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Außer Kontrolle 

Deutschland 1923

von Peter Longerich

ISBN: 9783222151026
Verlag: Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.11.2022
Preis: € 33,00

Kurzbeschreibung des Verlags:

Hyperinflation, Staatskrise, Hitler-Putsch: Ohn­mäch­tig wankt die junge deut­sche Re­pu­blik im Jahr 1923 Rich­tung Ab­grund. Der Ein­marsch fran­zö­si­scher Trup­pen ins Ruhr­ge­biet treibt Ex­tre­mis­ten von Rechts und Links auf die Bar­ri­ka­den, das Land steht vor Bür­ger­krieg und Dik­ta­tur. Es ist eine „Toll­haus­zeit“ (Stefan Zweig), in der sich Kri­sen­ge­winn­ler de­ka­den­ten Ver­gnü­gun­gen hin­ge­ben, wäh­rend die Be­völ­ke­rung ins Elend stürzt.
Kenntnisreich und gestützt auf reich­hal­ti­ge Quel­len er­zählt Zeit­his­to­ri­ker Peter Longe­rich die Chro­no­lo­gie eines Staats­ver­sa­gens. Da­bei se­ziert der Best­seller­au­tor nicht bloß Ur­sa­chen und Ab­läu­fe, son­dern auch die Fol­gen: das bis heute an­hal­ten­de In­fla­tions­trauma – und den Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lis­mus.

FALTER-Rezension:

"Es war ein verzweifeltes Abstrampeln"

Die Jahre 1923 und 2023 ähneln sich auf den ers­ten Blick. Zum Hun­dert­jahres­ge­den­ken sind gleich meh­rere Bü­cher zu die­sem schick­sals­haf­ten Jahr er­schie­nen. Den deut­schen His­to­ri­ker Peter Longe­rich in­ter­es­siert vor allem, wie Eli­ten in Kri­sen­zei­ten agie­ren - und er­schreck­end häu­fig auch ver­sagen.
Falter: Vertrauens-, Energie-, Flüchtlings-, Teuerungs­krise: Sie plä­die­ren in Ihrem neuen Buch "Außer Kon­trol­le" über das Jahr 1923 da­für, mit dem Be­griff "Krise" spar­sam um­zu­gehen. Warum?

Peter Longerich: Es ist ja ein geradezu ma­gi­scher Be­griff, der von Me­dien, aber auch von Wis­sen­schaft­lern sehr gerne ver­wen­det wird, der aber nicht sehr ana­ly­tisch ist. Er kommt dort zum Ein­satz, wo man mit dem Er­klä­ren nicht wei­ter­kommt. Als His­to­ri­ker inter­es­sie­ren mich Kri­sen eher als sich rasch ent­wickelnde Pro­zes­se, und ich fra­ge nach den po­li­ti­schen Hinter­grün­den und vor allem nach dem Han­deln und den Re­ak­tio­nen der Ak­teure, die Macht be­sitzen. Wenn die Krise erst ein­mal fort­ge­schrit­ten ist, kön­nen sie meist nur mehr rea­gie­ren und nicht mehr vor­aus­schau­end han­deln.

Wenn uns der Begriff überhaupt nicht weiter­hilft, ver­wen­den wir ihn dann nur als Aus­druck von Hilf­lo­sig­keit so oft?

Longerich: Eher als Aus­druck großer Zu­kunfts­ängste. Denn was heißt Krise wirk­lich? Wenn wir his­to­ri­sche Fäl­le be­mühen und ver­su­chen, sie in ihren Di­men­sio­nen auf heute zu über­tra­gen, dann wäre Krise, wenn wir tage­langen Strom­aus­fall hät­ten, große Men­schen­mas­sen plün­dernd und maro­die­rend durch die Straßen zie­hen oder mas­sen­haft ihre Woh­nung ver­lie­ren wür­den. All das pas­siert zum Glück ge­rade nicht. Im Grun­de geht es uns noch ganz gut. Wel­ches an­dere Wort wol­len wir ver­wen­den, wenn es wirk­lich so weit ist?

In Ihrem Buch zeigen Sie am Bei­spiel des Jahres 1923, dass eine Krise im­mer in vier Stu­fen ab­läuft. Be­vor wir ge­nau­er da­rü­ber spre­chen und da­rü­ber, was wir aus 1923 über 2023 lernen kön­nen, möchte ich Sie grund­sätz­lich fra­gen: Machen diese Jahres­zahlen­ver­glei­che über­haupt Sinn?

Longerich: Zu Jahresbeginn ist ja nicht nur meines, son­dern auch eine ganze Reihe an­de­rer Bü­cher zum Kri­sen­jahr 1923 er­schie­nen. Im Grun­de ge­nom­men ist es ein Ri­tu­al, an dem ich mich aber gerne be­tei­lige, durch­aus mit Ab­sicht, denn sol­che Er­in­ne­rungs­jahre füh­ren zu einer ge­wis­sen Fokus­sie­rung der De­bat­te über his­to­ri­sche Er­eig­nis­se. Ich hät­te die­ses Buch auch schon vor zwei Jah­ren ver­öf­fent­li­chen kön­nen, aber es wäre weni­ger wahr­ge­nom­men wor­den. Un­ab­hän­gig von sei­ner 100. Wieder­kehr ist das Jahr 1923 sehr inter­es­sant, vor al­lem für Deutsch­land, aber auch aus öster­reichi­scher Sicht, weil es zeigt, wie schnell ein Staat ins Kip­pen kommt.

In den 1920er-Jahren sind fast alle Strö­mun­gen und The­men der Mo­der­ne an­ge­legt: Femi­nis­mus, Sozi­a­lis­mus, Um­welt-und Lebens­re­form­be­we­gun­gen, Natio­na­lis­mus, In­dus­tri­a­li­sie­rung, Ur­bani­sie­rung. Sind sie des­halb so reiz­voll, selbst 100 Jahre spät­er?

Longerich: All das und die totale Wider­sprüch­lich­keit die­ser Ent­wick­lungen, die Un­be­rechen­bar­keit und Un­über­sicht­lich­keit sind da­mals schon vor­han­den, und wir kön­nen unser frü­heres ge­sell­schaft­li­ches Selbst wie in einem Spie­gel an­schauen. Das macht dieses Jahr­zehnt für uns so inter­es­sant. Wir sehen stark­e ge­sell­schaft­li­che Eman­zi­pations­be­we­gun­gen und eben­so starke Ge­gen­be­we­gun­gen, die dann in Deutsch­land 1933 tri­umphie­ren. Im Rück­blick sehen wir klar, wer die Guten und Bösen waren, wo­bei die Bösen na­tür­lich auch ge­glaubt ha­ben, dass sie die Guten sind.

Tauchen wir ein ins Jahr 1923. Eine Krise zeigt sich in ihrer ers­ten Stu­fe im­mer als struk­tu­rel­ler Kon­flikt. Wie war das da­mals?

Longerich: Die Deutschen fanden sich nach dem Ersten Welt­krieg - wie die Öster­reicher übri­gens auch -in einer neuen Staats­form wie­der, mit der große Teile der Be­völ­ke­rung nichts an­fan­gen konnten. Die Wei­ma­rer Repu­blik war bei vie­len un­be­liebt. So wie die Erste Re­pu­blik in Öster­reich. Die Ge­sell­schaft war ge­spal­ten, pola­ri­siert zwi­schen stark rech­ten und lin­ken Ex­tre­men, die sich auch in be­waff­ne­ten Ein­heiten zu­sam­men­schlos­sen, jeder­zeit putsch­be­reit. Wir haben die un­be­wäl­tig­ten öko­no­mi­schen Fol­gen des Krie­ges, mit hohen Re­pa­ra­tions­zah­lungen und der großen of­fenen Frage: Wer be­zahlt eigent­lich die Kriegs­kosten? Und wir haben tiefe Trau­ma­ta, auf per­sön­li­cher Ebene durch die Grauen des Krie­ges. Auf natio­na­ler Ebene gab es das Ge­fühl, un­ver­dien­ter­weise in einem Rumpf­staat zu leben, als Volk ge­de­mü­tigt wor­den zu sein. Deutsch­land war ein Land mit Mil­lio­nen von Wit­wen, Kriegs­opfern und Kriegs­ver­sehr­ten. Dass unter sol­chen Be­din­gun­gen eine Über­tra­gung von Ge­walt in die In­nen­poli­tik pas­siert, ist nicht über­ra­schend.

Auch heute ist immer wieder von einer ge­spal­tenen Ge­sell­schaft die Rede, die sich in ihren "Medien-Bub­bles" noch wei­ter radi­ka­li­siert. Ist das gen­au­so über­trie­ben wie das Kri­sen­ge­rede?

