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Ein Engel in der Hölle von Auschwitz 

Das Leben der Krankenschwester Maria Stromberger

von Harald Walser

ISBN: 9783854397021
Genre: Biografien/historisch&politisch, Nationalsozialismus
Umfang: 256 Seiten
Format: Gebundene Ausgabe
Erscheinungsdatum: 31.08.2021
Verlag: Falter Verlag
Preis: € 24,90

 

Klappentext

„Meinen Reichtum an Liebe habe ich in Auschwitz verstreut“, schrieb die österreichische Krankenschwester Maria Stromberger im Juli 1946 resignierend an den ehemaligen Auschwitz-Häftling Edward Pyś nach Polen. Sie befand sich in einem Internierungslager für ehemalige Nationalsozialisten − wie sie schreibt „mitten unter Nazis, SS, Gestapo“. Das traf sie doppelt, hatte die erbitterte Gegnerin des NS-Staates doch in Auschwitz aktiv Widerstand geleistet, viele Häftlinge gerettet, Kurierdienste erledigt, Waffen und Sprengstoff geschmuggelt. Nachdem sie zwei ehemalige Auschwitzhäftlinge, die im Fieberwahn über Auschwitz berichteten, gepflegt hatte, ließ sie sich am 1942 freiwillig ins KZ Auschwitz versetzen, mit der Begründung: Ich will sehen, wie es wirklich ist, vielleicht kann ich auch etwas Gutes tun.

Die in der Geschichte des österreichischen Widerstands wohl einzigartige Frau war zu Lebzeiten zwar in Polen hoch angesehen, wurde in ihrer Heimat aber kaum gewürdigt. Dank vieler neuer Quellen legt der Autor hier eine umfassende Biografie Maria Strombergers vor.

Rezensionist Markus Barnay

Späte Würdigung einer mutigen Frau

„Ich bin mitten unter Nazis, SS, Gestapo!“, schrieb Maria Stromberger ihrem Vertrauten, dem ehemaligen KZ-Häftling Edward Pyś. Das war im Juli 1946, mehr als ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur. Die „Nazis, SS und Gestapo“ befanden sich damals mitten in Vorarlberg, nämlich im Anhaltelager Brederis, in dem führende Köpfe der heimischen Nationalsozialisten vorübergehend interniert wurden. Was Maria Stromberger besonders erregte, war die Art, wie sich die Täter an diesem Ort selbst zum Opfer stilisierten: „(Ich) muss ihre Redensarten täglich anhören, über die ‚Ungerechtigkeit’, höre Klagen, was die Menschen jetzt mit ihnen tun.“ Diese Klagen standen aus Strombergers Sicht in einem himmelschreienden Widerspruch zu dem, was die Nazis in den Jahren zuvor verbrochen – oder zumindest mitverursacht und geduldet hatten: „Dann stehen vor meinem geistigen Auge die Erlebnisse von Auschwitz!! Ich sehe den Feuerschein der Scheiterhaufen! Ich verspüre den Geruch verbrannten Fleisches in der Nase, ich sehe die Elendszüge der einrückenden Kommandos mit den Toten hinterher, (...) und ich könnte diesen hier ins Gesicht schreien und blind auf sie losgehen.“

Hochriskanter Widerstand mitten im KZ

Dass Maria Stromberger gemeinsam mit Nazis eingesperrt wurde, war natürlich ein Irrtum: Nach ihr wurde im April 1946 in Zeitungsanzeigen gefahndet, weil sie in Verdacht geraten war, als Krankenschwester im Konzentrationslager Auschwitz an Tötungen von Häftlingen beteiligt gewesen zu sein. In Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall: Maria Stromberger rettete Häftlingen das Leben – einigen, die als Hilfskräfte in ihrer unmittelbaren Umgebung arbeiteten, ganz direkt und unter großem Risiko, vielen anderen durch ihre Aktivitäten im Widerstand. Denn Schwester Maria stand in direkter Verbindung mit der Widerstandsorganisation in- und außerhalb des Lagers, schmuggelte nicht nur Informationen über die dortigen Zustände hinaus, sondern auch Waffen und Sprengstoff hinein, um geplante Ausbruchsversuche zu ermöglichen – und um, vor allem gegen Ende des Krieges, zu verhindern, dass die SS alle Menschen ermordete, die als mögliche Zeugen ihrer Grausamkeiten später darüber berichten könnten.

Maria Strombergers Wirken in Auschwitz wurde in Vorarlberg, wo sie vor und nach dem Krieg lebte, kaum gewürdigt: Als sie in Brederis festgehalten wurde, bedurfte es einiger Interventionen aus Polen (unter anderem vom späteren Ministerpräsidenten Jozef Cyrankiewicz, selbst ehemaliger Auschwitz-Häftling), ehe sie wieder freigelassen wurde. Fast 30 Jahre nach ihrem Tod (sie starb 1957 in Bregenz) wurde ihre Geschichte hierzulande zum ersten Mal erwähnt – in Meinrad Pichlers Beitrag über „Humanitäre Hilfe“ als eine Form des Widerstands gegen die NS-Herrschaft im wegweisenden Buch über Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg: „Von Herren und Menschen“. Basis für Pichlers Ausführungen waren die Erinnerungen des KZ-Überlebenden Hermann Langbein, der schon 1972 in seinem Standardwerk „Menschen in Auschwitz“ die Zustände im größten Vernichtungslager der Nazi-Diktatur beschrieben hatte.

„Engel in der Hölle von Auschwitz“

Die Geschichte der Maria Stromberger beschäftigte Harald Walser von da an immer wieder. Der Historiker, damalige Lehrer und spätere Direktor des Bundesgymnasiums Feldkirch, der sich – nach zehn Jahren als Nationalratsabgeordneter der Grünen – mittlerweile im Ruhestand befindet, veröffentlichte 1988 die ersten „Biografischen Notizen“ über Stromberger in der Zeitschrift „Montfort“. Seither hat Walser fortlaufend weitere Informationen über Stromberger gesammelt, hat Zeitzeug*innen interviewt, die Entstehung einer TV-Dokumentation begleitet, in Auschwitz, Prag, Frankfurt, Kärnten und Wien geforscht – und all das jetzt zu einer umfangreichen Biografie jener Frau zusammengefasst, die KZ-Überlebende als „Engel in der Hölle von Auschwitz“ bezeichneten. 
Es ist nicht die erste Biografie über die katholische Krankenschwester Maria Stromberger, die hierzulande erscheint: Schon 2007 veröffentlichte Andreas Eder eine Broschüre, in der wichtige Fakten über ihren Lebenslauf und ihr Wirken in Auschwitz enthalten waren. Als Unterrichtsmaterial half diese Biografie seither, Strombergers Bedeutung für den Widerstand gegen das NS-Regime zu erläutern, vor allem den Besuchern des Bregenzer „Gedenkwegs“, der auch über den „Maria-Stromberger-Weg“ im Dorf führt: Er verbindet, zwischen Landeskrankenhaus und Krankenpflegeschule, die Kolumbanstraße mit der Schloßberggasse.


Von der Kindergarten-Helferin zur Krankenschwester im KZ

Was Harald Walser jetzt auf über 250 Seiten präsentiert, geht allerdings weit über die bisherigen Publikationen über Stromberger hinaus: Er hat unter anderem die Lebensgeschichten der Eltern und aller acht Geschwister der in Kärnten geborenen und aufgewachsenen Maria Stromberger recherchiert – und einige davon auch gegenüber bisherigen Veröffentlichungen korrigiert. Er hat aber auch sämtliche beruflichen Stationen der späteren Krankenschwester erforscht: Sie begann als Kindergarten-Helferin, arbeitete in Hotellerie und Gastronomie, lebte fast zwei Jahrzehnte lang in Graz, ehe sie in der Mehrerau in Bregenz ihre Ausbildung zur Krankenschwester begann. In das KZ Auschwitz ließ sie sich freiwillig versetzen, weil sie sehen wollte, „wie es wirklich ist“, schrieb ihre Schwester später in einem Brief an Hermann Langbein, was der in seinem Buch so kommentierte: „Andere stellten sich blind und taub, wenn sie etwas erfuhren, Maria Stromberger suchte die Wahrheit“.

Was Harald Walsers Stromberger-Biografie auszeichnet, ist die umfangreiche Dokumentation der Widerstandstätigkeit von Maria Stromberger: Während andere Historiker sich mit unbelegten Behauptungen und Hang zum Etikettenschwindel durchschummeln wollen (siehe die Rezension zur Biografie von Georg Schelling in der KULTUR 2/2020), hat Walser neue Quellen erschlossen, etwa den privaten Nachlass von Maria Stromberger, Berichte von Zeitzeugen im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz, die Aussagen der ehemaligen Häftlinge beim Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, und nicht zuletzt die persönlichen Gespräche und den Briefverkehr mit KZ-Überlebenden wie dem eingangs erwähnten Eduard „Edek“ Pyś, Artur  Radvanský und Hermann Langbein. Sie sind mittlerweile alle verstorben, umso wertvoller sind die persönlichen Aufzeichnungen und Erinnerungen von Harald Walser. Er stellt auch einige Objekte aus dem Nachlass von Maria Stromberger für die neue Ausstellung im Österreich-Pavillon in der Gedenkstätte Auschwitz zur Verfügung, die im Oktober nach langem Hin und Her endlich eröffnet werden soll.

