00 PM Categories: Kinder- und Jugendbücher
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aprés lift 

49 Skitouren auf EX-Bahn-Berge der Schweiz

von Daniel Anker

ISBN: 9783039130290
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Natur, Gesellschaft
Umfang: 220 Seiten
Format: Buch
Erscheinungsdatum: 01.01.2022
Verlag: AS Verlag
Preis: € 40,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Neu-alte Skitourenberge bekommt das Land. Wenn der (Kunst-)Schnee ausbleibt oder das Geld für die Renovation, dann stehen Liftanlagen plötzlich still. Und Hügel und Berge in der Schweiz werden wieder Ziele für Skifahrer und Snowboarderinnen, die aus eigener Kraft in die Höhe kommen. Auf 55 Gipfel in den Schweizer Bergen führten einst – manchmal bis ganz zuoberst – Ski- und Sessellifte, aber auch Gondel- und Seilbahnen. Die Vergangenheitsform ist richtig: Die Anlagen waren mehrheitlich nur in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Betrieb. Nun laufen sie nimmer, und die Schneesportler, die mit Fellen an den Brettern hochsteigen, haben die weissen Hänge wieder für sich allein. Die meisten Lifte wurden mangels Nachfrage und Schneefall sowie wegen anderen Gründen stillgelegt. Und dann rückgebaut, teilweise wenigstens. Manchmal ist alles noch da, die Bügel und die Kabinen, die Masten und die Stationen, nur die Leute in Pistenskischuhen fehlen. Manchmal sieht man aber kaum noch was im Gelände. Vielleicht noch ein kleines Holzhäuschen, hier der Betonsockel eines Masten, drüben eine Ausbesserung im Gelände, da ein Schild.
Genau: Die Lifte sind weg (oder fahren wenigstens nicht mehr), die Erinnerungen blieben. Und neue Möglichkeiten im Tourenskilauf kommen hinzu bzw. werden wieder wahr. Oft waren diese besonderen Gipfel, bevor sie mit Liften erschlossen wurden, ja schon Ziele von Tourengängern. Denn eines ist sicher: Anhöhen, auf die Aufstiegshilfen gebaut wurden, eignen sich grundsätzlich gut zum Abfahren.
Bereits werden nicht mehr laufende, verlassene und verlorene Skigebiete wissenschaftlich untersucht. Die Forscher haben auch schon einen Begriff kreiert: Lost Ski Area Projects – LSAP. Mehr noch: Das Buch dazu ist ebenfalls schon auf der Piste bzw. im Programm des AS Verlages: „Letzte Bergfahrt. Aufgegebene Skigebiete und ihre touristische Neuausrichtung“ von Matthias Heise und Christoph Schuck. Der Skitourenführer zu 48 Ex-Bahn-Bergen ist sozusagen der Praxisteil zur letzten Bergfahrt. Sicher wie grüne Weihnachten im Mittelland wird die Zahl der LSAP zunehmen. Die einen freut‘s, die andern reut‘s. Und umgekehrt.
Anders gesagt: Aus dem Après Ski ist Après Lift geworden.

Posted by Wilfried Allé Thursday, December 16, 2021 11:07:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Natur Technik/Natur
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Dunkelblum 