Longerich: Ich bin da vorsichtig, denn im Grunde ge­nom­men sind Ge­sell­schaf­ten im­mer irgend­wie ge­spalten. In den USA gibt es seit Jahr­zehnten starke rechts­kon­ser­va­tive und popu­lis­ti­sche Kräfte, Rechts­radi­kale und Rechts­ex­tre­misten, das be­gann nicht mit Donald Trump. Auch in Deutsch­land fin­den wir in den 1970er-und 1980er-Jahren star­ke Grup­pen­bil­dungen. Die CDU ist bei den Wah­len 1976 zum Bei­spiel mit dem Slogan "Frei­heit statt So­zi­a­lis­mus" an­ge­tre­ten, und na­tür­lich hat es auch eine linke Lager­bil­dung ge­ge­ben. So ge­sehen ist das also nichts Un­ge­wöhn­liches.

Was ist dann der Unterschied zu damals?

Longerich: Was damals noch gravierender war, war die Un­ver­söhn­lich­keit in den so­zial-mora­li­schen Milieus: Sozia­listen, Reak­tio­näre, Katho­liken, bür­ger­liche Libe­rale. Einer der schwers­ten poli­ti­schen Kon­flikte ent­zün­dete sich zum Bei­spiel an der Fra­ge der Auf­he­bung des Acht-Stun­den-Ar­beits­tages, für Ge­werk­schaf­ten wie Ar­beit­ge­ber eine Pres­tige­fra­ge mit ho­hem sym­bo­li­schem Wert. Dass zum Bei­spiel ein Katho­lik eine Nicht­katho­li­kin hei­ra­tete oder um­ge­kehrt, konnte einen Skan­dal aus­lösen. Die Ab­gren­zung zeigte sich nicht nur in der unter­schied­lichen "Welt­an­schauung", son­dern all­täg­lich in der Sprache, im Auf­tre­ten, bis zur Klei­dung. Das ging also viel tie­fer als heute.

Zu all diesen strukturellen Konflikten kommt 1923 dann die In­fla­tion. Noch eine Par­al­lele zur Ge­gen­wart?

Longerich: Ja, wobei wir auch da auf­pass­en müs­sen. In­fla­tion hieß da­mals Hyper­in­fla­tion. Das Geld ve­lor so viel an Wert, dass es als Zahlungs­mit­tel über­haupt nicht mehr funk­tio­nier­te, es wurde in Scheib­tru­hen herum­ge­fahren. Da­durch ver­lo­ren Men­schen jeg­liche Orien­tierung bei der Or­gani­sation ihres Lebens. Über Gene­ratio­nen Er­spar­tes war weg. Da­von sind wir heute noch weit ent­fernt. Wir sehen in An­sätzen, dass Men­schen Lebens­mit­tel auf Vor­rat kau­fen, viele machen sich Sor­gen, wie sie die Ener­gie­rech­nungen be­zahlen sollen. Aber da be­we­gen wir uns heute eher im Ver­gleich mit den 1970er-Jah­ren und der da­ma­li­gen In­fla­tion, die man poli­tisch als klei­ne­res Übel zu ver­kau­fen suchte, etwa mit­hilfe des be­kannten Aus­spruchs des da­ma­ligen sozial­demo­kra­tischen Bun­des­kanz­lers Helmut Schmidt: "Fünf Pro­zent In­fla­tion sind mir lie­ber als fünf Pro­zent Ar­beits­losig­keit."

Oder Bruno Kreiskys "Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als 100.000 Arbeitslose". In den 1920er-Jahren spitzte der Ausbruch eines territorialen Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich die Lage dann aber dramatisch zu. Damit tritt die zweite Krisenstufe ein, die aber immer noch keine echte Krise ist. Sie nennen sie den Vorraum zur Krise.

Longerich: Ja, diese Unterscheidung ist wichtig. In den Vor­raum der Krise tre­ten wir ein, wenn struk­tu­relle Kon­flikte kul­mi­nieren. In Deutsch­land pas­siert das 1923 mit dem so­ge­nannten "Ruhr-Kampf". Weil Frank­reich der Mei­nung war, dass Deutsch­land seine Repa­rations­zah­lungen nicht or­dent­lich leis­tete, be­setzte es 1923 einen Teil des deut­schen Staats­ge­bietes.

Lässt sich das mit der Invasion Russlands in der Ukraine ver­gleichen?

Longerich: Insofern, als damit das Moment einer äußeren Be­dro­hung hinzu­kam, denn die Be­setzung des Ruhr­ge­biets löste in Deutsch­land große Kriegs­ängste aus. Man fürch­tete, dass das zu einem neuen Krieg mit Frank­reich aus­arten könnte; während die poli­tische Rechte in einer sol­chen Es­ka­la­tion zum Teil den Schlüs­sel zur Lö­sung der Krise sah. Ak­tu­ell be­findet sich Eu­ro­pa damit also im Vor­raum einer Krise, denn es gibt doch eine weit­ver­brei­tete Angst, in diesen Krieg hinein­ge­zogen oder doch zu­min­dest von Kriegs­folgen gra­vie­rend ge­trof­fen zu werden. Da­mals war Kohle der Grund­stock der ge­samten Volks­wirt­schaft, von der Stahl­er­zeu­gung über die Eisen­bahn bis zum Haus­brand. Durch die Ab­sper­rung des Ruhr­ge­biets gab es keine Kohle mehr.

Eine weitere Parallele zur Gasversorgung aus Russ­land, die durch Putins An­griff auf die Ukra­ine ab­ge­schnit­ten wurde.

Longerich: Genau. Deutschland musste britische Kohle impor­tie­ren, mit ent­spre­chen­der Preis­steige­rung. Und na­tür­lich war da­mals auch das Kal­kül der rechts­ex­tre­men Mili­eus, dass sich die Un­zu­frie­denen zu­sam­men­rot­ten und die Lage es­ka­lie­ren las­sen, bis zum Staats­streich.

Es muss also mehr als ein Faktor zusammenkommen, damit eine Krise ent­steht und die drit­te Stufe ein­tritt: die Krise, die wirk­lich die Exis­tenz des Landes be­droht. Was kann die Poli­tik in so einer Phase tun?

Longerich: Wenig. Die Ereignisse des Jahres 1923 lehren uns, dass es in dieser Phase sehr schwer ist ge­gen­zu­steuern. Der eigent­liche Höhe­punkt der Krise von 1923 war ein ver­such­ter Um­sturz von Teilen der al­ten Eli­ten ge­mein­sam mit den Rechts­ex­tre­mis­ten, also der NSDAP unter ihren An­führern Adolf Hitler und Erich Luden­dorff. Das Mili­tär spielte eine un­durch­sich­tige Rolle. Aber dieser Ver­such schei­ter­te. Nach­dem Hitlers Putsch nieder­ge­schla­gen worden war, er­schienen auch alle ande­ren Staats­strei­che und Putsch­pläne obsolet.

Was aber, wie wir heute wissen, seine Machtübernahme dann doch nur um zehn Jahre ver­zögerte.

Longerich: Wir sehen zu Beginn des Herbstes 1923 zunächst Putsch­vor­be­rei­tungen rund um Berlin, sehr wahr­schein­lich mit Wis­sen der Reichs­wehr. Gleich­zei­tig zet­telt Hitler in Mün­chen Un­ruhen an. Die baye­rische Re­gie­rung ver­hängt den Aus­nahme­zu­stand, die Reichs­re­gie­rung rea­giert eben­falls mit einem Aus­nahme­zu­stand, der wie­derum den Ber­li­ner Putsch­ver­such ver­eitelt. Alles treibt nun auf die vier­te Phase der Krise zu, die eigent­liche Ent­schei­dung: Krieg, Bürger­krieg, Kampf aller gegen alle? Doch tat­säch­lich be­endet der miss­lun­gene Hitler-Putsch alle Um­sturz­be­stre­bun­gen, und es tritt eine wirt­schaft­liche und poli­ti­sche Stabi­li­sie­rung ein.

Was zeigt sich hier?

Longerich: Im Rückblick ist klar: Die Regie­rung in Berlin hat die Krise nur glück­lich über­standen. Sie und vor allem schon ihre Vor­gän­gerin hät­ten von vorn­herein scharf han­deln müs­sen, also etwa nicht dulden dür­fen, dass sich die Rechts­ex­tre­mis­ten unter dem Vor­wand des "Ruhr-Kampfes" be­waffnen und mobil­machen. Doch die Re­gie­rungen han­del­ten nicht vor­aus­schau­end, und Reichs­kanz­ler Gustav Strese­mann war schließ­lich völ­lig über­for­dert von der Situa­tion.

Als Sie dazu forschten, dachten Sie wohl nicht an den Sturm aufs Kapitol durch rechts­ex­tre­me Trump-An­hän­ger am 6. Jänner 2021.

Longerich: Soweit es seine Anhänger betrifft, war es ja eigent­lich ein of­fener Auf­stand, um einen ver­fassungs­mäßigen Wahl­vor­gang zu ver­hind­ern. Und es spricht ei­ni­ges da­für, Trumps An­sprache kurz davor als ver­suchten Staats­streich ein­zu­stufen. Noch sind die Unter­suchun­gen hie­rü­ber ja nicht ab­ge­schlos­sen. Doch wie auch immer, es gab keine Unter­stützung bei Poli­zei oder Mili­tär. Das ist ja ein ganz wesent­licher Unter­schied zu 1923.