Posted by Wilfried Allé Sunday, January 23, 2022 8:14:00 PM Categories: Biografien/historisch Biografien/politisch Nationalsozialismus
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Unbehagen 

Theorie der überforderten Gesellschaft

von Armin Nassehi

ISBN: 9783406774539
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 384 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 16.09.2021
Verlag: C.H.Beck
Preis: € 26,80

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

 

WARUM MODERNE GESELLSCHAFTEN MIT DER KRISENBEWÄLTIGUNG ÜBERFORDERT SIND

Der Ruf nach mehr Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt entspringt unserem sehnlichsten Wunsch, aus einem Guss und womöglich kollektiv handeln zu können. Aber die moderne Gesellschaf t kennt keinen Ort, an dem ihre unterschiedlichen Funktionslogiken nachhaltig aufeinander abgestimmt werden können. In Krisen wird diese systematische Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst besonders deutlich. Armin Nassehi zeigt, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgsellschaften zwangsläufig scheitern muss. Aus dieser notorischen Enttäuschung resultiert ein Unbehagen, das den Blick auf die Gesellschaft von ihrer grundlegenden Selbstüberforderung ablenkt.
Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern, sind träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Prak- tiken immer wieder als erstaunlich fragil und vulnerabel. In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander. Schon die Semantik der Krise suggeriert aber, dass es so etwas wie einen wohlgeordneten Status geben könnte, der sowohl modern als auch nicht-krisenhaft wäre. Doch dieser Vorstellung läuft bereits die innere Differenziertheit der Gesellschaft in ökonomische, politische, wissenschaftliche, rechtliche und familiale Logiken zuwider. Armin Nassehi vertritt in seinem Buch dagegen die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben, ohne je in eine Form prästabilierter Harmonie zurückzukehren. Er zeigt, wie sowohl die sozialwissenschaftliche Literatur als auch die öffentlichen Debatten der Gegenwart den Blick auf diesen Zusammenhang verstellen, indem sie Gesellschaft ausschließlich in der Sozialdimension, d. h. in illusionären Kollektivbegriffen beschreiben. Demgegenüber stellt Nassehi die Sachdimension gesellschaftlicher Strukturen ins Zentrum seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse. Dadurch gelingt ihm ein kontruktiver Blick auf eine überforderte Gesellschaft, die in ihrem Unbehagen ihre eigene Problemlösungskompetenz zu vergessen droht. Er deutet zugleich an, was man aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um uns für künftige Krisensituationen besser zu rüsten – ohne übersteigerte Erwartungen zu wecken.

Armin Nassehi über die überforderte Gesellschaft
Warum unsere Gesellschaft nicht aus einem Guss regiert werden kann
Das Unbehagen an der Gesellschaft - Armin Nassehis neue Theorie

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.10.2021

Rezensent Peter Unfried findet großes Interesse an der neuen Gesellschaftstheorie von Armin Nassehi. Der Münchener Soziologe schreibt darin vom "Unbehagen" in der Gesellschaft, das durch die Tatenlosigkeit trotz des Wissens über Probleme wie dem Klimawandel entsteht, erklärt Unfried. Zwar werde der Autor vor allem von "akademischen Classic-Linken" womöglich durch seine Praxisorientierung kritisch gelesen, der Rezensent erkennt in Nassehis Ansatz jedoch Fortschritt im Vergleich zu den üblichen politischen Zeitgeist-Analysen.  Schließliche lerne man auch noch, dass für Koalitionen und die Gesellschaft der Zukunft ein Perspektivenwechsel anstelle der normativen Sicherheit stehen sollte, schließt der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 22.09.2021

Sehr instruktiv findet Rezensentin Vera Linß die Analysen des Soziologen Armin Nassehi, der in diesem Buch aufzeigt, warum die Gesellschaft es nicht mehr schafft, Probleme zu lösen. Nassehis Ansicht nach werde irrigerweise immer noch an ein Kollektiv appelliert, wo es darum gehe müsse, die Logiken der verschiedenen "Einheiten des Sozialen" zu erkennen: Wirtschaft, Medien, Recht, Familien etc. Wie diese Logiken dann neu miteinander "verzahnt" werden können, führt der Autor der Rezensentin am Beispiel der Palliativmedizin anschaulich und plausibel vor Augen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 21.09.2021

Rezensentin Ina Rottscheidt empfiehlt das Buch des Soziologen Armin Nassehi. Das Versagen der Gesellschaft bei kollektiven Herausforderungen und Katastrophen erklärt ihr der Autor mit Blick auf die Pandemie verständlich und überzeugend mit der Unfähigkeit der Menschen, unterschiedliche Interessen, Werte und Erwartungen für ein gemeinsames Ziel zu bündeln. Dass wir nicht kollektiv handeln können, erkennt Rottscheidt mit Ernüchterung, zumal der Autor auch keine einfachen Lösungen parat hat, sondern vor allem die Logik gesellschaftlichen Handelns offenzulegen sucht, wie die Rezensentin weiß. Für Rottscheidt ein kluges Buch mit wertvollen Erkenntnissen für unsere unmittelbare Gegenwart.
Posted by Wilfried Allé Tuesday, January 18, 2022 10:56:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Nationalpark Donau-Auen 

Ein Führer durch die Natur zwischen Wien und Bratislava

von Christina Rademacher

ISBN: 9783854396123
Genre: Reiseführer, Naturführer, Wanderführer
Umfang: 176 Seiten
Region: Wiener Becken, Marchfeld, Österreichische Donau, Hundsheimer Berge, Westslowakei, Donauauen
Erscheinungsdatum: 27.06.2018
Verlag: Falter Verlag
Preis: € 19,90

Inhaltsverzeichnis

So nah an der Stadt und doch so ganz anders als Wien und Bratislava: der Nationalpark und die Naturschutzgebiete der Donau- und March-Auen. Im Großraum zwischen der Hauptstadt Österreichs und jener der Slowakei liegt ein arten- und abwechslungsreiches Erholungsgebiet für Mensch und Natur. In zehn Kapiteln werden dieses Gebiet und seine nähere Umgebung vorgestellt. Seltene Tiere und Pflanzen, interessante Menschen und der Sinn eines Nationalparks zwischen zwei großen Städten sind Themen des Führers, der auch ganz praktische Tipps gibt: Wanderrouten, kulinarische Besonderheiten, Veranstaltungen und Naturerlebnisse in unterschiedlichen Landschaften, von der Steppe über karge Berge bis zu prächtigen Aulandschaften an Flüssen und Altarmen. Mit dem Guide werden die Donau- und March-Auen zum nah gelegenen Freizeit- und Naturerlebnis.

FALTER-Rezension:

Niederösterreichs Amazonas

In der Region zwischen Wien und Bratislava tritt häufiger als anderswo Wasser über die Ufer von Donau und March. Schön für tausende Tiere und Pflanzen in den Auen. Könnte ruhig öfter passieren

Katarina Zlochová steht mindestens zweimal im Jahr im unteren Teil ihres Grundstücks knöcheltief im Wasser: im Frühling, wenn Hochwasser die March über ihre Ufer treten lässt und im Juni, wenn mit der Donau dasselbe geschieht. Dann drückt der zweitmächtigste Strom Europas das Wasser der March zurück und versenkt Wiesen und Wälder, bis nur noch die obersten Spitzen der blauen Schwertlilien zu sehen sind, die für das Land, in dem die March in die Donau mündet, typisch sind.

Ohne das überlaufende Wasser würden die blauen Blumen, die in Österreich vom Aussterben bedroht sind und als Heilpflanze gelten, hier nicht vorkommen. Ebensowenig wie die mehr als 800 Pflanzenarten, über 30 Säugetier- und 100 Brutvogelarten, acht Reptilien- und 13 Amphibienarten und rund 60 Fischarten, die im Nationalpark Donau-Auen leben, der sich zwischen Wien und Bratislava auf 9300 Hektar erstreckt.

Katarina Zlochová ist eine von neun Donau-Expertinnen und –experten, mit denen Autorin Christina Rademacher für ihr Buch „Nationalpark Donau-Auen. Ein Führer durch die Natur zwischen Wien und Bratislava“ gesprochen hat, das diese Woche im Falter Verlag erscheint. Seit 18 Jahren lebt die gebürtige Deutsche in Wien. Ihr sei es ein Anliegen, den Leuten zu zeigen, welche Schätze direkt vor ihrer Haustüre liegen. „Dass man nicht erst in ein Flugzeug steigen muss, um beeindruckende Natur zu erleben, sondern dass – wie hier in den Auen – ein Öffi-Ticket oft reicht.“

Der Nationalpark Donau-Auen schützt die letzte größere zusammenhängende Flussauenlandschaft in Mitteleuropa. Hier konnte die freie Fließstrecke der Donau erhalten werden – der flussbegleitende Auwald gilt als der ursprünglichste und ökologisch bedeutendste in unseren Breiten. Gefährdet wird das Artenreichtum, das – zählt man land- und wasserlebende Insekten sowie wirbellose Tiere dazu – rund 5000 Arten umfasst, durch Flussregulierungen und gebietsfremde Tiere und Pflanzen, die sich schnell ausbreiten und den heimischen Arten Luft, Licht und Nahrung entziehen.

Für ihre Recherche schlüpfte Christina Rademacher über mehrere Monate hinweg in Gummistiefel, um die Auen zu erkunden. „Was mich dabei am meisten überrascht hat, ist, dass der Fluss so eine außerordentlich gestaltende Funktion einnimmt.“ Wäre die Donau unreguliert, lässt sich die Autorin von Experten vorrechnen, bliebe nach 100 Jahren nur ein Prozent der Auenlandschaft so, wie sie jetzt ist: „Wo heute Wasser ist, läge dann eine Kiesbank. Wo sich heute eine Kiesbank erstreckt, wüchsen dann Silberweiden.“ Der stetige Wechsel bildet die Lebensgrundlage für viele Tiere und Pflanzen. Man könne sich die Donau vorstellen wie ein Kind, erklärt Rademacher, das einen Sandkasten mit Kübeln voller Wasser in eine Gebirgslandschaft verwandelt, um sie am nächsten Tag wieder einzureißen und etwas völlig Neues zu bauen.