Roman

von Eva Menasse

ISBN: 9783462047905
Ausgabe: 8. Auflage
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 528 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 19.08.2021
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Preis: € 25,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Jeder schweigt von etwas anderem.
Auf den ersten Blick ist Dunkelblum eine Klein­stadt wie jede andere. Doch hin­ter der Fas­sade der öster­reichi­schen Ge­mein­de ver­birgt sich die Ge­schich­te eines furch­tba­ren Ver­bre­chens. Ihr Wis­sen um das Er­eig­nis ver­bin­det die äl­teren Dunkel­blumer seit Jahr­zehn­ten – ge­nau­so wie ihr Schwei­gen über Tat und Täter. In den Spät­som­mer­ta­gen des Jah­res 1989, wäh­rend hin­ter der nahe­ge­le­genen Gren­ze zu Un­garn be­reits Hun­der­te DDR-Flücht­lin­ge war­ten, trifft ein rät­sel­haf­ter Be­su­cher in der Stadt ein. Da ge­ra­ten die Din­ge plötz­lich in Be­we­gung: Auf einer Wiese am Stadt­rand wird ein Ske­lett aus­ge­gra­ben und eine jun­ge Frau ver­schwin­det. Wie in einem Spuk tau­chen Spu­ren des al­ten Ver­bre­chens auf – und kon­fron­tie­ren die Dunkel­blumer mit einer Ver­gan­gen­heit, die sie längst für er­le­digt hiel­ten. In ihrem neuen Ro­man ent­wirft Eva Menasse ein großes Ge­schichts­pa­no­ra­ma am Bei­spiel einer klei­nen Stadt, die im­mer wie­der zum Schau­platz der Welt­po­li­tik wird, und er­zählt vom Um­gang der Be­woh­ner mit einer his­to­ri­schen Schuld. »Dunkel­blum« ist ein schau­rig-ko­mi­sches Epos über die Wun­den in der Land­schaft und den Seelen der Men­schen, die, anders als die Er­inne­rung, nicht ver­gehen.
»Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Be­tei­lig­ten ge­mein­sam ge­wusst. Des­halb kriegt man sie nach­her nie mehr rich­tig zu­sam­men. Denn von je­nen, die ein Stück von ihr be­ses­sen ha­ben, sind dann im­mer gleich ein paar schon tot. Oder sie lü­gen, oder sie ha­ben ein schlech­tes Ge­dächt­nis.«

FALTER-Rezension

Durch die Grauzonen einer braunen Kleinstadt

Es gibt dieses Bonmot von Öster­reich als Punsch­krapfen­land. Es sei außen süß und rosa, in­nen drin feucht­braun und alko­hol­ge­tränkt. Es steht für Öster­reichs Um­gang mit sei­ner Nazi-Ver­gan­gen­heit, die man bis in die spä­ten 1980er-Jahre mit Alpen­kitsch ver­deckte. Man war doch das erste Opfer Hitler-Deutsch­lands und sonst un­schul­dig.

Das funktionierte, bis ein Bundes­prä­si­dent­schafts­kan­di­dat na­mens Kurt Wald­heim (ÖVP) in sei­nem Wahl­kampf über seine NS-Ver­gan­gen­heit stol­per­te, bes­ser ge­sagt: über sei­nen Um­gang damit. Er wollte sich nicht so recht er­in­nern, wie die meis­ten Kriegs­ve­te­ra­nen sei­ner Gene­ra­tion, und wur­de ge­nau des­wegen ge­wählt. Das Bild von der ge­schichts­ver­ges­senen Alpen­re­pu­blik lebt bis heute fort, vor allem in anglo­ameri­ka­nischen Medien.

Eva Menasses neuer, dritter und bislang um­fang­reichster Roman, „Dunkel­blum“, spielt in so einer Punsch­krapfen­stadt. Sie heißt, wie ihr Werk, „Dunkel­blum“ und liegt im Bur­gen­land. Es ist ein fik­ti­ver Schau­platz, zu­sam­men­ge­setzt aus vie­len Orten die­ser Ge­gend, in denen sich in den letz­ten Mo­na­ten des Zwei­ten Welt­kriegs so ge­nannte End­phasen­ver­bre­chen an Juden und Zwangs­ar­bei­tern er­eig­neten. Die Na­zis trie­ben sie auf ihrem Rück­zug vor der Roten Armee aus Un­garn Rich­tung Wes­ten. Wer noch ar­bei­ten konnte, musste Hit­lers Süd­ost­wall bauen. An­dere wurden mas­sa­kriert und er­mor­det.

Das bekannteste Verbrechen geschah in Rechnitz. Im März 1945 feier­ten Nazi-Bon­zen ein Fest im Schloss der Gra­fen­fa­mi­lie Batthyány, das in einem Mas­saker an 180 Men­schen en­de­te. Das Massen­grab wurde bis heute nicht ge­fun­den, ein Volks­ge­richts­ver­fahren in den Nach­kriegs­jahren blieb ohne Er­geb­nis. Das Mas­sa­ker von Rech­nitz wurde von His­to­ri­kern be­forscht sowie von Künst­lern fil­misch und li­te­ra­risch ver­ar­bei­tet, etwa in El­friede Jeli­neks Drama „Rechnitz (Der Würge­engel)“.