Ein Hauptproblem in Krisen sind also Politiker, die überfordert bis hand­lungs­un­fähig sind. Genau­so wie Eu­ro­pa nach dem 24. Februar 2022?

Longerich: Und Politiker, die viel Zeit ver­lieren. Im Grunde ge­nom­men hät­te sich die Euro­pä­ische Union schon ein paar Wochen nach der rus­si­schen In­va­sion in der Ukra­ine auf die neuen Ver­hält­nis­se um­stel­len müs­sen. Es hat aber dann mo­na­te­lang ge­dauert, bis ent­schieden wurde, ob und wel­che Waf­fen ge­lie­fert wer­den oder wie man die ei­gene Be­völ­ke­rung vor den Preis­stei­ge­rungen schützt.

Hätte Europa nicht schon 2014, als Putin die Krim angriff, reagieren müssen?

Longerich: Das scheint mir aus heutiger Sicht genauso wenig ver­ständ­lich zu sein wie das Kri­sen­manag­ement im Jahr 1923. Wa­rum blieb man weiter­hin in der Ener­gie­ab­hän­gig­keit von Russ­land? Wie konnte man eini­ger­maßen freund­liche Be­zie­hungen zu Putin unter­hal­ten? Wa­rum haben wir prak­tisch jede mili­tä­ri­sche Rüs­tung ver­nach­lässigt? Gleich­zeitig stel­len Sie sich vor, je­mand hätte 2015 ge­for­dert, an­ge­sichts einer rus­si­schen Be­dro­hung auf­zu­rüs­ten. Er oder sie wäre wahr­schein­lich als der letzte Idiot da­ge­standen.

Und nicht als Hellseher. In Ihrem Buch beschreiben Sie das Ver­sagen der Poli­tik 1923 sehr ge­nau, es fehlt ein Macht­zen­trum, und am Ende herrscht mehr oder weni­ger Chaos. Um­ge­legt auf 2023: Ist die EU krisen­fest?

Longerich: Die Strukturen innerhalb der EU sind ja nicht auf rasche Ent­schluss­bil­dung, in der dann der Mehr­heits­stand­punkt kon­se­quent durch­ge­setzt würde, an­ge­legt. Das sieht man ja heute schon an den vie­len natio­na­len Allein­gän­gen. In einer viru­len­ten Kri­se wür­den die­se gan­zen euro­pä­ischen Mecha­nis­men ver­mut­lich außer Kraft ge­setzt und je­des Land wie­der für sich agie­ren. In Hoch­krisen hin­ken Gre­mien immer hinter­her, Ent­schei­dungs­trä­ger und ihr per­sön­li­ches Wol­len tre­ten in den Vor­der­grund. Das zeigt sich 1923 arche­ty­pisch. Doch auch diese Art von be­schleu­nig­ter, fast schon dik­ta­to­ri­scher Ent­schei­dungs­fin­dung führt nicht zu den ge­wünsch­ten Er­geb­nis­sen. Es wird eher nur noch schlim­mer. Im Nach­hi­nein hat man den Ein­druck eines ver­zwei­fel­ten Ab­stram­pelns. Denn mit oder ohne Gre­mien ist der Pro­zess nicht mehr steuer­bar.

Das heißt, solange alle zu ihren Ministerräten nach Brüssel fliegen, ist das ein gutes Zeichen?

Longerich: Ja, dieses gemeinsame Ringen zeigt uns, dass wir noch immer im Vor­feld der Krise sind. Wenn die echte Krise be­ginnt, dürfte ein anderer Mo­dus herr­schen. In An­sätzen haben wir das ganz zu Be­ginn der Pan­de­mie er­lebt. Die Ber­liner Re­gie­rung hat sich da­mals mit den Minis­ter­prä­si­den­ten kurz­ge­schlos­sen und die Par­la­mente völ­lig über­gangen. Aber wie man ge­se­hen hat, war das nicht un­be­dingt effek­tiver.

Wenn wir zusammenfassen: Was können wir, wenn überhaupt, aus dem Jahr 1923 für 2023 lernen?

Longerich: Die Konsequenzen sind so offen­sichtl­ich, dass sie sich fast schon banal an­hören. Wir sind, wenn man das his­to­risch ver­gleicht, noch nicht in einer schwer­wie­gen­den Krise, son­dern ver­suchen, die Aus­wir­kun­gen einer sol­chen großen Krise zu anti­zi­pieren. Man muss jetzt gegen­steu­ern, so früh wie mög­lich und auch, wenn es un­po­pu­lär ist. Man muss den Men­schen da­bei klar­machen, dass man das alles macht, um künf­tige große Krisen ab­zu­wenden. Die Pläne zur Ener­gie­wende lie­gen ja seit lan­gem auf dem Tisch, sind aber in der Ver­gan­gen­heit ver­nach­läs­sigt worden. Dann muss man na­tür­lich alles tun, damit die Men­schen durch die­se Phase kom­men, ohne zu ver­armen, was un­wei­ger­lich zu schwe­ren innen­po­li­ti­schen Kon­flik­ten füh­ren müsste. Und man muss sich kon­se­quent ge­gen die­jenigen ab­gren­zen, die die Krise für ihre Zwecke aus­nut­zen wol­len.

Sie klingen gar nicht so pessimistisch?

Longerich: Ich bin jetzt sogar wieder optimistisch. Wir sind mitten im Winter, und es läuft doch irgend­wie. Ein­mal mehr: Von einer Krise, in der die Exis­tenz un­se­res ge­sell­schaft­lichen und poli­ti­schen Sys­tems auf dem Spiel steht, sind wir noch weit ent­fernt. Aber das kann nicht heißen, dass wir die Hände in den Schoß legen.

Barbaba Tóth in Falter 1-2/2023 vom 13.01.2023 (S. 27)

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 11, 2023 9:48:00 PM Categories: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
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Das Tor Europas 

Die Geschichte der Ukraine

von Serhii Plokhy
Lieferbar ab März 2023

ISBN: 9783455015263
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 560 Seiten
Erscheinungsdatum: 03.09.2022
Übersetzung: Thomas Wollermann, Bernhard Jendricke, Stephan Pauli, Stephan Kleiner, Anselm Bühling
Preis: € 30,90

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das Hauptwerk des Harvard-Historikers Serhii Plokhy endlich auf Deutsch.

Die Ukraine ein Land ohne eigene Ge­schichte? Der ukra­ini­sche His­to­ri­ker von Welt­rang Serhii Plokhy zeigt, wie mannig­fal­tig und dra­ma­tisch die His­to­rie die­ses Landes zwi­schen Eu­ro­pa und dem Osten ist. Nichts könnte der­zeit ak­tu­el­ler sein.
Mit dem Ukraine-Krieg hat eine neue Zeit­rech­nung in Eu­ro­pa be­gon­nen. Im Kern geht es in dem Kon­flikt um die Ge­schichts­deu­tung ei­nes rie­si­gen Lan­des, das jahr­hun­derte­lang Zank­apfel der Groß­mächte war: Es gilt als Wie­ge der Rus­sen und war my­thi­scher Ort für die al­ten Grie­chen, Wi­kin­ger und Mon­go­len. Sie be­herrsch­ten das heu­tige Staats­ge­biet eben­so wie Öster­reich-Ungarn, Polen und die Sow­jets, die erst mit dem „Holodomor“, dem grau­sa­men Aus­hun­gern der Be­völ­ke­rung, den ukra­i­ni­schen Wider­stand bre­chen konnten. Dass die Ukra­i­ner ein Volk mit ei­ge­ner Spra­che, Tra­di­tion und Ge­schichte sind, zeigt der Har­vard-Pro­fes­sor Serhii Plokhy so deut­lich wie fun­diert und elo­quent. Das Tor Euro­pas ist das viel­leicht wich­tig­ste Buch zum Ver­ständ­nis der Hinter­gründe des ak­tu­el­len Kon­flikts. Es zeigt, wie die Ukra­i­ne zum Spiel­ball zwi­schen Ost und West wurde und den­noch stets seine ei­gene Iden­ti­tät be­wahrte.

Das Buch wird bis zur Druck­legung in stän­di­gem Aus­tausch mit dem Au­tor ak­tu­ell ge­halten.