Für Katarina Zlochová gab es schon Jahre, in denen sie bis zu den Hüften nass war, wenn sie durch ihren Garten schritt. Dann rief sie nach ihrer Familie, die in die Badehosen schlüpfte, die Kartoffeln und Gurken aus dem Boden fischte und die Ernte einsammelte – in einer Babybadewanne, die zwischen den Kindern im Hochwasser schaukelte.

Seit 1974 lebt die tschechische Mikrobiologin in Devínska Nová Ves, einem Stadtteil im Nordwesten Bratislavas, unmittelbar an der Grenze zu Österreich. Die häufigen Überschwemmungen haben den Auwald ringsum „weich“ gemacht: Im sumpfigen Boden gedeihen schnell wachsende Pappeln und Weiden – und Menschen, die ein gewisses Maß an Pragmatismus ausmacht: „Wenn die March ansteigt, wird eben schnell alles in Sicherheit gebracht“, sagt Zlochová.

Für die Wissenschaftlerin, die in der Region Führungen anbietet, ist das Schutzgebiet vor ihrer Haustüre ein Glücksfall: Im Frühling beobachtet sie Smaragdeidechsen bei ihren Paarungskämpfen und Bienenfresser, wie sie fast zwei Meter tiefe Brutröhren in sandige Abhänge graben: Dass die bunt gefärbten Vögel, die in den 80ern bereits als ausgestorben galten, hier überhaupt zu finden sind, ist wohl dem Eisernen Vorhang zu verdanken, der mitten durch das Gebiet der Marchau verlief: „Die Tiere und Pflanzen profitierten von ihm“, meint die Mikrobiologin, „aber ich kann mich noch an die Schreie erinnern, die hier oft zu hören waren.“ Dass es heute einen direkten Weg nach Österreich gibt, ganz ohne Grenzkontrollen, ist für Zlochová „immer noch ein großes Wunder“, wie sie sagt. An den Tag der Grenzöffnung im Jahr 1989, an dem ihre Kinder den Stacheldrahtzaun mit großen Scheren durchgeschnitten haben, erinnert sie sich heute noch gern.

Durch die Begegnung mit Zlochová, erzählt Christina Rademacher, habe sie viel gelernt über die Geschichte der Region, die sich unmittelbar vor der Haustür der Wiener befindet. Und über die Donau selbst: Dass der Fluss nämlich etwa aussieht, wie er aussieht – also mit Ausnahme eines Stücks in der Wachau und im Nationalpark in Österreich streng reguliert –, sei das Ergebnis einer Erfindung, die ab 1830 die Flusslandschaften dieser Welt veränderte: die Dampfschifffahrt. Für die Schiffe, die einen wesentlich größeren Tiefgang und einen wesentlich höheren Wellengang hatten, als die Holzboote, mit denen die Donau davor jahrhundertelang befahren wurde, mussten das Flussbett vertieft und die Ufer stabilisiert werden. Der Hochwasserschutz, Kraftwerks- und Dammbauten taten ihr Übriges, um das Bild des insgesamt 2850 Kilometer langen Flusses zu verändern.

Wie die Flusslandschaft der Donau vor den zahlreichen Eingriffen ausgesehen hat, lässt sich heute nicht rekonstruieren. Dass aber Besucher des Nationalparks einen Eindruck davon bekommen, wie eine Aulandschaft funktioniert, ist im Grunde einem Schwarzstorch, einem Au-Hirsch und einer Rotbauchunke zu verdanken, die vor knapp 35 Jahren ihre, in die Annalen des Naturschutzes eingegangene „Pressekonferenz der Tiere“ abhielten: Autor Günther Nenning, Grünen-Ikone Freda Meissner-Blau, der damalige Chef der FPÖ-Jugend Hubert Gorbach, SPÖ-Urgestein Josef Cap und sein ÖVP-Urgesteins-Kollege Othmar Karas, Schriftsteller Peter Turrini sowie viele andere luden zum Presse-Event, der als Startschuss für den Widerstand gegen das geplante Donaukraftwerk in Hainburg galt und damit als Wegbereiter für den heutigen Nationalpark, der 1996 eröffnet wurde. So kam es, dass die Donau zwischen Wien und Bratislava heute fließen kann, wie sie will, nur: Fragt man die Ranger, die im Jahr tausende Touristen über die angelegten Wanderwege geleiten, so ist die einst wilde Donau heute viel zu zahm. Die vielen Regulierungen haben den Strom träge gemacht. Anstatt auszuufern, fließt er brav in seinem Korsett, in das er sich Jahr für Jahr tiefer gräbt, weil er in den begradigten Abschnitten links und rechts auf Grenzen stößt. In den Auen Seitenarme zu bewässern, geht sich für den Fluss dabei nicht mehr aus, was fatal ist für eine Landschaft, die davon lebt, regelmäßig unter Wasser gesetzt zu werden. Die Donauau lebt von konstanter Veränderung; lassen sich ihre Arme wegen des Wassermangels nicht mehr bewegen, mutiert die Landschaft zu Wald. „Damit Natur Natur sein kann, muss jemand regelmäßig Steine in die Donau werfen“, zitiert Christina Rademacher den Direktor des Nationalparks Carl Manzano in ihrem Buch. Deshalb wird einmal im Jahr Kies, der weiter unten zur Erhaltung der Schifffahrtsrinne aus der Donau gebaggert wird, auf Boote verladen und stromaufwärts ins Wasser gekippt, um die Sohle des Flussbettes aufzufüllen.

Zur Erhaltung der Artenvielfalt in der Au müssen die Nationalparkmitarbeiter nicht nur wie Sisyphus Kieselsteine transportieren, sie müssen auch konstant zupfen und mähen. Obwohl die Leitlinie des Parks verbietet, in die Naturzonen einzugreifen, ist das die einzige Option, um zu verhindern, dass ungeliebte Neulinge in den Auen das Kommando übernehmen:

Alleine in Niederösterreich gibt es mittlerweile weit über 170 eingeschleppte Pflanzenarten: den eschenblättrigen Ahorn, den Götterbaum, Akazien und das kleinblättrige Springkraut zum Beispiel. Entlang der March breiten sich die Rau- und Glattblatt-Astern aus: Werden die Wiesen nicht zweimal pro Jahr gemäht, nehmen die ursprünglich aus Nordamerika stammenden Astern ungebremst überhand und lassen zum Beispiel dem Adonisröschen, das in den 80ern als ausgestorben galt und seit der Antike als Heilmittel bei Herzleiden bekannt ist, keinen Platz.

Und auch im Tierreich breiten sich die Neophyten aus: Im seichten Wasser entlang des Donauufers zum Beispiel finden sich millionenfach kleine bräunliche Muscheln, die Körbchenmuscheln, die ursprünglich aus Asien stammen und mit Containerschiffen vom Yangtze-Fluss eingeschleppt wurden. Mittlerweile haben sie sich in den Auen so stark verbreitet, dass sie den heimischen Muscheln die Nahrung wegfiltern.

In den Auen ebenso millionenfach zu finden – auch ungut, aber definitiv heimisch: die Gelse, wichtige Nahrungsquelle für Fledermäuse, Vögel und andere. Welche Routen Besucher des Nationalparks bevorzugt begehen, während sie sich von Gelsen jagen lassen, steht in Rademachers Buch. Für das in den gelsenfreien Wintermonaten recherchiert wurde.

Verena Randolf in Falter 26/2018 vom 2018-06-29 (S. 52)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 12, 2022 10:27:00 PM Categories: Naturführer Reiseführer Wanderführer
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Moral als Bosheit 

Rechtsphilosophische Studien

von Alexander Somek

ISBN: 9783161608353
Genre: Recht/Allgemeines, Lexika
Umfang: 204 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 01.08.2021
Verlag: Mohr Siebeck
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Moralische Vorwürfe verletzen oder verärgern, vor allem wenn sie einen unvermutet und aus dem Hinterhalt treffen. Plötzlich gilt man als Rassist, Sexist oder gar als elitär. Die Daumen werden nach unten gekehrt und die Menge schreit "Buh". In den Chor einzustimmen verspricht den Teilnehmenden Statusgewinn, denn wer andere verurteilt, reiht sich damit sofort unter die Guten ein. Aber dieses Gutsein ist perfide. Die unbeirrbar auftretende Moral erweist sich bei näherer Betrachtung oftmals als boshaft. Sie macht Mehrdeutiges eindeutig und erzeugt so, was sie anprangert. Sie vermeidet Begründungen, belohnt das Ducken und vertraut auf die blanke Macht der Entrüsteten. Inhaltlich lässt sie sich nicht verallgemeinern, denn sie mutet Menschen zu, Verhaltensmaßstäben zu genügen, denen sie nicht genügen müssen. Die Bosheit dieser Moral gilt es zu begreifen und das Recht von ihrem Einfluss freizuhalten.