Ich wollte keinen Rechnitz-Roman schreiben“, sagt Eva Menasse. Aber na­tür­lich ist „Dunkel­blum“ eine Art Rech­nitz-Ro­man ge­wor­den. Me­nasse de­kli­niert nicht nur die klas­si­schen Anti-Hei­mat-Roman-The­men wie Ver­drän­gung, Schwei­gen, Schuld und Sühne an­hand ihrer fik­ti­ven Modell­stadt durch. Sie er­zählt auch die Um­brüche des Jahres 1989 mit: den Fall des Ei­ser­nen Vor­hangs, die Flucht der ers­ten DDR-Bür­ger über die grüne Grenze.

Dazu kommen auch noch das Motiv des zi­vi­len Auf­be­geh­rens und die Um­welt­be­we­gung. Die Dunkel­blumer wehren sich im Jahr 1989, in dem der Roman spielt, ge­gen eine neue Was­ser­ver­sor­gungs­an­lage. Fehlt bloß noch der Auf­stieg des da­ma­ligen FPÖ-Chefs Jörg Haider, denkt man sich kurz, aber die­se zeit­ge­schicht­liche Tan­gen­te er­spart sich Menasse.

Auch für die Autorin, Jahrgang 1970, war 1989 ein Schlüs­sel­jahr. Sie er­lebte als junge Jour­na­lis­tin im Pro­fil den Fall des Eiser­nen Vor­hanges mit. Mit Öster­reichs Ge­schichts­ver­ges­sen­heit wuchs sie ohne­hin auf. Über den Lon­do­ner Pro­zess ge­gen den Holo­caust­leug­ner David Irving schrieb sie einen viel­be­ach­teten Re­por­tage­band. Und wie schon in „Quasi­kri­stalle“, ihrem letz­ten Ro­man, nimmt Me­nas­se ver­schie­dene Er­zähl­per­spek­tiven ein, um eine These zu de­mons­trie­ren: Die eine Ge­schich­te gibt es nicht, es sind im­mer vie­le Er­zäh­lun­gen neben­ei­nan­der, die sich wider­spre­chen und in Kon­kur­renz zu­ei­nander ste­hen.

Wer sich im Lesefluss gerne an einer Pro­ta­go­nis­tin oder einem Pro­ta­go­nisten fest­hält, wird ent­täuscht. Wer gern tief in die Psyche und in das Be­ziehungs­ge­flecht von fik­ti­ven Cha­rak­teren ein­taucht, wer gerne in Ro­ma­nen ver­sinkt, die Zeit­ge­schichte bloß en pas­sant mit­er­zählen, wie sie bei­spiels­weise die ita­lienische Au­to­rin Fran­ces­ca Me­lan­dri schreibt, auch.

Menasse schafft eher ein literarisches Wimmel­bild mit einer Viel­zahl an possier­lich über­zeich­neten Fi­guren. So will sie Dunkel­blums kollek­ti­ves Ge­dächt­nis und Ge­wis­sen skiz­zie­ren, die Leer­stel­len die­ser in Ab­hän­gig­keiten und Ge­heim­nis­sen ver­schwo­re­nen Ge­mein­schaft. Dunkel­blums Be­woh­ner spie­len nicht die Haupt­rolle, sie sind nur Funk­tionen.

Wir lernen eine rebellierende Tochter aus besserem Haus kennen, die ge­mein­sam mit Stu­den­ten aus Wien den jü­di­schen Fried­hof Dunkel­blums res­tau­riert. Sie steht für die kri­ti­sche, junge Ge­ne­ra­tion, die will, dass sich die Vor­fahren mit den Ver­bre­chen der NS-Zeit kon­fron­tie­ren. Es gibt den alten Dorf-Nazi, der res­pek­tiert wird, weil er sei­ne alten Kon­takte stets für die Dorf­ge­mein­schaft ein­ge­setzt hat. Die re­so­lute Hotel­wir­tin, die als Zim­mer­mäd­chen unter den alten Ho­te­li­ers, Ju­den, an­fing und dann das Haus über­nahm. Dazu den Dorf­arzt, der sein Wis­sen über das da­ma­lige Mas­sa­ker mit in die Pen­sion nimmt. Einen jü­di­schen Greißler, der in seiner alten Heimat­stadt nach dem Krieg trotz allem neu an­ge­fangen hat.