Rezensionen:

„Ohne Frage das Standardwerk zur Geschichte der Ukraine.“ – Wall Street Journal
„Das traurige Schicksal der Ukraine in all seiner Komplexität wird mit Serhii Plokhy endlich verständlich.“ – Foreign Affairs
„Unverzichtbar, um Russland und die Ukraine zu verstehen.“ – Simon Sebag Montefiore

Posted by Wilfried Allé Monday, January 9, 2023 8:54:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Zeitgeschichte(n) aus 50 Jahren 

Berichte, Interviews, Vorträge

von Eugen Freund

ISBN: 9783990295571
Verlag: Wieser Verlag
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
Umfang: 250 Seiten
Erscheinungsdatum: 31.10.2022
Preis: € 24,90

Kurzbeschreibung des Verlags:

Epochenjahr 1923: Wirren und Wende­punkte in Deutsch­land und der Welt
Vom Ortstafelkonflikt in Kärnten 1972 bis zum Ukraine-Krieg 2022, von den „dunklen Wol­ken über der US-Auto­in­dus­t­rie“ 1980 bis zum Im­peach­ment ge­gen Donald Trump im De­zem­ber 2019, vom ers­ten Por­trät des da­mals noch fast un­be­kannten Au­tors Peter Tur­rini im „Pro­fil“ 1973 bis zu Thea­ter-Mati­neen im Stadt­thea­ter Klagen­furt 2006. Eugen Freund hat im Rah­men sei­ner jour­na­lis­ti­schen Tätig­keit ein viel­fäl­tiges Œuvre ver­fasst: Vor­träge über das „Trans­at­lan­ti­sche Ver­hält­nis“ oder der Be­richt über einen Mör­der, der sich bis zum Ge­fängnis­di­rek­tor so­zi­a­li­siert hat – die „Zeit­ge­schichte(n)“ füh­ren uns zu­rück zum schreck­li­chen Erd­be­ben im be­nach­bar­ten Friaul (1976) oder zum Ende des „Aus­tro-Por­sche“, der in Öster­reich die Auto­mo­bil­in­dus­trie neu be­le­ben sollte. In New York be­sucht er Hedy Kempny, eine Freun­din des Schrift­stel­lers Arthur Schnitz­ler, er schil­dert die Aus­wir­kun­gen der Öl­katas­tro­phe der „Exxon Valdez“ in Alas­ka und den Ab­sturz einer „Panam 747“ über Locker­bie in Schott­land. Er­gänzt wer­den die Bei­trä­ge durch aus­führ­liche Inter­views: Der Medien­mogul Ted Turner kommt eben­so zu Wort wie etwa der Frie­dens­nobel­preis­trä­ger Elie Wiesel, UNO-General­sekre­tär Ban Ki-Moon, der ehe­mali­ge Kärnt­ner Landes­haupt­mann Hans Sima, Han­nes An­drosch am Tag sei­nes Aus­schei­dens aus der Credit­an­stalt, oder die ehe­mali­ge US-Außen­mi­nis­terin Madeleine Albright. Die Be­richte und Re­por­tagen er­schie­nen ur­sprüng­lich in der „Kärnt­ner Tages­zei­tung“, der „Presse“, der „Welt­woche“, im „Profi l“, der „ZEIT“, der „Vogue“, im „Kurier“, im „Stan­dard“, in der „Ber­liner Zei­tung“ und in „Woman“. Aber auch ei­ni­ge Bei­träge, die Freund für das ORF-Ra­dio oder das Fern­se­hen ver­fasst hat, fin­den sich hier wie­der. Ein kurz­wei­li­ger Rück­blick auf ein hal­bes Jahr­hun­dert Zeit­ge­schehen.

FALTER-Rezension:

Journalistische Zeit­ge­schich­ten

Der Autor Eugen Freund war Europa­ab­ge­ordne­ter, Mode­ra­tor der "Zeit im Bild" und ORF-Aus­lands­korres­pon­dent. Was viele über­ra­schen wird: Freund war als an­ge­hen­der Jour­na­list auch Zeu­ge des so­ge­nann­ten Orts­tafel­sturms in Kärn­ten 1972. Die Kra­walle ge­gen die zwei­spra­chige Orts­ta­feln ver­hin­der­ten, dass ein der slowenischen Minderheit im Staatsvertrag gegebenes Versprechen umgesetzt wurde. 39 Jahre (!) später kam es zu einem Kompromiss.

Der Ortstafelstreit hielt länger an, als die Ber­li­ner Mauer be­stand, rech­net Freund bei sei­ner Buch­prä­sen­ta­tion im Wie­ner Funk­haus vor. Ty­pisch für Freund, für den in sei­ner lan­gen Kar­ri­e­re die Ver­bin­dun­gen zwi­schen der wei­ten Welt und Öster­reich stets im Zen­trum ge­stan­den sind. Er hat den Fall der Ber­li­ner Mauer er­lebt, Donald Trump als Plei­tier in frü­hen Jah­ren wahr­ge­nom­men und sehr rasch die Be­deu­tung Barack Obamas er­kannt. Eugen Freund war im­mer ein ex­trem viel­sei­ti­ger Jour­na­list, was sich in sei­nem Buch nie­der­schlägt, das die letz­ten 50 Jahre lebendig werden lässt.

Raimund Löw in Falter 51-52/2022 vom 23.12.2022 (S. 27)

Posted by Wilfried Allé Tuesday, December 27, 2022 9:55:00 PM Categories: Belletristik/Essays Feuilleton Interviews Literaturkritik
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Krise! 

Wie 1923 die Welt erschütterte

von Nicolai Hannig , Detlev Mares

ISBN: 9783534275212
Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg)
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 240 Seiten
Erscheinungsdatum: 15.12.2022
Preis: € 41,20

Kurzbeschreibung des Verlags:

Epochenjahr 1923: Wirren und Wendepunkte in Deutschland und der Welt
Hitler-Putsch, Ruhr­kampf, Auf­stieg des euro­päi­schen Fa­schis­mus – 1923 war ein Jahr, das so­wohl Deutsch­land als auch die Welt er­schüt­terte und viele bis­herige Sicher­heiten in­frage stellte: Kemal Ata­türk greift nach der Macht, im ja­pa­ni­schen Kanto ster­ben über 140 000 Men­schen beim großen Erd­be­ben, und 1923 schei­ter­te zum ersten Mal der ukrai­ni­sche Traum von einem ei­ge­nen Natio­nal­staat. Das span­nungs­volle Pano­ra­ma eines be­son­deren Epo­chen­jah­res bie­tet an­ge­sichts aktu­el­ler Kri­sen­er­schei­nun­gen einen neuen, einen spiegel­bild­li­chen his­to­ri­schen Blick auf das kri­sen­hafte Jahr 1923 und schlägt be­wusst auch einen Bo­gen in die Gegen­wart.

Mit Beiträgen u. a. von Eckart Conze, Christoph Cornelißen, Franziska Davies, Christof Dipper, Gerrit Schenk und Jens Ivo Engels

Posted by Wilfried Allé Sunday, December 11, 2022 5:51:00 PM Categories: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
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Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu! 

Eine Streitschrift

von Alexia Weiss

ISBN: 9783218013536
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: Hardcover
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.09.2021
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Preis: € 22,00
Kurzbeschreibung des Verlags:

„Die Notwendigkeit zur Veränderung an Schulen könnte man nutzen, um nicht nur wieder ein kleines Reförmchen anzugehen, sondern das Bildungswesen neu zu konzipieren.“

Die Unzufriedenheit mit dem Schulsystem ist groß: Kinder sind unter- oder überfordert, Eltern beklagen zu großen Druck und ein zu hohes Lernpensum. Lehrer*innen wollen unterrichten, sehen aber, dass sie manche Schüler*innen nicht erreichen und am Ende der Notenschnitt alle Bemühungen überlagert. Direktor*innen sind frustriert vom ständig steigenden Administrationsaufwand. Also wie weiter?

Alexia Weiss wagt Großes: Sie plädiert für ein Schulsystem, das unseren Bildungsbegriff hinterfragt. Zentral ist deshalb nicht die Kritik an Bestehendem, sondern die Idee eines inklusiven Modells, das allen Kindern mehr Entwicklungspotenzial bietet und Eltern sowie Pädagog*innen unterstützt, statt sie zu überlasten. Ganzheitliche Bildung, frühe Förderung individueller Talente, psychosoziale Betreuung, die Neukonzeption des Lehramtsstudiums und faire Bezahlung sind die unabdingbaren Bausteine einer zukunftsweisenden Idee, die echte Chancengleichheit und damit ein tragfähiges Fundament für unsere Gesellschaft zum Ziel hat.

FALTER-Rezension

Der Traum vom perfekten Klassenzimmer

Seit mehr als zwei Jahrzehnten, seit Österreich an internationalen Bildungsvergleichsstudien teilnimmt, wissen wir um die vielen Schwächen unseres Bildungssystems. Da wären etwa die frühe Selektion, die ausufernde Bürokratie, Mängel in der Elementarpädagogik, die große Bildungsungerechtigkeit, der nicht zeitgemäße Umgang mit Mehrsprachigkeit und Diversität, Aufholbedarf in der Digitalisierung, um nur einige Schwachstellen zu nennen. All das ist seit Jahren bekannt, es wurde viel darüber geschrieben, und vor zehn Jahren hat ein Bildungsvolksbegehren grundlegende Änderungen gefordert.
Geschehen ist wenig. In den letzten zwei Jahren hat die Pandemie einer breiten Öffentlichkeit sichtbar gemacht, wie es um unser Bildungssystem steht.