Philipp Blom:

In seinem Buch Moral als Bosheit befasst sich Alexander Somek, Rechtsphilosoph und kritischer Analytiker der Moralvorstellungen unserer Zeit, mit emotional aufgeladenen Debatten über Gendern, Sexismus, Rassismus oder Diskriminierung, mit dem Verhältnis von Recht und Moral; er stellt sich – und uns –die Frage, wie sich der Trend zur Aufspaltung in Gruppenidentitäten auf das Gemeinwohl auswirkt. Und er fragt, wie es in unserer moralisierenden, konsum- und wachstumsorientierten Gesellschaft um die soziale Frage, um das Streben nach sozialer Gerechtigkeit bestellt ist.
Posted by Wilfried Allé Monday, January 10, 2022 11:14:00 AM Categories: Lexika Recht/Allgemeines
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Dummheit 

Lieferbar ab Jänner 2022

von Heidi Kastner

ISBN: 9783218012881
Reihe: übermorgen
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 128 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 14.10.2021
Verlag: Kremayr & Scheriau
Preis: € 18,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Dummheit begegnet uns in vielerlei Form – doch woran kann man sie er­ken­nen?“ Was ha­ben so unter­schied­li­che Dinge wie „alter­na­ti­ve Fak­ten“, men­schen­leere Be­geg­nungs­zo­nen in Satel­liten­sied­lun­gen und Schön­heits-OPs als Matura­ge­schenk ge­mein­sam? Heidi Kas­tner wagt sich an den auf­ge­la­de­nen Be­griff der Dumm­heit und be­trach­tet so­wohl die so­ge­nann­te mess­bare Intel­li­genz (IQ) so­wie die „hei­li­ge Ein­falt“ und die emo­tio­nale In­tel­li­genz, deren Feh­len im­men­sen Scha­den an­rich­ten kann. Was treibt Men­schen, die an sich ratio­nal-kogni­tiv nach­den­ken könn­ten, dazu, sich und an­dere durch „dumme“ Ent­schei­dungen ins Un­glück zu stür­zen? Wie ist kol­lek­ti­ve Be­reit­schaft zu Igno­ranz zu er­klä­ren und wa­rum nimmt die­ses Phäno­men schein­bar so ekla­tant zu? Gibt es einen Kon­sens da­für, dass lang­fris­tig fa­ta­les, aber un­mit­tel­bar sub­jek­tiv vor­teil­haf­tes Ver­hal­ten als „dumm“ an­zu­se­hen ist? Sind Ab­wägen und Nach­den­ken alt­mo­disch? Und was um Him­mels Wil­len ist so at­trak­tiv am Kon­zept des Leit­ham­mels, der uns das Den­ken ab­nimmt, oder des In­fluen­cers, der uns den ein­zig wah­ren Weg zeigt?

Falter-Rezension

„Querulanten sind unglückliche Menschen“

Was’ wiegt, des hat’s“, lautet eine bekannte Rede­wen­dung. Die in Linz ge­bo­re­ne und eben­dort als Chef­ärztin an der Landes­ner­ven­kli­nik tä­ti­ge Heidi Kas­tner scheint sie zu ihrer Lebens­ma­xime er­ho­ben zu ha­ben. Die in der Öf­fent­lich­keit recht prä­sente und medi­al nach­ge­fragte Medi­zi­nerin nimmt sich kein Blatt vor den Mund und hält sich nicht an poli­tisch kor­rekte Sprach­impe­ra­tive.

Auch nicht in ihrem soeben erschienenen Büchlein mit dem schlich­ten Ti­tel „Dumm­heit“. Kurz­wei­lig, un­aka­de­misch und un­eitel ver­sucht Kas­tner da­rin, ei­ni­ge kons­ti­tu­tive Merk­male der Dumm­heit zu be­stim­men. Sie unter­schei­det zwi­schen Intelli­genz­min­de­rung und Dumm­heit, lie­fert einen kur­zen his­to­ri­schen Ab­riss der Intel­li­genz­for­schung und kom­men­tiert das ak­tuel­le Ges­che­hen um Pan­de­mie und deren Be­gleit­de­bat­ten. Da­rü­ber hi­naus er­zählt sie teils ziem­lich komi­sche Fall­bei­spiele nach, die ihr in ihrer Tätig­keit als Ge­richts­gut­ach­terin unter­ge­kommen sind.

Dabei vermeidet es Kastner, in die Falle der Selbst­über­hebung je­ner zu tap­pen, die die Dumm­heit im­mer nur bei den an­de­ren kons­ta­tie­ren. Dum­me Hand­lungen, so heißt es an einer Stell­e, be­ruh­ten „auch auf un­zu­rei­chen­dem Wis­sen, aber nur dann, wenn man den ei­ge­nen Wis­sens­man­gel nicht als proble­ma­tisch erkennt“.

Falter: Naheliegende Einstiegsfrage: Wie dumm haben sich unsere Poli­ti­ker wäh­rend der Pan­demie ver­halten?

Heidi Kastner: (Lange Pause.) Ich weiß nicht, ob es Dummheit war. Für mich setzt Dumm­heit vor­aus, dass man für sich selbst einen Vor­teil sucht und Kol­la­teral­schä­den billi­gend in Kauf nimmt. Zu Be­ginn der Pan­de­mie war die In­for­ma­tions­grund­lage gleich null. Man hat auf Ber­ga­mo ge­schaut und sich ge­fürch­tet. Und wenn man zu die­sem Zeit­punkt sagt: „Es wird bald je­der je­man­den ken­nen, der an Coro­na ver­stor­ben ist“, dann ist das we­der mani­pu­la­tiv noch blöd, son­dern eine Prog­nose, die zwar falsch, in Hin­blick auf den da­ma­li­gen In­for­ma­tions­stand aber rea­lis­tisch war.

Eineinhalb Jahre und vier Lock­downs später sieht es aber anders aus.

Kastner: Der vierte Lockdown war ein kommuni­ka­ti­ver Super-GAU. Es ge­hört zum poli­ti­schen Ge­schäft, zu wis­sen, dass Krisen­kom­mu­ni­ka­tion ver­ständ­lich, ein­deu­tig und ein­stim­mig sein muss. Das war tat­säch­lich dumm.

Und die Entscheidung, ihn so lange hinauszuzögern …

Kastner: … war auch nicht klug. Man hätte bereits im Som­mer für den Fall einer dra­ma­ti­schen Ver­schlech­te­rung eine Impf­pflicht in den Raum stel­len, die recht­li­chen Ab­klä­run­gen vor­neh­men und den Ge­setzes­ent­wurf in Be­gut­ach­tung schicken kön­nen. Wir hät­ten dann die Demons­tra­tio­nen schon im Au­gust ge­habt, was nicht so dra­ma­tisch ge­we­sen wäre. Jetzt ren­nen relat­iv viele In­fi­zierte mas­ken­los und brül­lend durch die Ge­gend. Das ist ein idea­les An­steckungs­sze­nario.

Mit Überzeugungsarbeit richtet man bei solchen Leuten wohl nichts mehr aus?

Kastner: Wer nach einem Jahr der Debatten über Impf­ef­fi­zienz und über die be­kannten und neu ak­qui­rier­ten Fak­ten nichts davon wis­sen will, den wird man nicht mehr er­reichen.

Dafür kennen solche Leute „alternative Fakten“. Nur, wenn ich einen Mikro­chip in meine Ober­arm­mus­ku­la­tur in­ji­ziert be­komme – was genau rich­tet der an?

Kastner: Keine Ahnung. Der wird halt irgendwo „andocken“ und ver­heerende Din­ge an­rich­ten. Sol­che An­sich­ten kenne ich an­sons­ten nur von psy­cho­ti­schen Patien­ten. Die fah­ren sich dann mit dem Schrau­ben­zie­her ins Ohr oder boh­ren sich mit der Bohr­ma­schine den Zahn auf, um den Chip zu ent­fer­nen. Es ist ein­fach bloß ein Blöd­sinn, den man aber nicht mehr als sol­chen be­zeich­nen soll. Denn na­tür­lich muss man mit al­len­ re­den, alle ver­ste­hen und sich be­mü­hen, „die Ab­ge­häng­ten“ zu über­zeu­gen. Es gibt frei­lich Stu­dien, denen zu­folge ge­bil­dete Frauen mitt­le­ren Al­ters das Gros der Impf­ge­gner aus­machen. Von „abgehängt“­ kann da keine Rede sein.

Apropos. Wer sich die Auftritte von Dagmar Bela­ko­witsch an­schaut, dem wird klar, dass die ihre sie­ben Zwetsch­ken nicht bei­ei­nan­der hat. Wie kann so je­mand „Gesund­heits­spre­cherin“ werden?

Kastner: Na ja, da muss man sich fragen: von wel­cher Par­tei? Und das ist auch schon die Ant­wort. Der Herr Haim­buchner (Man­fred Haim­buchner, FPÖ-Landes­partei­ob­mann und Landes­haupt­mann­stell­ver­tre­ter Ober­öster­reichs so­wie ge­ne­se­ner Corona-Inten­siv­patient, Red.) ist nicht so gut bei­einan­der ge­wesen. Gar nicht gut. Also über­haupt nicht gut. Aber selbst der hat sei­ne Posi­tion nicht wirk­lich revi­diert, weil das in der FPÖ ohne voll­kom­menen Ge­sichts­ver­lust nicht geht. Ich habe in die­sem Zu­sammen­hang sehr oft an das den­ken müs­sen, was Hannah Arendt über die Stim­mung im Natio­nal­sozia­lis­mus ge­schrie­ben hat: Die Men­schen ha­ben al­les für mög­lich und nichts für wahr ge­hal­ten. In einer sol­che Situa­tion hat man dann ab­so­lut freie Wahl und kann sich auch ent­schei­den, den ab­stru­ses­ten Blöd­sinn zu glauben.

Als Erklärung für die Konjunktur von Verschwörungs­narra­tiven wird oft auf die große Ver­un­si­che­rung ver­wiesen.

Kastner: Es ist unüberschaubar geworden, was sich gegenseitig bedingt. Das sprich­wört­liche Fahr­radl, das in China um­fällt, kann tat­säch­lich Fol­gen für mich ha­ben. Warum, bit­te, krieg ich keine Dach­zie­geln mehr, wenn ein Schiff im Suez­kanal fest­steckt? Das ist auch für mich nicht mehr nach­voll­ziehbar.

Hat es nicht damit zu tun, ob man über ein gewisses Weltvertrauen ver­fügt oder nicht?