Und einen geheimnisvollen Gast aus Übersee, der viele un­an­ge­nehme Fra­gen stellt und sich der Suche nach den Grä­bern der einst Er­mor­de­ten ver­schrie­ben hat. Ein Lage­plan des Ortes er­leich­tert die Orien­tie­rung. Es wird auf den über 500 Sei­ten mit­unter näm­lich ganz schön un­über­sicht­lich.

Zwischendurch nimmt Menasse die Haltung einer alt­klugen, sar­kas­ti­schen Stadt­schrei­berin ein. Sie spart nicht mit Dia­lekt­aus­drücken. Topfen­neger, Kri­spin­deln, Zniach­terln, Tschick, Tschop­perl, Tuchent: ein Glos­sar am Ende des Romans hilft Le­sen­den jen­seits des bay­erischen Sprach­raums beim De­chif­frie­ren der groß­zügig ein­ge­streu­ten Ösi-Folk­lore. Das deut­sche Feuil­le­ton lobte Me­nasses Kunst-Dunkel­blume­risch, man bekäme regel­recht „Dialekt­neid“, schrieb Die Zeit. Vor Ort liest es sich strecken­weise manie­riert.

Was bleibt? „Das ist nicht das Ende der Ge­schich­te“, lautet Menasses letz­ter Satz. Dunkel­blums Ge­heim­nis – was ge­schah in der Nacht des Mas­sa­kers an den jü­di­schen Zwangs­ar­bei­tern und wo liegt ihr Grab – bleibt ver­bor­gen. Unter den Schich­tungen des Er­in­nerns und dem Zucker­guss des Ver­drän­gens. Das ist durch­aus stim­mig. Eva Me­nasse hat Öster­reichs Ver­gan­gen­heits­po­li­tik ein wür­diges litera­ri­sches Denk­mal ge­setzt.

Barbaba Tóth in Falter 34/2021 vom 27.08.2021 (S. 28)

Posted by Wilfried Allé Sunday, December 5, 2021 1:05:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Zu viel und nie genug 

Wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt erschuf (deutsche Ausgabe von Too Much and Never Enough)

von Mary L. Trump

ISBN: 9783453218154
Ausgabe: Deutsche Erstausgabe
Verlag: Heyne
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Biographien, Autobiographien
Umfang: 288 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 12.08.2020
Übersetzung: Christiane Bernhardt, Pieke Biermann, Gisela Fichtl, Monika Köpfer, Eva Schestag
Preis: € 22,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das wahre Gesicht von Donald Trump – intime Details aus der Familiengeschichte des US-Präsidenten
Mary L. Trump, Nichte des US-Präsidenten und promovierte klinische Psychologin, enthüllt die dunkle Seite der Familie Trump. Einen Großteil ihrer Kindheit verbrachte Mary im Hause ihrer Großeltern in New York, wo auch Donald und seine vier Geschwister aufwuchsen. Sie schildert, wie Donald Trump in einer Atmosphäre heranwuchs, die ihn für sein Leben zeichnete und ihn letztlich zu einer Bedrohung für das Wohlergehen und die Sicherheit der ganzen Welt machte. Als einziges Familienmitglied ist Mary Trump dazu bereit, aus eigener Anschauung die Wahrheit über eine der mächtigsten Familien der Welt zu erzählen. Ihre Insiderperspektive in Verbindung mit ihrer fachlichen Ausbildung ermöglicht einen absolut einmaligen Einblick in die Psyche des unberechenbarsten Mannes, der je an der Spitze einer Weltmacht stand.
»Anstößig, bissig und gut recherchiert – und zugleich doch eine fesselnde Erzählung.« —The Guardian »Nach vielen, vielen Trump-Büchern ist dieses tatsächlich unentbehrlich.« — Vanity Fair

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 15.08.2020

Mit diesem Buch ist es Donald Trumps Nichte Mary L. Trump gelungen, das Verhalten des Präsidenten vor dem Hintergrund seiner Erziehung verständlich zu machen, findet Rezensentin Marlen Hobrack. Die Autorin zeigt Trumps fehlende Empathie und sein Anspruchsdenken als Resultat der Bevorzugung durch den soziopathischen Vater, der Donalds Bruder Freddy vor Donalds Augen beständig demütigte, so die Kritikerin. Nach der Lektüre versteht Hobrack allerdings noch immer nicht, wieso Millionen von Amerikanern Donald Trump für einen fähigen Präsidenten halten.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.08.2020