Wer sich vom reißerischen Titel des Buches von Alexia Weiss eine weitere Abrechnung erwartet, wird enttäuscht sein. Das ist nicht die Intention der Autorin. Vielmehr möchte sie eine breite Debatte über eine Reform des Schulsystems in Gang bringen und stellt die Vision von einer Schule ins Zentrum, die jedem Kind gleiche Chancen bietet, ungeachtet seiner Herkunft.

Das Schulsystem, das sie beschreibt, stellt, wie sie betont, ein Idealbild dar, das angestrebt werden soll. In 30 Kapiteln werden alle relevanten Themenbereiche behandelt, die eine grundlegende Schulreform in Angriff nehmen müsste, und zwar in Österreich. Denn gute Modelle aus verschiedensten Ländern lassen sich nicht ohne weiteres auf jedes andere Land übertragen.

Wie sieht also die ideale Schule der Zukunft in Österreich aus? Die Autorin hat sich gründlich umgesehen. Zwar gibt es kein Land, das in seinem jeweiligen Schulsystem all die von ihr beschriebenen Charakteristika aufweist, doch alles, was sie anführt, ist State of the Art.

Fairerweise muss gesagt werden, dass sich auch an österreichischen Schulen so manches findet, was in dieser zukünftigen Schule vorkommen soll, wie etwa jahrgangsübergreifende Klassen im Volksschulbereich oder individualisierter Unterricht auf Basis von regelmäßigen Lernstandserhebungen. Da Ziffernnoten in der Volksschule wieder verpflichtend eingeführt wurden, sind diese Ansätze jetzt allerdings gefährdet.

Der ersten Bildungseinrichtung, dem Kindergarten, wird viel Raum gewidmet. Hier besteht bekanntlich besonders großer Reformbedarf. In altersübergreifenden Gruppen von maximal 15 Kindern sollen künftig bei den Drei-bis Sechsjährigen zwei Pädagogen oder Pädagoginnen arbeiten, bei den Kleineren sind die Gruppengrößen entsprechend kleiner.

Von ganz klein auf wird Konfliktkultur gelernt. Die Schule beginnt im Alter von sechs Jahren, und in dieser ganztägigen gemeinsamen Schule ohne frühe Trennung kommt dem Coach eine zentrale Bedeutung zu. Für jede Schülerin/jeden Schüler gibt es ab dem ersten Schuljahr eine Person, die sie/ihn durch die ganze Schullaufbahn begleitet. Diese Coaches sollten eine Ausbildung in klinischer Psychologie sowie ein Psychologiestudium absolviert haben, dazu eine Ausbildung im Bereich Bildungsberatung. Sie betreuen jeweils 30 Schülerinnen und Schüler quer durch alle Altersgruppen.

Der Coach kommt in vielen Kapiteln vor. Aus der Vielfalt der behandelten Themen können nur einige wenige herausgegriffen werden: Kurssystem von klein auf, Ganztagsschule, Nachhilfe an der Schule, multiprofessionelle Schulteams, Religionsunterricht, Schulärztin und Schulnurse, Elternkommunikation und Elternschule. Demokratieerziehung, Inklusion und Geschlechtergerechtigkeit stehen als Querschnittsmaterie ganz oben.

Das Buch ist sowohl für interessierte Laien als auch für Insider interessant und verdient eine spannende Diskussion. Politikern und Politikerinnen empfehle ich es als Pflichtlektüre.

Heidi Schrodt in Falter 36/2022 vom 09.09.2022 (S. 15)

Posted by Wilfried Allé Friday, November 25, 2022 9:39:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Verlockende Oasen 

Parks, Grünräume und malerische Gärten in Wien

von Viola Rosa Semper, Charlotte Schwarz

Reihe: Kultur für Genießer
EAN: 9783854396970
Verlag: Falter Verlag
Format: Gebundene Ausgabe
Umfang: 272 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.09.2021
Preis: € 29,90

Die Entdeckungsreise von Geheime Pfade und Faszinierende Wege geht weiter. Dieses Mal werden die schönsten öffent­lich zu­gäng­liche Grün­an­lagen der Stadt vor­ge­stellt. Diese be­zau­bernd, stil­len Orten sind grüne Wohl­fühl­oasen, wo man die Seele bau­meln las­sen, ein Buch ge­nießen, spa­zieren gehen oder auch Ge­schichte er­leben kann. Anek­do­ten von „Stamm­gästen“, Ge­schich­ten aus dem Grätzl so­wie hand­feste In­for­ma­ti­onen zu Archi­tek­tur, Ge­schichte und Ge­stal­tung er­gän­zen die um­wer­fen­den Fo­tos und la­den zum Fla­nie­ren durch die grünen In­seln Wiens.

Die Kapitel sind nach unter­schied­li­chen Park-/Grün­raum­ty­pen ge­glie­dert:

  • Englische Landschaftsgärten
  • Schlossgärten
  • Schwerpunktparks und Themenräume
  • Gartenvielfalt: Schul- und Schaugärten
  • Grätzelparks, Quar­tier­parks und städ­ti­sche Park­an­lagen
  • Naturbelassene Parkanlagen, Wälder und Schutz­ge­biete

Rezension von Michael Mueller aus Wien am 01.08.2022

Das ist ein wundervolles Buch über die Grün­räume in Wien. Es liefert viele inter­es­sante Infos, die wahr­schein­lich auch den meis­ten Wie­ner­Innen nicht be­kannt sind. Man be­kommt rich­tig Lust, all die Parks und Gär­ten zu er­kun­den. Es eig­net sich aber auch für Be­sucher­Innen der Stadt, die nicht nur je­ne Plätze se­hen wol­len, die sich alle an­de­ren auch an­sehen.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, November 16, 2022 10:40:00 AM Categories: Kultur für Genießer
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Weckruf Corona 

Gesellschaftliche Diagnosen für unser Leben nach der Pandemie

von Günther Sidl

ISBN: 9 783200 086012
Verlag: Urban Future
Format: Taschenbuch
Genre: Klimawandel, Nachhaltigkeit, Wirtschaft/Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 17.11.2022
Preis: € 22,00 (zzgl. Versandkosten)

 

Das Buchprojekt von SPÖ-EU-Abgeordneten Günther Sidl soll einen breit ge­fächer­ten Dis­kussions­pro­zess an­stoßen – Bei­träge von Ex­pert­Innen aus unter­schied­lichsten Be­reichen zei­gen auf, was Corona alles ver­ändert hat und wie es jetzt weiter­gehen kann.

„Die Corona-Pandemie hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Nicht nur die wirt­schaft­lichen und so­zi­alen Fol­gen habe viele zu spüren be­kom­men, son­dern na­tür­lich auch den Um­gang mit un­se­ren Grund- und Frei­heits­rechten und die Ver­lage­rung des so­zia­len Lebens in den vir­tuel­len Raum. Und ge­nau da­rüber müs­sen wir reden“, be­tont SPÖ-EU-Ab­ge­ord­ne­ter Günther Sidl, der vor die­sem Hinter­grund das Buch­projekt „Weckruf Corona – Ge­sell­schaft­liche Diag­nosen für unser Leben nach der Ge­sund­heits­krise“ ge­star­tet hat. Mit Bei­trägen von zahl­rei­chen Ex­pertInnen aus den ver­schie­dens­ten Dis­zi­pli­nen, soll das Buch eine Dis­kus­sion da­rüber an­stoßen, wie es jetzt weiter­gehen soll.

Von Augmented Reality bis zum Vor­sorge­denken. Die Themen der Bei­trä­ge sind breit ge­fächert und ge­hen von neues­ten techno­lo­gi­schen Ent­wick­lungen, wie der Aug­mented Rea­li­ty, über den Klima­schutz und das neu er­wachte Inter­esse an der Natur bis hin zu demo­kratie­poli­ti­schen Fra­gen und dem in­zwi­schen viel­fach aus der Mode ge­kom­menen Vor­sorge­denken. „Als über­zeug­ter Ver­fechter des Vor­sorge­den­kens, möchte ich mit diesem Buch auch einen Bei­trag da­zu leis­ten, dass wir diese vor­aus­schau­ende Hal­tung wie­der ins Rampen­licht stel­len“, so Sidl, dem es da­bei nicht nur um die best­mög­li­che Vor­be­rei­tung unse­rer Ge­sund­heits­sys­teme auf die nächs­te Pan­de­mie geht: „Es geht auch da­rum eine neue Sicht­wei­se da­rauf zu ent­wickeln, was uns in unse­rer Ge­sell­schaft wirk­lich etwas wert ist und wo­rauf wir be­son­ders ach­ten müssen.“

„Wir müssen darüber nach­denken, welche Ent­wick­lungen wir bei­be­hal­ten wol­len und wo wir wie­der zu­rück zum Sta­tus Quo vor der Pan­de­mie wol­len“, um­reißt Sidl die Idee für das Buch „Weck­ruf Coro­na“, mit dem aber auch ein lang­fris­ti­ger Blick in die Zu­kunft mög­lich wer­den soll: „Wir müs­sen uns auch über­legen, wo wir ganz neue An­sätze brau­chen, um Wirt­schaft, Ar­beit und unser Zu­sam­men­le­ben zu or­ga­ni­sie­ren. Kurz ge­sagt geht es um die Frage, wie sich un­sere Ge­sell­schaft weiter­ent­wickeln soll.“