Kastner: Ich habe mit 23 promoviert und bin jetzt 59. Ich über­blicke also meh­rere Jahr­zehnte ärzt­li­cher Tätig­keit. Frü­her sind die Leute ge­kom­men, man hat sie durch­unter­sucht, eine Diag­nose er­stellt, und die ha­ben ge­sagt: „Aha, was kann man da ma­chen?“ Vor 25, 30 Jah­ren ging es los mit: „Ich hol mir eine zwei­te Mei­nung ein.“ – „Okay, machen Sie das.“ Und da­nach kam: „Ich muss mich erst er­kun­digen.“ Da wusste man schon, was folgt: „Ich habe im Inter­net nach­ge­sehen und weiß jetzt, was ich habe und brauche.“

Mit den exponentiell steigenden Möglichkeiten, an Informationen zu kommen, steigt auch das Miss­trauen?

Kastner: Ja. Das hat aber schon Anfang der 80er-Jahre begonnen, als die erste Aus­gabe von „Bit­tere Pil­len“ er­schie­nen ist. Da hieß es dann: „Ja, diesen Fir­men geht’s nur um den Ge­winn.“ Ja, no na. Die Pharma­indus­trie ist nicht die Cari­tas. Es kommt aber noch eines hin­zu: Man er­fährt vor al­lem da­von, wenn etwas schief­läuft. „Das Anti­bio­ti­kum hat Herrn Huber von der Pneumo­nie ge­heilt“ ist halt keine Schlag­zeile.

Die Schulmedizin ist generell in Misskredit geraten?

Kastner: Ja, nicht zuletzt durch die ganze Esoterik. Wozu die Ärzte­kam­mer aller­dings auch ein Scherf­lein bei­ge­tra­gen hat, in­dem sie zum Bei­spiel ein Fort­bil­dungs­curri­cu­lum Homöo­pathie an­ge­boten hat. Da hätte man auch gleich noch „Hand­auf­legen und Gesund­beten“ dazu­neh­men kön­nen. Der Haus­arzt, der alles über seine Patien­ten ge­wusst hat, ist auch ver­schwun­den. Aber klar, wenn der allei­ne da­sitzt und ihm die Leute die Ordi ein­re­nnen, kann er sich nicht für jeden eine Stun­de Zeit nehmen.

Der Arzt als Autorität hat abgedankt?

Kastner: Nicht nur der Arzt. Die gewiss auch frag­wür­di­ge Autori­täts­hörig­keit von seiner­zeit ist ins Ge­gen­teil um­ge­schla­gen: Den ober­gschei­ten Eli­ten glaubt man von vorn­herein ein­mal gar nichts. Un­längst habe ich mit einem Kol­legen ge­spro­chen, der eine Coro­na-Infor­mations­ver­an­stal­tung für Lehr­linge ge­macht hat. Er hat die aller­dings nach einer Viertel­stunde ab­ge­bro­chen, weil er an­satz­los mit „Oida, schleich di, red kan Schas!“ empfan­gen wurde. Der Mann ist 35.

In Ihrem Buch zitieren Sie den deutschen Psychi­ater Eduard Hitzig, der sich im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert mit dem „Queru­lan­ten­wahn­sinn“ be­fasst hat. Gibt es die­ses Krank­heits­bild noch?

Kastner: Ja. Und er hat das damals schon kor­rekt be­schrie­ben: Was auch im­mer die Re­gie­rung tun wird, diese Wahn­sin­ni­gen wird sie nicht über­zeu­gen kön­nen. Die Wis­sen­schaft ist ein­fach nicht im­stande, die Men­schen von ihren „ge­fühl­ten Wahr­hei­ten“ ab­zu­bringen.

Was macht das Wesen eines Querulanten aus?

Kastner: Das ist im Kern jemand, der aus seiner gefühl­ten Zu-kurz-Gekom­men­heit die Über­zeu­gung ent­wickelt, dass die Welt ein grauen­haf­ter Ort ist, in der er stets auf der Hut sein muss, weil er sonst im­mer und über­all über­vor­teilt und über den Tisch ge­zogen wird. Alles, was ihm be­geg­net, nimmt er durch die­sen Fil­ter wahr. Meine Groß­tante Wilhel­mine war die Gat­tin eines Ritt­meis­ters und hat in Hiet­zing ge­wohnt. Das Beste war für sie ge­rade gut ge­nug. Also haben ihre bei­den Schwes­tern in der Nach­kriegs­zeit, in der man ohne­dies nichts ge­kriegt hat, ihr unter un­glaub­li­chen Mühen ein Kasch­mir-Twinset be­sorgt. Als sie das Packerl auf­macht, bricht sie in Trä­nen aus: „Ihr wollt mir da­mit nur sagen, dass ich imm­er schlecht an­ge­zogen bin!“

Das ist ja wie ein Musterbeispiel aus Paul Watzlawicks „Anleitung zum Un­glück­lichsein“!

Kastner: Querulanten sind auch total unglückliche Menschen, weil alle Welt gegen sie ist. Und wenn sie da­gegen an­kämp­fen, ent­wickeln sie sich zu einem Michael Kohlhaas …

… den Kleist als einen der „rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen“ beschreibt.

Kastner: Ja, natürlich gibt es Anlässe, wo wirklich etwas falsch ge­laufen ist. Das pas­siert al­len. Nur wis­sen wir, weise wie wir sind: „Shit happens“ – und gehen wei­ter. Wohin­gegen sich der Queru­lant hi­nein­stei­gert und völ­lig verrennt.

Und ignoriert, dass er vielleicht nicht ganz so gerecht und edel ist, wie er gerne wäre.

Kastner: Ja, weil das ein Mindestmaß an Selbstreflexion und -kritik vor­aus­setzt. Das ist aber grad nicht sehr an­ge­sagt. Lie­ber geht man in Thera­pie, vor­zugs­weise zu je­man­dem, der einem die eige­ne Mei­nung be­stä­tigt. Und wenn man nicht gleich „ver­stan­den“ wird, kann man den Thera­peuten ja wechs­eln, bis man end­lich einen fin­det, der „passt“.

Im Zusammenhang mit der Pandemie ist viel vom Versagen der Politik die Rede. Das Wort „Eigen­ver­ant­wor­tung“ kommt eher selten vor.

Kastner: So wie im Schulkontext seit längster Zeit auch immer nur die Lehrer oder Schul­psycho­lo­gen schuld sind, wenn ir­gend­et­was nicht hin­haut beim Kind. Aber nie­mand nimmt die El­tern als Er­zie­hungs­be­rech­tigte in die Pflicht. Jetzt ist eben die Poli­tik da­für ver­ant­wort­lich, wenn sich die Men­schen nicht in­for­mieren oder sich nicht mehr als Teil eines größe­ren Gan­zen ver­ste­hen, für das sie auch mit­ver­ant­wort­lich sind.

Sie spielen auf die Situation in den Spitälern und den Inten­siv­sta­tionen an?

Kastner: Ja. Es ist kein Einzelfall, dass jemand eine dringend nötige Opera­tion nicht be­kommt und auch nie mehr be­kom­men wird, weil er oder sie in­zwi­schen ge­stor­ben ist. Die Leu­te auf den Warte­lis­ten ster­ben weg. Und dann meint eine Pas­san­tin im „ZiB“-Inter­view: „Ja, die Leute ster­ben halt. Das kommt vor.“ Ob sie das auch sa­gen würde, wenn sie selbst drin­gend ein Inten­siv­bett bräuchte? Das Recht auf Le­ben ist das funda­men­talste Men­schen­recht. Wenn ich meine Frei­heit, nicht ge­impft zu wer­den, be­an­spruche, spreche ich ande­ren in­di­rekt das Recht auf zeit­nahe Be­hand­lung und damit das auf kör­per­liche Un­ver­sehrt­heit oder gar das Le­ben ab. Das ist bru­tal, ego­is­tisch und wirk­lich nicht klug.

Apropos brutal: Was in letzter Zeit leider für Aufmerksamkeit gesorgt hat, sind die hier­zu­lande sehr ho­hen Ra­ten von Mor­den an Frauen. Was sind Ihrer Mei­nung nach die Ur­sachen dafür?

Kastner: Wir haben hierzulande mehr Morde an Frauen als an Män­nern bei einer ins­ge­samt sehr ge­rin­gen Mord­rate. Män­ner ster­ben eher bei es­ka­lie­ren­den Raufe­reien oder im Kon­text von Banden- be­ziehungs­weise or­gani­sier­ter Krimi­na­li­tät, und da­von gibt es in Öster­reich nicht sehr viel. Wir ha­ben al­ler­dings den glei­chen An­teil an ge­tö­teten Frauen aus den über­all üb­li­chen Grün­den. Wo­bei man auch sagen muss, dass die im­por­tierte Ge­walt recht hoch ist: Der Aus­län­der­an­teil bei Femi­ziden liegt bei 30 Pro­zent. Die sind bei Mord­delik­ten also deut­lich über­re­prä­sen­tiert. Aber natür­lich bleibt im­mer noch ein ge­rüt­telt Maß an Frauen­morden, die von „ge­stan­denen Öster­rei­chern“ be­gan­gen werden.

Wobei man zu dem nunmehr sehr häufig verwendeten Begriff „Femizid“ viel­leicht sa­gen sollte, dass das hier­zu­lande keine legi­time Praxis und etwas ande­res ist als eine Steini­gung in der Scharia?

Kastner: Es ist etwas anderes, aber das Endergebnis ist das Gleiche: Die Frauen sind tot. Und die Me­dien be­rich­ten über sol­che Fälle dann als „Fami­lien­tra­gö­dien“ und spre­chen da­von, dass der Mann „die Tren­nung nicht ver­kraf­tet“ und „aus Ver­zweif­lung“ seine Frau um­ge­bracht hat … Hallo?! Ich kann das Gere­de von der Ver­letz­lich­keit der Män­er nicht mehr hören. Er hat sich selbst er­mäch­tigt, ihr das Le­ben zu neh­men. Das ist ein bru­ta­ler, meis­tens ein ge­plan­ter Mord. Und den soll man dann auch als sol­chen be­zeich­nen und nicht als „Fami­lien­tra­gö­die“ oder „Be­zie­hungs­drama“.