Rezensent Claudius Seidl nimmt dieses Buch, das er zunächst vielleicht für überflüssig hielt, am Ende sehr ernst. Denn es hat ihm nicht nur das erzählt, was man durch genaues Hinsehen und -hören schon längst wusste, erklärt er. Vielmehr schaffe es die Nichte Donald Trumps, teils womöglich unfreiwillig, so der Kritiker, die große Energie und das große Können ihres Onkels in Sachen Tricks, Blendung und Hochstapelei zum Schutz seiner selbst zu porträtieren. Leider ist er kein "Clown", lautet das Fazit des Rezensenten, sondern tatsächlich ein extrem gefährlicher Mann.

Posted by Wilfried Allé Sunday, December 5, 2021 11:22:00 AM Categories: Autobiographien Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Biographien
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Spazierengehen ist erlaubt 

Eine Stimmen-Collage der Pandemie in Erinnerungen, Zitaten, Träumen & Albträumen

von Sebastian Hofer , Wolfgang Paterno

ISBN: 9783903290617
Genre: Belletristik/Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
Umfang: 300 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 01.10.2021
Verlag: bahoe books
Preis: € 19,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das wahre Dunkel der Corona-Pandemie erschließt sich nicht in Fallzahlen und Übersterblichkeitsstatistiken. Es lässt sich nicht anhand von Aktienkursen und Arbeitslosenzahlen erfassen, nur bedingt an Angst-, Stress- und Depressionserzählungen, Bildungs- oder Protestberichten. Die Pandemie ist uns allen, die wir im Frühling 2020 aus dem gewohnten Leben gerissen wurden, eingeschrieben, zu oft aber noch immer unlesbar. Es bleibt auf unbestimmte Zeit hinaus unfassbar, wie diese kollektive Grenzerfahrung in das Gefüge der Welt eingegriffen hat.
Dieses Buch ist der Versuch, die Dynamiken der Pandemie zu ermessen – an dem, was über sie gesagt und geschrieben wurde. Im ersten Schock, im trügerischen Aufatmen, in den Rückschlägen und Hoffnungen. Im Versuch, damit zurechtzukommen, die jähe Bedrängnis der Pandemie zu managen, zu bewältigen, zu vergessen, über die Opfer zu trauern. Von Politikerinnen, Friseuren, Kindern, Kranken und Hinterbliebenen. Von Zweiflern und Kritikerinnen, Wissenschaftlern, Reporterinnen und Journalisten, Autoren und Schriftstellerinnen, Schülern und Schülerinnen. Von so vielen. Spazierengehen ist erlaubt ist das Logbuch eines schier endlosen Ausnahmejahres, in dem Erinnerungen, Zitate, Träume und Albträume als Stimmen-Collage versammelt sind. Das Geflecht im Gerüst sich überschlagender Ereignisse, ein anschwellender Kanon des Unsagbaren.

FALTER-Rezension

Es wäre natürlich schöner, wir hätten das Gröbste überstanden und diese Neuerscheinung ließe sich als Nachbericht lesen. "Eine Stimmen-Collage der Pandemie in Erinnerungen, Zitaten, Träumen &Albträumen" (Untertitel) haben die Profil-Redakteure Hofer und Paterno zusammengetragen und zum "Logbuch eines endlosen Ausnahmejahres" (Vorwort) arrangiert. Die Frage ist, ob man das ausgerechnet jetzt lesen möchte -und nicht lieber in Kochbüchern nach aufwendigen Rezepten stöbert oder sich einen dicken Roman aus dem 19. Jahrhundert vornimmt.

Dessen ungeachtet bietet "Spazierengehen ist erlaubt" einen guten Überblick über die Dynamiken der Pandemie sowie das atemlose Wortgeklingel, das diese Zeit mitprägt. Das Buch listet nicht nur beflissen Politikerzitate und Pressestimmen auf, auch Schülerinnen, Postbusfahrer und Schriftstellerinnen kommen darin zu Wort.

Sebastian Fasthuber in Falter 48/2021 vom 03.12.2021 (S. 36)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, December 1, 2021 10:56:00 PM Categories: Belletristik/Essays Feuilleton Interviews Literaturkritik
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