Corona darf unsere Demokratie nicht krank machen

Entscheidend ist laut Sidl auch, dass die Corona-Pan­de­mie nicht un­sere Demo­kra­tie krank machen darf. „Wir dür­fen die Grund­lagen un­serer Demo­kra­tie, wie die Be­reit­schaft zum Dia­og und zur Zu­sam­men­ar­beit nicht aus den Au­gen ver­lie­ren“, er­klärt Sidl, der vor den mög­li­chen Spät­fol­gen warnt: „Was pas­siert, wenn wir auf­hören miteinander zu reden und alle in die Entscheidungen einzubinden, sehen wir an derwachsenden Skepsis vieler Menschen ge­gen­über der Politik, staatlichen Ins­tan­zen, Me­di­en und der Wis­sen­schaft. Das wurde in der Pan­de­mie sehr deut­lich sicht­bar. Diese Ent­wicklung kann und darf uns nicht egal sein, wenn wir die lang­fris­tige Sta­bi­li­tät un­serer demo­kra­ti­schen Struk­turen nicht ge­fährden wollen.“

„Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Ex­per­tin­nen und Ex­per­ten aus den unter­schied­lichs­ten Be­rei­chen von Poli­tik, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Zi­vil­ge­sell­schaft da­zu be­reit er­klärt ha­ben, die­ses Buch­pro­jekt zu unter­stützen“, freut sich Sidl, dass es ge­lun­gen ist so viele span­nen­de Bei­träge zu sam­meln: „Mir war es be­son­ders wich­tig, die Per­spek­ti­ven von Frau­en und Män­nern, die sich in ihrem Be­rufs­leben mit unter­schied­lichs­ten The­men be­fas­sen und da­bei Zu­sammen­hänge für un­sere ge­samte Ge­sell­schaft er­ken­nen, ab­zu­bil­den. Durch ihre viel­fäl­tigen Ein­blicke und Er­fah­rungen kön­nen wir wich­tige Lehren aus der Pan­de­mie zie­hen und neue An­sätze fin­en, um un­sere ge­mein­same Zu­kunft bes­ser zu ge­stalten.“
 


Urban Future Edition

Im Jahr 2018 wurde die Urban Future Edition gegründet, um Publikationen zu stadt­forschungs­rele­vanten und kom­munal­wis­sen­schaft­lichen Themen sowie zum Bereich Public Manage­ment stra­te­gisch und ge­zielt ver­öffent­lichen zu können. Dabei sollen auch wis­sen­schaft­lich noch wenig be­leuch­tete As­pekte von Urba­ni­tät und Stadt­ent­wick­lung be­wusst auf­ge­grif­fen werden. Inter­natio­na­li­tät und ein Denken in Re­gio­nen stel­len für Urban Forum und damit auch für die Urban Future Edi­tion einen we­sent­lichen Eck­pfeiler des Han­delns dar. Der Ver­lag möchte aber auch seinem selbst ge­stell­ten Kul­tur­auf­trag nach­kommen und an­lass­be­zogen Bücher ab­seits der vor­ste­hend an­ge­führ­ten Themen­felder heraus­bringen. Denn: „Urba­ni­tät meint immer auch ein Bild vom rich­tigen Leben. Sie be­misst sich auch an den öko­no­mi­schen, so­zia­len und poli­ti­schen Chancen für ein hu­ma­nes Leben, die eine Stadt jedem ihrer Bür­ger er­öffnet.“ (Hartmut Häußer­mann, Walter Siebel).
Bestellungen an office@urbanforum.at

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Der Code des Kapitals 

Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft

von Katharina Pistor

ISBN: 9783518587607
Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Recht
Umfang: 440 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.11.2020
Übersetzung: Frank Lachmann
Preis: € 32,90

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Kapital ist das bestimmende Merkmal moderner Volkswirt­schaften, doch die meisten Men­schen haben keine Ahnung, wo­her es tat­säch­lich kommt. Was ver­wan­delt bloßen Reich­tum in ein Ver­mögen, das auto­ma­tisch mehr Reich­tum schafft? Katha­rina Pistor zeigt in ihrem bahn­bre­chen­den Buch, wie Kapi­tal hinter ver­schlos­senen Türen in An­walts­kanz­leien ge­schaf­fen wird und warum dies einer der wich­tigs­ten Gründe für die wach­sende Un­gleich­heit in unse­ren Ge­sell­schaf­ten ist.

Das Recht »codiert« selektiv bestimmte Ver­mögens­werte und stat­tet sie mit der Fähig­keit aus, pri­va­ten Reich­tum zu schüt­zen und zu pro­du­zie­ren. Auf diese Weise kann jedes Ob­jekt, jeder An­spruch oder jede Idee in Kapi­tal um­ge­wan­delt werden – und An­wälte sind die Hüter dieses Codes. Sie wählen aus ver­schie­de­nen Rechts­sys­temen und Rechts­ins­tru­menten die­je­ni­gen aus, die den Be­dürf­nis­sen ihrer Man­dan­ten am besten die­nen. Tech­ni­ken, die vor Jahr­hun­der­ten Land­be­sitz in Kapi­tal trans­for­mier­ten, dienen heute zur Co­die­rung von Aktien, An­leihen, Ideen und Zu­kunfts­er­war­tungen.
Ein großes, beun­ruhi­gen­des Por­trät der glo­ba­len Natur die­ses Codes so­wie der Men­schen, die ihn ge­stal­ten, und der Re­gie­run­gen, die ihn durch­setzen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 15.12.2020:

Rezensent Caspar Dohmen empfiehlt das Buch der Rechts­ge­lehr­ten Katha­rina Pistor auch fach­frem­den Le­sern. Zu ler­nen ist hier laut Re­zen­sent, wie das Pri­vat­recht im Sinne des Kapi­tals ge­nutzt wurde und wird. Pistors polit­öko­no­mi­sche Stu­die geht laut Dohmen zu­rück zu den engli­schen Land­lords, den Commons und ihrer Ver­ein­nah­mung durch den Adel und seine An­wälte und zeigt bis heute rei­chen­de recht­liche Kon­ti­nui­täten des Kapi­tals auf. Wie die Tren­nung von Kapi­tal und Ge­sell­schaft mit staat­li­cher Hilfe ein­ge­schränkt wer­den könnte, be­schreibt die Autorin in ihrem Buch auch, er­klärt Dohmen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.12.2020:

Es sind die Großkanzleien, erfährt Rezen­sent Georg Simmerl, die durch raffi­nier­te "Co­dierung", so der Zen­tral­be­griff der Autorin, Eigen­tum her­stel­len, sichern und ver­schie­ben. Der be­ein­druckte Kri­ti­ker lernt den Kapi­ta­lis­mus von seiner ju­ris­ti­schen Seite ken­nen - von der recht­li­chen Mög­lich­keit, Land in Kapi­tal zu ver­wan­delt - was zu­erst in Groß­bri­tan­nien im 16. Jahr­hun­dert statt­fand - bis zur Fi­nanz­krise von 2008, also der Sozi­ali­sie­rung pri­va­ter Risi­ken und Schul­den in gi­gan­ti­schem Aus­maß. Da seien eben doch alte "Privi­le­gien" am Werke, die für die wach­sen­de Un­gleich­heit weiter­hin sorg­ten, so er­fährt er. Sein Lob gilt der Tat­sache, dass diese aus­führ­liche und auch poli­tisch deut­liche Dar­stel­lung des Sys­tems das Sys­tem zwar nicht spren­gen will, aber immer­hin auf gute Weise "für Nicht-Juris­ten" les­bar ist. Eine sanfte Kri­tik am Schluss trifft die feh­lende Be­hand­lung der Digi­tal­kon­zerne. Ins­ge­samt aber empfiehlt er das Buch als "vor­be­rei­tende Lek­türe" für das Auf­räu­men nach der nächs­ten Krise.

Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2021
Kritik der juristischen Ökonomie :

Mit ihrem Buch "Der Code des Kapitals" sorgt Katharina Pistor für Furore. Die Juris­tin zeigt da­rin, wie das Privat­recht den Ver­mö­gen­den dient. In Ham­burg trifft sie auf Wider­spruch.

Ein Mann vom Lande steht vor dem Gesetz und möchte hinein. Weil er sich aber am Tür­steher nicht vor­bei­traut, stirbt er nach vielen Jahren des Wartens vor dem Tor, ohne das Innere des Ge­setzes ge­sehen zu haben. So weit Franz Kafkas be­rühmte Pa­ra­bel. Wir aber, die Nach­kommen des Mannes vom Lande, kön­nen jetzt einen Blick hinein­werfen, zu­mindest in den Flü­gel des Ge­bäudes, den das Privat­recht ein­nimmt.