Ich frage mich allerdings, an wen es sich richtet und was es bringt, sich einen „Stop Femicide“-Button an die Jacke zu pinnen?

Kastner: Gar nichts. Das ist ja nicht wie bei einem Karussell, wo man auf einen Knopf drücken kann und es hört auf, sich zu dre­hen. Man wird auch nie alle Frauen­morde ver­hin­dern kön­nen, weil ein Teil der Tä­ter völ­lig un­auf­fäl­lig ist. Der Kitz­büh­ler Fünf­fach­mör­der hat seine Freun­din nie ge­schlagen, er hat sie nicht kon­trol­liert, war nicht einmal eifer­süch­tig. Er war bloß deut­lich älter als sie und halt fad. Als sie et­was unter­neh­men wollte, ist er mit ihr in den Alpen­zoo ge­gangen. Das ist viel­leicht pat­schert, aber nicht böse. Sol­che Typen, die auf eine Tren­nung mit einer völ­lig radi­ka­len Ver­wer­fung rea­gieren, wird man nie raus­fil­tern können.

Es gibt aber genug andere, die davor schon auffällig geworden sind?

Kastner: Ja, klar. Das ist dasselbe wie bei der Brunnenmarkt-Geschichte (2017 erschlug ein psy­chisch kran­ker Keni­aner eine Frau mit einer Eisen­stange, Red.): Da hat es zig Hin­weise ge­geben, die von unter­schied­li­chen Poli­zei­dienst­stellen be­ar­bei­tet wur­den, aber keiner hat die ge­sammelt und sich an­ge­sehen. Diese unter­las­sene Ver­net­zung von Infor­ma­tio­nen und aus­blei­bende Aus­wer­tung ist zu­weilen schlicht töd­lich. Beim BKA gibt es eine total gute Grup­pe, die nennt sich VHR, Victims at Highest Risk, die ganz sorg­fäl­tige und fun­dierte Risi­ko­ein­schät­zungen durch­führt. Die kön­nen aller­dings auch nur die Fäl­le prü­fen, die man an sie heranträgt.

Das Männerbild ist hierzulande jedenfalls noch ein recht archaisches?

Kastner: Mir scheint, dass es in letzter Zeit sogar Aufwind be­kom­men hat. Eine Par­tei wie die FPÖ ist zwar ge­gen Mi­gran­ten, müsste aber eigent­lich froh sein über die Zu­wan­de­rung, denn was das Frauen­bild an­be­langt, sind sie sich eigent­lich einig: Die Frau soll zu­hause blei­ben und den Mund halten.

Und die tradierten Rollenbilder werden in der Familie weiter­gegeben?

Kastner: So ist es. Ich weiß persönlich von einem Fall, der sich vor drei, vier Jahren zu­ge­tra­gen und unter „ge­stan­denen Öster­reichern“ ab­ge­spielt hat. Der Sohn einer Familie, von der man wusste, dass der Mann die Frau drischt, kam in die Volks­schule, und da steht eine Frau Leh­rerin. Was macht der Bub? Er geht zu ihr und sagt: „Du bist a Weib und schaffst mir gar nix an.“ Das, was er halt zu­hause hört und vor­ge­lebt bekommt.

Was ist dann passiert?

Kastner: Man würde annehmen, dass die Schule die Erziehungs­be­rech­tig­ten her­be­stellt und ihnen er­klärt, dass das so nicht geht. Weit gefehlt. Man hat den Buben in eine Klas­se mit einem Leh­rer ver­setzt. Und so­lange sol­che Kon­flikte so ge­re­gelt wer­den, braucht man sich nicht groß zu wun­dern. Das mag in Wien-Neubau etwas an­ders sein, aber in wei­ten Tei­len des länd­li­chen Raums ist Frauen­ver­ach­tung im­mer noch all­täg­lich ge­lebte Realität.

Sie haben jahrzehntelange Erfahrung als Gerichtsgutachterin. Wie haben sich die Moti­va­tions­lagen und die Art der Ver­bre­chen im Laufe der Zeit ve­rändert?

Kastner: Wie überall gibt es auch in der Kriminalität Mode­er­schei­nungen be­zie­hungs­weise ist das Straf­recht auch im­mer Aus­druck der ak­tuel­len ge­sell­schafts­poli­ti­schen Ver­fasst­heit. Der Tat­be­stand der be­harr­lichen Ver­fol­gung, des Stal­king, ist noch rela­tiv jung. Das hat man frü­her halt ein­fach aus­hal­ten müs­sen. Es hat nicht einmal einen Namen gehabt.

Was meinten Sie mit „Modeerscheinungen“?

Kastner: Na, zum Beispiel, dass heute kaum jemand ent­führt wird. Man kann noch so wich­tig und ver­mö­gend sein, aber man wird nicht mehr ent­führt. Das ist ja fast schon krän­kend. Außer­dem schreibt heute kein Men­sch mehr ano­nyme Drohbriefe.

Mediziner und Wissenschaftler, die sich öffentlich für die Impfung aussprechen, müssen aber damit rechnen, Morddrohungen zu erhalten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Kastner: Wenn, dann kriegt man Mails und keine Briefe. Es ist sicher schon zehn Jahre her, dass ich ein ziem­lich graus­li­ches Mail er­hal­ten habe, in dem man mir an­ge­kün­digt hat, wie man mich gerne um­brin­gen würde. Die Spur dazu hat sich bei einem Ser­ver in der Ukraine ver­laufen. Ak­tuell er­halte ich keine Dro­hun­gen, son­dern nur Be­schimpfungen.

Auch nicht schön.

Kastner: Nein, aber if you can’t stand the heat, get out of the kitchen.

Klaus Nüchtern in Falter 49/2021 vom 10.12.2021 (S. 26)

Heidi Kastner im Standard-Interview mit Anna Giulia Fink ->

Posted by Wilfried Allé Friday, December 31, 2021 3:24:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Bin ich das? 

Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft

von Valentin Groebner

ISBN: 9783103970999
Ausgabe: 1. Auflage
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 192 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 24.11.2021
Verlag: S. FISCHER
Preis: € 22,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was steckt eigentlich hinter dem neuen Zwang, sich zu zeigen? Mit viel Humor, Selbstironie und klugen Beobachtungen erzählt Valentin Groebner – »eine(r) der coolsten Geschichtswissenschaftler momentan überhaupt« (litera.taz) – seine kurze Geschichte der Selbstauskunft. Denn ob im Bewerbungsgespräch oder per Instagram-Account, bei der Teambildung oder im Dating-Profil: Ohne Selbstauskunft geht heute nichts. Sie ist sowohl Lockstoff als auch Pflicht, steht für Reklame in eigener Sache und das Versprechen auf Intensität und Erlösung, in den Tretmühlen der digitalen Kanäle ebenso wie in politischen Debatten um kollektive Zugehörigkeit.Doch wie viel davon ist eigentlich Zwang, und wie viel Lust? Was haben wir, was haben andere vom inflationären Ich-Sagen und Wir-Sagen? Diesen Fragen geht Valentin Groebner auf der Suche nach dem Alltäglichen nach. Er zeigt, was historische Beschwörungen der Heimat mit offenherzigen Tattoos gemeinsam haben, und was den Umgang mit alten Familienfotos und demonstrative Rituale des Paar-Glücks (Stichwort Liebesschlösser an Brückengeländern) verbindet. Doch ist öffentliche Intimität wirklich die Währung für Erfolg – oder eine Falle? 
 

Falter-Rezension

Muss ich alles über mich preisgeben?

Geheimnisse sind out, Offenheit ist Pflicht -als Bürger, Liebende und natürlich Teilnehmende an der schönen neuen Medienwelt. Wie kam das und tut uns das überhaupt gut?, fragt Valentin Groebner in "Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft". Groebner lehrt als Professor für Allgemeine Schweizer Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern und legte populäre Bücher über Geschichtstourismus, die Geschichte des Gesichts oder über Wissenschaftssprache vor.

"Bin ich das?" widmet sich in acht kurzweiligen Kapiteln der Crux, die darin liegt, sich individuell zu geben und doch nicht unangenehm aufzufallen. Ich zu sagen, meint Groebner, sei weder unmittelbar noch persönlich, sondern bestimmt von "rhetorischen Kunststücken, Zwangssystemen und Projekten radikaler Selbstverbesserung". Die Ich-Auskünfte kämen zwar locker und spontan daher, würden aber genauen Spielregeln folgen. Da ihnen niemand entkommen könne, ohne sich verdächtig zu machen, fielen sie in die Kategorie "freiwillige Unfreiwilligkeit".

Zu den stärksten Passagen des Buches gehören die Reflexionen über seine eigene Biografie. Aufgewachsen in einem Döblinger Gemeindebau, fühlt Groebner sich, obwohl seine Eltern Akademiker sind, in den Villen der höheren Töchter und Söhne kaum geduldet. Auch im Schweizer Bürgertum lernt er diesen Distinktionswillen kennen und begreift: Das Ich definiert sich nicht selbst - es wird von den anderen etikettiert.

Die letzten Kapitel dieses launig geschriebenen und gut zu lesenden Buches handeln von Fotos als Erinnerungsmaschinen und von Tattoos als den verzweifelten Versuchen, sich selbst mit Zeichen der Vergangenheit zu versehen.

Am Schluss bezieht Groebner auch die aktuelle Covid-19-Pandemie mit ein. An der moralischen Erregungs- und Befürchtungsgemeinschaft, die Angst in Rechthabenwollen umwandelt, möchte er lieber nicht teilnehmen. Stattdessen empfiehlt er, Unklarheiten ertragen zu lernen. Auch darüber, wer man selbst ist.

Kirstin Breitenfellner in Falter 51-52/2021 vom 24.12.2021 (S. 49)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, December 29, 2021 5:34:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Salonfähig 

Roman

von Elias Hirschl

ISBN: 9783552072480
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 23.08.2021
Verlag: Zsolnay, Paul
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was, wenn man sich ein perfektes Leben wie eine zweite Haut über­ziehen könnte? Will­kommen bei Austrian Psycho
Stundenlang übt er vor dem Spie­gel seinen Gang, sein Lächeln, seine Art zu sprechen. Julius Varga, der Partei­chef, ist das ganz große Idol des namen­losen Er­zäh­lers. „Ich gebe mich für dich auf, Julius. Ich liebe dich.“ In seiner Ab­wesen­heit gießt er seine Zimmer­pflan­zen, als ob dies ein Staats­akt wäre. Auf einer unteren Ebene dient der Er­zähler der Par­tei und eifert seinem Vor­bild nach. Er ist be­ses­sen von Mar­ken und Äußer­lich­keiten und der Äs­the­tik von Ter­ror­an­schlä­gen. Elias Hirschls neuer Ro­man ist ein großer Wurf und ein Ver­gnü­gen. Das wahn­wit­zige Por­trät der Gene­ra­tion Slim Fit: jung, schön, in­tel­li­gent, reich, ober­fläch­lich und brand­ge­fähr­lich.

3 Fragen von Bettina Wörgötter an Elias Hirschl

Herr Hirschl, was fasziniert Sie an der Generation Slim Fit, die Sie in Ihrem Roman "Salonfähig" porträtieren?

Die Generation der Slim-Fit-Politiker drückt für mich eine Art Zu­spit­zung und Per­fek­tio­nie­rung der po­li­ti­schen Rhe­to­rik aus. Ich stell mir das gern wie beim Ski­sprin­gen vor, wo zu Be­ginn noch ver­schie­den­ste Sprung­tech­ni­ken aus­pro­biert wor­den sind, da wurde mit den Armen ge­ru­dert, an­ge­legt, ab­ge­spreizt, bis sich schließlich eine einzige Sprungtechnik durchgesetzt hat, die dann nur noch verfeinert und perfektioniert wurde. Wie beim Skispringen werden die politischen Pro­ta­go­nis­ten im­mer jün­ger, ihre Kampf­an­züge werden im­mer aero­dy­nami­scher und ihre Aus­drucks­weise ver­engt sich auf einen sehr spezi­fi­schen, schma­len Rhe­to­rik­stil der völ­lig ent­leerten Phrasen­dre­sche­rei, durch den jedes echte Ge­spräch schon im An­satz ver­hin­dert wird. Und die Tat­sache, dass letzt­end­lich keine poli­tisch inter­es­sier­ten Men­schen an der Spitze lan­den, son­dern nur noch die­je­ni­gen, die die­sen spezi­fi­schen Stil der leeren Rede am besten be­herr­schen, die keine ein­zige inter­essante Idee her­vor­brin­gen, aber die Kunst der Be­we­gung per­fek­tion­iert ha­ben, fas­zi­niert mich und macht mir auch ziem­liche Angst. Da fehlen im Grunde nur noch die Spon­soren­logos auf der Kra­watte.

Was fasziniert Sie an Maskulinität?

Im Buch wird toxische Männlichkeit auf ver­schie­dene Ar­ten ge­schil­dert. Vor allem die hie­rar­chi­schen Struk­turen in der Jungen Mitte und der Mut­ter­par­tei Mitte Öster­reichs sind stark pa­tri­ar­chal ge­prägt. Mich fas­zi­niert hier vor allem die­ses in­trin­sische Leis­tungs­den­ken, das je­den As­pekt der neo­libe­ra­len Po­li­tik durch­zieht. Der Mensch ist nur dann etwas wert, wenn er etwas aus ei­ge­nem An­trieb schaf­fen kann. Jeder Mensch de­fi­niert sich nur durch die ihm zu­ge­wie­sene Rolle, je­der be­misst seinen ei­ge­nen Selbst­wert an dem, was er leis­tet. Da­durch ent­frem­den sich alle Fi­gu­ren von­ei­nan­der, weil es nicht mehr um den Men­schen geht, son­dern nur noch da­rum, was man von einem Men­schen be­kom­men kann, wel­che Po­si­tio­nen, Kon­takte oder fi­nan­ziel­len Mit­tel man von je­man­dem be­kom­men kann. Damit ein­her geht auch die fal­sche Prä­mis­se, alle Men­schen hät­ten die­sel­ben Start­be­din­gun­gen und seien für ihr Schick­sal selbst ver­ant­wort­lich, wo­durch sich als Macht­haber an­ge­nehm jede Ver­ant­wor­tung von sich wei­sen lässt. Mich fas­zi­niert vor allem auch, wie die­ser Leis­tungs­wahn, der ja dem an­geb­lichen christ­lich-so­zi­alen Leit­ge­dan­ken der Par­tei völ­lig zu­wider­läuft, schließ­lich in einer Art para­reli­gi­ösen, ri­tuel­len Ver­ehrung die­ses omi­nö­sen Kon­strukts der „Leis­tung“ mündet, als wäre sie eine Art Gott­heit, zu deren Zweck alles ge­schieht.

Was fasziniert Sie an Satire?

Satire widersetzt sich der For­de­rung, eine Auf­gabe er­fül­len zu müs­sen, denn Kunst und Sa­ti­re sind ja, wie wir dank Coro­na wis­sen, nicht system­re­le­vant. Aber das Gute da­ran, nicht sys­tem­re­le­vant zu sein, ist, dass man auch nicht an spezi­fi­sche Er­war­tungen ge­bun­den ist. Sa­tire kann daher alles Mög­liche tun. Und was Sa­tire her­vor­ragend tun kann, ist, ver­steckte Struk­turen, vor allem Macht­struk­turen sicht­bar zu machen, und diese auf eine Art zu ent­lar­ven, dass sie et­was von ihrem Schrecken ein­büßen, dass man zu­min­dest da­rüber lachen kann. Salonfähig ist auch der Versuch zu zeigen, was vom politischen Menschen übrig bleibt, wenn man den Menschen heraus­schält und nichts als die rhe­to­ri­sche Struk­tur zu­rück­bleibt, und was vom Leis­tungs­den­ken zu­rück­bleibt, wenn man diese Idee auf die Spitze treibt und den Wert ei­nes Men­schen tat­säch­lich nur noch an sei­ner Pro­duk­ti­vi­tät be­misst. In bei­den Fäl­len bleibt letzten Endes nichts zu­rück als eine rei­ne Pro­jek­tions­fläche, los­ge­löst von je­der Emo­tion und je­der Mensch­lich­keit, un­fähig zu Mit­ge­fühl, Inter­es­se oder ech­ter An­teil­nahme.

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 8:26:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Macht in weltweiten Lieferketten 

Eine Flugschrift

von Christoph Scherrer

ISBN: 9783964881243
Genre: Wirtschaft/Internationale Wirtschaft
Umfang: 96 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 17.12.2021
Verlag: VSA
Preis: € 10,30

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Lieferketten ist der wohl promi­nen­teste Be­griff, um die Struk­tur des Glo­bal Sour­cing, der welt­wei­ten Be­schaf­fung von Waren, zu be­schrei­ben. Er wird auch von der Bun­des­re­gie­rung für das An­fang Juni ver­ab­schie­dete Lie­fer­ket­ten­ge­setz ge­nutzt, das die Ein­hal­tung von Men­schen­rech­ten bes­ser re­geln soll. Der Au­tor kri­ti­siert, dass der Be­griff der Kom­plexi­tät von Macht­un­gleich­hei­ten und struk­tu­rel­ler Aus­beu­tung nicht ge­recht wird. Das spie­geln auch die un­ter­­schied­li­chen Theo­rie­kon­zepte wider, die, so Chris­toph Scher­rer, meis­tens spezi­fi­sche Macht­­as­pek­te fo­kus­sieren, ohne die Wechsel­be­zie­hungen zu be­rück­sich­tigen.
Der Autor ergänzt daher all­ge­mein­gül­tige Macht­ana­ly­sen durch Über­le­gun­gen für spezi­fi­sche Kon­texte. Am Bei­spiel klein­bäuer­licher Be­triebe zeigt er, wer am we­nigs­ten von der Ar­beits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer daran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.
Er liefert damit zugleich eine theo­re­ti­sche Grund­lage, mit der Leser:in­nen die Macht­be­zie­hungen welt­wei­ter Lie­fer­ket­ten bes­ser ver­ste­hen und auch die Wirk­mäch­tig­keit des im Juni 2021 ver­ab­schie­deten Lieferket­ten­ge­setzes bes­ser ein­ord­nen können.
Die Flugschrift soll dazu bei­tragen, die täg­lichen und sys­te­mi­schen Men­schen­rechts­ver­let­zungen bei ­denen, die in glo­ba­len Pro­duk­tions­netz­wer­ken ­ar­bei­ten müssen, zu über­winden.

Zusammenfassung

Die Fragilität globaler Liefer­ketten ist wäh­rend der Pan­de­mie und durch die Blockade des Suez­ka­nals be­son­ders deut­lich ge­worden. Zu­gleich sind sie »Aus­beutungs­ket­ten«, in denen Macht­be­zie­hungen ab­ge­bil­det sind. Christoph Scherrer zeigt, wie Macht in Pro­duk­tions­netz­wer­ken durch­ge­setzt wird, wer am we­nigs­ten von der Arbeits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer da­ran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.

Tipps für Verbraucherinnen und Verbraucher

Einkaufskorb mit Fairtrade-Produkten

Jede und jeder kann dazu bei­tragen, dass unsere Welt ge­rech­ter wird. Fair und nach­hal­tig zu leben be­deu­tet, sich die Fol­gen seiner Lebens- und Kon­sum­ge­wohn­heiten be­wusst zu machen und ver­ant­wor­tungs­voll zu han­deln.