Die Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor von der New Yorker Co­lum­bia-Uni­ver­si­tät bie­tet mit ihrem viel be­ach­teten Buch "Der Code des Kapi­tals" eine ge­führte Be­sich­ti­gung. In deren Ver­lauf zeigt sich, dass die weit­läufi­gen Säle des Rechts, die sich der Mann vom Lande glanzv­oll und fest ge­fügt vor­stellte, in Wahr­heit etwas Pro­vi­so­ri­sches ha­ben: Sie sind mit Leicht­bau­wänden unter­teilt, die ganz nach Be­darf ver­scho­ben, ver­stärkt oder ent­fernt wer­den kön­nen. Den Wunsch nach sol­chen per­ma­nent wech­seln­den Rechts­grund­ris­sen haben die In­haber des glo­ba­len Kapi­tals, die Mana­ger von Banken, Trusts und Invest­ment­fonds. Die Ver­schiebe­ar­beiten er­le­digen in ihrem Auf­trag hoch be­zahlte Wirt­schafts­an­wälte in den Groß­kanz­leien von Lon­don, New York oder Frank­furt.

Allerdings verwendet Katharina Pistor nicht das Bild vom Recht als Bau­werk, des­halb fir­mie­ren die An­wälte bei ihr auch nicht als Meis­ter des Innen­aus­baus, son­dern als "Herren des Codes". Diesen Code lie­fert ihnen ein brei­tes Spek­trum an Ge­setzes­wer­ken, das sich vom Ver­trags-, Eigen­tums- und Kredit­siche­rungs­recht bis zum Trust-, Ge­sell­schafts- und In­sol­venz­recht spannt. Die ver­schie­denen Mo­dule des Codes nutzen die An­wälte in vari­ieren­den Kombi­na­tionen, um Gü­ter zu Kapi­tal zu machen, in­dem sie Eigen­tums­rechte eta­blie­ren, Aktien und an­dere Werte vor Gläu­bi­gern und Steuer­be­hör­den ab­schir­men und durch neue Kapi­tal­formen so­gar Ver­mögen schaf­fen, etwa durch ver­brief­te Hypo­theken oder geis­tige Eigen­tums­rechte. Dabei geht es nicht nur da­rum, die pas­sen­den Para­gra­fen an­zu­wen­den, son­dern die großen Lücken krea­tiv zu fül­len, die das Privat­recht lässt, um an­pas­sungs­fä­hig für die sich än­dernden Märkte zu bleiben.

Die Meister des Codes schaffen selbst neues Recht, indem sie Aus­legungs­spiel­räume im Inter­esse ihrer Man­dan­ten inter­pre­tieren, be­ste­hende Ge­setze durch Ana­lo­gie­bil­dungen auf un­ge­re­gel­tes Ter­rain aus­dehnen und - oft zu Recht - da­rauf bauen, dass ihnen die Ge­richte darin fol­gen. Den größten Ent­faltungs­raum für solch an­walt­liche Schöpfer­kraft bie­ten die Rechts­sys­teme Groß­bri­tan­niens und des Staates New York, deren Regel­werke die An­wälte dank freier Rechts­wahl in den meis­ten Staaten nutzen kön­nen. Dabei kön­nen sie sich da­rauf ver­las­sen, dass die dorti­gen Ge­richte und Be­hör­den dieses Recht durch­setzen wer­den, auch wenn es nicht der ei­genen demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten Gesetz­ge­bung ent­stammt.

Als Musterbeispiel für die Kunst anwaltlichen Codierens prä­sen­tiert Pistor die sur­rea­len, hundert­fach ver­schach­tel­ten Finanz­konstrukte der Lehman-Brothers-Bank, die noch Divi­den­den an ihre Aktio­näre aus­schüt­tete, als ihr bevor­ste­hen­der Unter­gang die Welt­wirt­schaft schon er­be­ben ließ. Die da­durch aus­ge­löste Krise zeigte, dass das Ver­trauen der großen Finanz­ak­teure und ihrer An­wälte in den Staat als Helfer in der Not nur allzu be­rech­tigt war. Wer "too big to fail" war, wurde mit öffent­li­chen Mit­teln ge­ret­tet und war meis­tens auch "too big to jail".

Katharina Pistors Kritik der juristischen Ökonomie hat nun ihrer­seits einen pro­fi­lier­ten Kri­ti­ker ge­funden: Für Hans-Bernd Schäfer, Ex­perte für die öko­no­mi­sche Ana­lyse des Rechts an der Ham­bur­ger Bucerius Law School, schießt die Autorin mit ihrer These von der kapi­ta­lis­ti­schen Herr­schaft durch Recht an­stelle einer Herr­schaft des Rechts weit über das Ziel hinaus. Seine Ein­wände brachte Schäfer in einer Podiums­dis­kus­sion mit Katharina Pistor vor, die vom Ham­burger Max-Planck-Insti­tut für aus­län­di­sches und inter­natio­nales Privat­recht ver­an­stal­tet wurde.

Für Schäfer überzeichnet Pistor den Ein­fluss der An­wälte. Zu­gleich be­lege sie nicht hin­rei­chend, dass sich un­ab­hän­gige staat­liche Ge­rich­te wirk­lich zu deren Er­füllungs­ge­hilfen machen ließen. Auch Pistors Kri­tik, dass die Inter­natio­na­li­sie­rung des Rechts ein­sei­tig den Reichen zu­gute­komme, ak­zep­tier­te Schäfer nicht. Als Gegen­bei­spiel ver­wies er auf ein in Den Haag er­gan­ge­nes Ur­teil, das den Shell-Kon­zern ver­pflich­tet, nigeria­nische Bauern für die Öl­ver­schmutzung ihres Acker­landes zu ent­schä­digen. Ohne "Forum Shopping" - also die Wahl eines für die Sache güns­ti­gen Ge­richts - hät­ten die Bauern dieses Er­geb­nis nicht er­zie­len kön­nen. Die ent­schei­den­de Dif­fe­renz zwi­schen den Kon­tra­hen­ten be­stand aber in der volks­wirt­schaft­lichen Be­wer­tung. Schäfer sieht in der Flexi­bi­li­tät des Privat­rechts eine ent­schei­dende Vor­aus­setzung für öko­no­mi­sche Inno­vationen, die nicht nur die Taschen Ein­zel­ner fül­len, son­dern den all­ge­mei­nen Wohl­stand er­höhen. Als Bei­spiel nannte er die "Er­fin­dung" der juris­ti­schen Per­son, die als recht­li­ches Kon­strukt der Aktien­ge­sell­schaft zu­grunde liegt und die kon­ti­nuier­liche Akku­mu­lie­rung von Kapi­tal er­mög­icht.

Als weiteren Beleg für die wirt­schaft­liche Schub­kraft privat­recht­licher Co­dierungen zog Schäfer die Heraus­bil­dung des Grund­eigen­tums in Eng­land heran, die auch in Pistors Buch eine wich­ti­ge Rolle spielt. Es geht dabei um die Frühe Neu­zeit, als Aristo­kra­ten das zu­vor von den Bauern ge­mein­sam ge­nutzte Gemeinde­land ge­walt­sam pri­vati­sier­ten, mit an­walt­licher Hilfe in recht­lich ge­schütz­tes Eigen­tum um­wan­del­ten und durch neu kon­zi­pier­te Trusts vor Gläu­bi­gern schützten. In Pistors Dar­stel­lung bil­den diese "Ein­he­gungen" der eng­li­schen Allmenden eine Ur­szene: Sie mar­kiert den Auf­stieg der An­wälte zu "Herren des Codes" und den Be­ginn einer Ent­wick­lung, die schließ­lich in die Un­gleich­heiten mo­der­ner kapi­ta­lis­ti­scher Ge­sell­schaf­ten mün­dete. Schäfer da­gegen ver­wies auf die enorme Pro­duk­ti­vi­täts­stei­gerung, die die­ser Pro­zess bei all seiner Härte in der Land­wirt­schaft aus­löste, wo­mit auch die Grund­lagen der spä­teren Indus­tria­li­sie­rung ge­legt wurden.

Karl Marx sah in den "Einhegungen" eine erste Stufe in der Heraus­bildung des Kapi­ta­lis­mus, einen his­to­ri­schen Fort­schritt also. Schäfer plä­dierte für eine funk­tio­nal moti­vier­te Dif­feren­zie­rung des Rechts ent­lang mora­lisch-poli­ti­scher Nor­men: Zweck des Privat­rechts soll es dem­nach sein, die öko­no­mi­schen Ak­teure zur Zu­ver­lässig­keit und Ehr­lich­keit an­zu­halten und so­mit die Rahmen­be­din­gungen für öko­no­mi­schen Fort­schritt zu schaf­fen, während das Sozial­recht für Soli­dari­tät und "Brüder­lich­keit" sor­gen soll. Bei­des zu ver­mischen, hielt Schäfer für kontra­pro­duktiv.

Diese Idee einer rechtsethischen Arbeitsteilung überzeugte aller­dings nicht. Zu Recht machte Katharina Pistor gel­tend, dass das Privat­recht An­wälten in die Hände spielt, um den Reich­tum ihrer Man­dan­ten zu meh­ren, während dem Sozial­staat die un­dank­bare Auf­gabe bleibt, die ge­sell­schaft­lichen Schä­den, die da­durch ent­stehen, ab­zu­federn. Sie plä­dier­te da­für, die Flexi­bili­tät des Privat­rechts zu­rück­zu­schrau­ben, um die Steue­rungs­fähig­keit staat­licher Sys­teme wieder zu ver­bes­sern. Der "Staat als Repa­ra­tur­be­trieb des Kapi­ta­lis­mus" wurde in der Dis­kus­sion an keiner Stelle so be­nannt, aber um ihn ging es. WOLFGANG KRISCHKE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Posted by Wilfried Allé Tuesday, November 8, 2022 6:56:00 PM Categories: Recht
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Die Alpen im Fieber 

Die 2-Grad-Grenze für das Klima unserer Zukunft

von Andreas Jäger

ISBN: 9783711200327
Verlag: BERGWELTEN
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Naturwissenschaft
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.10.2021
Illustrationen: Lana Bragin
Preis: € 32,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Die Zukunft der Alpen: Können wir den Klimawandel stoppen?

»Das Klima hat sich schon immer gewandelt«, so lautet das Lieblings­argument vieler Klima­wandel­leug­ner. Eis­zei­ten und Warm­zei­ten wech­seln sich ab – vor 20 000 wie auch vor 5000 Jah­ren. Der Unter­schied zum heu­tigen Klima­wandel? Er ist men­schen­ge­macht. Andreas Jäger schlägt Alarm: »Wir sind un­zweifel­haft die Pi­lo­ten im Klima­flug und sollten end­lich an­fan­gen, aus dem Cock­pit zu schau­en und ge­gen­zu­steu­ern!«
Zentraler Schauplatz des Buches sind die Alpen: Die alpine Vege­ta­tion wan­dert berg­wärts, Glet­scher zie­hen sich zu­rück, Perma­frost taut in im­mer hö­he­ren La­gen. In sei­nem Buch ver­sam­melt der Meteo­ro­loge und Geo­phy­si­ker nicht nur fun­dier­te Ant­wor­ten und Fak­ten rund um Ge­schich­te und Trend des al­pi­nen Klimas, son­dern macht auch die Dring­lich­keit deut­lich, mit der wir jetzt auf die Klima­krise rea­gie­ren müs­sen.
- Klimageschichte der Alpen: Welches Erbe der Eis­zeit ist uns ge­blie­ben und was hat es mit dem heu­ti­gen Klima­wandel zu tun?
- Vergangenheit ver­stehen, Zu­kunft ge­stalten: Wie hat sich die Mensch­heit wäh­rend des Holo­zäns ent­wickelt?
- Wasserschloss und Wetter­maschine: Welche Rolle spie­len die Alpen für das Wet­ter?
- Umweltschutz und Arten­viel­falt: Welche Aus­wir­kun­gen hat der Klima­wandel auf Tiere und Pflan­zen im Alpen­raum?
- Konkrete Lösungs­vor­schläge für die Klima­krise: Wo wir jetzt ak­tiv wer­den müs­sen

Welche Folgen hat die Erderwärmung im Alpenraum?

»Das bisschen CO2 macht doch keinen Klima­wandel!« – »Kein Pro­b­lem, wenn es wär­mer wird. Warm­zei­ten waren im­mer gut für die Men­schen!« Mit Irr­tü­mern und Falsch­in­for­ma­tionen die­ser Art räumt Andreas Jäger in sei­nem Buch auf. Er be­ant­wor­tet häu­fig ge­stellte Fra­gen rund um den Klima­wandel mit­hilfe wis­sen­schaft­licher Fakten und ord­net die In­for­matio­nen in ei­nem größeren Kon­text ein.
Sein Buch ist nicht nur ein aufrüttelndes Plä­do­yer, jetzt im Kampf ge­gen die Klima­krise aktiv zu werden. Der Autor hat auch eine hoffnungs­volle Bot­schaft: Noch ist es nicht zu spät!

Posted by Wilfried Allé Tuesday, October 25, 2022 11:01:00 AM Categories: Sachbücher/Natur Technik/Naturwissenschaft
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Energierevolution jetzt! 

Mobilität, Wohnen, grüner Strom und Wasserstoff: Was führt uns aus der Klimakrise – und was nicht?

von Volker Quaschning , Cornelia Quaschning

ISBN: 9783446273016
Verlag: Hanser, Carl
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 24.01.2022
Preis: € 20,60

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Welche Wege führen uns aus der Klima­krise und welche nicht? Ver­ständ­lich er­klärt vom „Drosten der Klima­ka­tas­trophe“ (Manfred Ronzheimer, taz) und Ini­ti­a­tor der „Scien­tists for Future“-Be­we­gung.
Wie kommen wir aus der Klima­krise? Reicht die Ener­gie von Son­ne und Wind? Sind Elektro­autos wirk­lich um­welt­freund­lich? Ist Was­ser­stoff der Heils­brin­ger? Was kön­nen wir sel­ber tun, auch wenn es uns schwer­fällt, un­se­re Lebens­gew­ohn­hei­ten zu än­dern? Sol­che Fra­gen stellt man am bes­ten Volker Qua­schning, einem der welt­weit füh­ren­den Ex­per­ten für re­ge­ne­ra­ti­ve Ener­gien. Mit sei­ner Frau Cor­nelia Qua­schning er­klärt er an kon­kre­ten Bei­spie­len, wie der Um­stieg auf eine nach­hal­ti­ge Wirt­schaft ge­lin­gen kann. Aber eines machen die bei­den auch klar: Die Zeit wird knapp. Eine Ener­gie­wen­de reicht nicht, es braucht eine Ener­gie­re­vo­lu­tion.

FALTER-Rezension:

Was führt uns aus der Energie­krise - und was nicht?

Eine Energiewende reicht nicht mehr, es braucht eine Re­vo­lu­tion: So lau­tet die Kern­bot­schaft im neu­en Buch von Vol­ker und Cor­ne­lia Qua­schning. Der Ber­li­ner Pro­fes­sor für Re­ge­nera­tive Ener­gie­sys­teme ver­sucht seit Jahren, die Poli­tik zum Han­deln zu be­we­gen. Er hat die Scient­ists for Fu­ture mit­be­grün­det und ge­mein­sam mit an­de­ren Klä­gern er­reicht, dass das deut­sche Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt die Klima­schutz­ge­setz­geb­ung im April 2021 für teil­wei­se ver­fas­sungs­wid­rig er­klärte. Nun ha­ben er und Ehe­frau Cornelia, Informatikerin und Co-Host des gemeinsamen Podcasts "Das ist eine gute Frage", leserfreundlich Stand und Perspektiven der Energiewende in je­dem Le­bens­be­reich zu­sammen­ge­fasst, vom Ver­kehr über das Woh­nen bis zur Er­näh­rung. Was hilft uns da raus - und was sind die Irr­wege, lau­ten die zen­tra­len Fra­gen.

Die einzige Option, um die Selbst­ver­pflich­tun­gen im Rah­men der Pa­ri­ser Klima­ver­trä­ge ein­hal­ten zu kön­nen, sei in unse­ren Brei­ten­gra­den der kon­se­quen­te Aus­bau von Wind-und Solar­ener­gie. Zwei Pro­zent der Flä­che Deutsch­lands müssten dem­nach mit Wind­parks be­stückt werden, dazu braucht es die In­stal­la­tion von Solar­pa­ne­len in großem Stil. "Macht eure Dächer voll!", plä­die­ren die Qua­schnings. Bei der Wind­kraft wol­len sie "Schluss mit den Vor­ur­tei­len" ma­chen. Aber wie ist das mit E-Au­tos, sind die wirk­lich um­welt­freund­lich? Müs­sen wir dem Klima zu­liebe künf­tig im Win­ter frie­ren? Ist der Was­ser­stoff die Lö­sung? (Spoiler: Nein, weil zu teuer; eignet sich auch nur punk­tuell, etwa im Schiffsverkehr.) Müssen wir zur alten Kern­ener­gie zu­rück?(Nein!)

Seit 30 Jahren, so schreiben die beiden, würden sie ver­su­chen, et­was ge­gen die Um­welt-und Kli­ma­krise zu unter­nehmen, auch in ihrem pri­va­ten Le­ben. Dass das emis­sions­arme Le­ben öde sei, ver­nei­nen sie vehe­ment: "Un­sere span­nen­ds­ten Rei­sen wa­ren die im Nacht­zug nach Wien oder bis zum Polar­kreis!" Kennt­nis­reich, ideo­lo­gie­frei und un­wider­steh­lich opti­mis­tisch.

Sebastian Kiefer in Falter 41/2022 vom 14.10.2022 (S. 32)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 12, 2022 9:33:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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