Nachhaltigkeit ist dabei nicht nur auf öko­lo­gische As­pekte be­schränkt – sie hat eben­so wich­tige wirt­schaft­liche, sozi­ale und poli­ti­sche Dimen­si­onen. Hel­fen Sie mit, dem Ideal einer ge­rech­ten und nach­hal­ti­gen Welt ein Stück näher­zu­kom­men! Zum Bei­spiel indem Sie fair ein­kau­fen, fair reisen oder ihr Geld fair an­legen.

Nähere Informationen dazu finden Sie hier  ->

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 4:33:00 PM Categories: Wirtschaft Wirtschaft/Internationale
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Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom 

von A. E. Hotchner

ISBN: 9783836960731
Genre: Kinder- und Jugendbücher/Kinderbücher bis 11 Jahre
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 28.06.2021
Verlag: Gerstenberg Verlag
Empf. Lesealter: ab 10 Jahre
Übersetzung: Anja Malich
Illustrationen: Tim Köhler
Preis: € 16,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

St. Louis inmitten der Weltwirtschaftskrise. Der zwölfjährige Aaron Broom muss mit ansehen, wie nach einem Überfall auf ein Juweliergeschäft sein Vater in Handschellen abgeführt wird. Dabei wollte sein Pop, ein Uhrenvertreter, dort doch bloß seine neueste Kollektion vorführen! Aus seinen Lieblingsbüchern weiß Aaron genau, dass er den wahren Täter nun auf eigene Faust „detektivieren“ muss, wenn er will, dass sein Pop wieder freikommt. Von unverhoffter Seite bekommt er Hilfe: von Ex-Boxer und Hauswart Vernon, von Augie, dem Zeitungsjungen an der Ecke, von einem freundlich gesinnten Anwalt für Seerecht – aber er hat auch gefährliche Widersacher …

FALTER-Rezension

Vor 100 Jahren war die Welt nicht in Ordnung

Ein Kinderkrimi über die Weltwirtschaftskrise in den USA

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war gestern. Der amerikanische Autor und Journalist A.E. Hotchner starb im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren. Kurz zuvor hatte er mit 100 noch eine Detektivgeschichte verfasst, die in der Zeit der Großen Depression angesiedelt ist. Hotchner war während der Weltwirtschaftskrise selbst Kind und hat seine eigene Story bereits früher niedergeschrieben, Steven Soderbergh verfilmte sie als „Der König der Murmelspieler“. Auch „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ lebt von der unglaublich lebendigen Erinnerung des Autors an diese so schwierige wie turbulente Zeit. Atmosphäre und Ton stimmen einfach, Straßenslang inklusive.

Held der Geschichte ist der nicht ganz 13-jährige Aaron Broom. Nach einem Raub in einem Juwelierladen wird durch ein Missverständnis sein Vater inhaftiert, wo der doch nur harmloser Vertreter für Uhren ist. Aaron ergreift gleich die Initiative. Zum einen hat er genug einschlägige Bücher verschlungen, um zu wissen, wie er „detektivieren“ muss, damit der wahre Schuldige gefasst wird. Unterstützung erhält er außerdem von einem Zeitungsjungen, einem Hausmeister und einem ehemaligen Boxer. Die kann er auch gebrauchen, bekommt er es doch mit üblen Zeitgenossen zu tun. Eine packende und zugleich berührende Geschichte, die nebenbei historisches Wissen vermittelt.

Sebastian Fasthuber in Falter 42/2021 vom 22.10.2021 (S. 29)

Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2021

Der Junge, der detektiviert
Ein Krimi aus der großen Depression in Amerika
Dass manch Hundertjähriger ungewöhnliche Eskapaden unternimmt, weiß man seit Jonas Jonassons Romanen. Dass jemand mit 99 Jahren eine Detektivgeschichte wie „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ schreibt, bei deren Lektüre Emil Tischbein bleich geworden wäre, das ist allerdings besonders.
Der Krimi spielt Anfang der Dreißigerjahre in St. Louis, mitten in der Zeit der Großen Depression. Der Autor dieser Geschichte, der offensichtlich mit großer Empathie und Kenntnis in die Rolle seines jugendlichen Helden Aaron („fast dreizehn“) schlüpft, ist der US-amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor A.E. Hotchner, der im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren starb. Seine Geschichte beruht auf dem Roman seiner Kindheit, „King of the Hill“ (Der König der Murmelspieler), den Steven Soderbergh 1993 verfilmte. Hotchner wurde unter anderem durch Biografien von Ernest Hemingway und Paul Newman bekannt.
Aaron ist ein aufgewecktes, wissbegieriges Bürschchen, ein guter Schüler und Sportler, und er blickt stets optimistisch in die Zukunft. Und das, obwohl seine Mutter in einem Sanatorium liegt und sein Vater, ein polnisch-jüdischer Emigrant, in der Krise sein Geschäft verlor und sich nun erfolglos als Handelsvertreter abmüht. Aaron ist mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen, um zu überleben. Alles wird noch schlimmer, als der Junge Zeuge eines Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft wird und sein Vater in Untersuchungshaft gerät. Der Sohn versucht sich über Wasser zu halten und gleichzeitig die Hintergründe des Verbrechens aufzuklären. Er, der Icherzähler, „detektiviert“ – wie er es in der stilsicheren Übersetzung von Anja Malich nennt. Das erinnert ans Berliner Milieu von Emil Tischbein und seinen Freunden um Gustav mit der Hupe. In Hotchners Roman unterstützt ein flinker Zeitungsjunge den Teilzeitdetektiv. Um die beiden herum gruppiert sich eine kleine Gruppe von Helfern. Hotchners wichtigste, in die Handlung verwobene moralische Botschaft: Wenn sich eine solch katastrophale Situation überhaupt überwinden lässt, dann nur mit der Solidarität anderer Menschen und einem Grundgefühl von Geborgenheit und Vertrauen. Allerdings ist das vom Autor gewählte Großstadtmilieu brutaler als das in Kästners Kinderkrimi. Da fallen Schüsse, da kippen Bösewichter um, bevor sich die Verhältnisse klären.
Hotchners Geschichte ist im sympathischen Sinn altmodisch erzählt, mit viel Liebe zu kleinen Details und nicht nur im Schwung von einer Aktion zur nächsten. Gerade dadurch gewinnt das Milieu fassbare Konturen, in dem sich redliche arme Menschen, Glücksritter und Kriminelle begegnen. Die realistischen Schwarzweiß-Illustrationen von Tim Köhler unterstreichen diesen Eindruck noch. (ab 12 Jahre)
SIGGI SEUSS
A. E. Hotchner: Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom. Mit Illustrationen von Tim Köhler. Aus dem Englischen von Anja Malich. Gerstenberg 2021.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

Posted by Wilfried Allé Friday, December 17, 2021 8:42:00 PM Categories: Kinder- und Jugendbücher
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aprés lift 

49 Skitouren auf EX-Bahn-Berge der Schweiz

von Daniel Anker

ISBN: 9783039130290
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Natur, Gesellschaft
Umfang: 220 Seiten
Format: Buch
Erscheinungsdatum: 01.01.2022
Verlag: AS Verlag
Preis: € 40,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Neu-alte Skitourenberge bekommt das Land. Wenn der (Kunst-)Schnee ausbleibt oder das Geld für die Renovation, dann stehen Liftanlagen plötzlich still. Und Hügel und Berge in der Schweiz werden wieder Ziele für Skifahrer und Snowboarderinnen, die aus eigener Kraft in die Höhe kommen. Auf 55 Gipfel in den Schweizer Bergen führten einst – manchmal bis ganz zuoberst – Ski- und Sessellifte, aber auch Gondel- und Seilbahnen. Die Vergangenheitsform ist richtig: Die Anlagen waren mehrheitlich nur in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Betrieb. Nun laufen sie nimmer, und die Schneesportler, die mit Fellen an den Brettern hochsteigen, haben die weissen Hänge wieder für sich allein. Die meisten Lifte wurden mangels Nachfrage und Schneefall sowie wegen anderen Gründen stillgelegt. Und dann rückgebaut, teilweise wenigstens. Manchmal ist alles noch da, die Bügel und die Kabinen, die Masten und die Stationen, nur die Leute in Pistenskischuhen fehlen. Manchmal sieht man aber kaum noch was im Gelände. Vielleicht noch ein kleines Holzhäuschen, hier der Betonsockel eines Masten, drüben eine Ausbesserung im Gelände, da ein Schild.
Genau: Die Lifte sind weg (oder fahren wenigstens nicht mehr), die Erinnerungen blieben. Und neue Möglichkeiten im Tourenskilauf kommen hinzu bzw. werden wieder wahr. Oft waren diese besonderen Gipfel, bevor sie mit Liften erschlossen wurden, ja schon Ziele von Tourengängern. Denn eines ist sicher: Anhöhen, auf die Aufstiegshilfen gebaut wurden, eignen sich grundsätzlich gut zum Abfahren.
Bereits werden nicht mehr laufende, verlassene und verlorene Skigebiete wissenschaftlich untersucht. Die Forscher haben auch schon einen Begriff kreiert: Lost Ski Area Projects – LSAP. Mehr noch: Das Buch dazu ist ebenfalls schon auf der Piste bzw. im Programm des AS Verlages: „Letzte Bergfahrt. Aufgegebene Skigebiete und ihre touristische Neuausrichtung“ von Matthias Heise und Christoph Schuck. Der Skitourenführer zu 48 Ex-Bahn-Bergen ist sozusagen der Praxisteil zur letzten Bergfahrt. Sicher wie grüne Weihnachten im Mittelland wird die Zahl der LSAP zunehmen. Die einen freut‘s, die andern reut‘s. Und umgekehrt.
Anders gesagt: Aus dem Après Ski ist Après Lift geworden.

Posted by Wilfried Allé Thursday, December 16, 2021 11:07:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Natur Technik/Natur
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