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Das leise Sterben 

Warum wir eine landwirtschaftliche Revolution brauchen, um eine gesunde Zukunft zu haben

von Martin Grassberger

ISBN: 9783701734795
Verlag: Residenz
Umfang: 336 Seiten
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Natur, Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 24.09.2019
Preis: € 25,00
Kurzbeschreibung des Verlags

Wissenschaftsbuch des Jahres 2020 in der Kategorie Naturwissenschaft/Technik!

Umweltverschmutzung, industrielle Landwirtschaft und Raubbau am Ackerboden verursachen chronische Krankheiten. Was ist der Ausweg?

Während die Weltbevölkerung rasant auf die 8. Milliarde zusteuert und im­mer mehr Men­schen am Wohl­stand teil­ha­ben wol­len, brei­ten sich ste­tig chro­ni­sche Krank­heiten in al­len Alters­grup­pen und Ge­sell­schafts­schichten aus. War­nun­gen vor un­mit­tel­baren Be­dro­hungen wie Um­welt­ver­schmut­zung, Boden­ver­armung und Ab­nahme der Bio­di­versi­tät ver­hal­len weit­ge­hend un­ge­hört. Der Human­bio­loge und Arzt Martin Grass­berger zeigt auf, dass ein un­mit­tel­ba­rer Zu­sam­men­hang zwi­schen der rück­sichts­lo­sen Zer­stö­rung der Natur und den lei­sen Epi­de­mien chro­ni­scher Krank­hei­ten be­steht. Die Ein­sich­ten sind er­nüch­ternd. Grass­berger zeigt je­doch mög­li­che Aus­wege aus der ge­gen­wär­ti­gen glo­ba­len Ge­sund­heits- und Um­welt­krise auf. Das Buch der Stunde!

FALTER-Rezension

Gerlinde Pölsler in FALTER 26/2024 vom 28.06.2024 (S. 44)

Es war das Wissenschaftsbuch des Jahres 2020 (Kategorie Natur­wis­sen­schaft): Der Arzt und Bio­loge Martin Grass­berger be­schreibt da­rin, was die indus­triel­le Land­wirt­schaft mit chro­ni­schen Er­kran­kun­gen zu tun hat. So schade die Che­mie in den Acker­bö­den, auf de­nen unser Es­sen wächst, un­se­rem Darm. Der Autor skiz­ziert auch eine mög­liche Agrar­wende.


Von der Notwendigkeit einer Agrarwende

Juliane Fischer in FALTER 4/2020 vom 24.01.2020 (S. 34)

Der Titel „Das leise Sterben“ lässt an einen Thriller den­ken. Er zeigt eine Rich­tung an: Zag­haft for­mu­liert wird hier nicht. Der Zu­satz „Warum wir eine land­wirt­schaft­liche Revo­lu­tion brau­chen, um eine ge­sunde Zu­kunft zu ha­ben“ be­schreibt das The­ma. Und der Autor spart nicht mit Kri­tik. Unser ak­tuel­ler Lebens­stil, spe­ziell die Er­näh­rung, sei für mehr Todes­fäl­le ver­ant­wort­lich als je­der an­dere Risiko­fak­tor, lau­tet die Kern­these des Ge­richts­medi­zi­ners und Bio­lo­gen Martin Grass­berger.

Unser Essen kommt, selbst wenn es bis zur Unkennt­lich­keit mit chemi­schen Zu­sät­zen ver­ar­bei­tet ist, aus dem Bo­den, der mehr oder weni­ger frucht­ba­ren Erd­schicht unter unse­ren Füßen. Die­ser Zu­sam­men­hang finde im Medi­zin­studium zu we­nig Be­ach­tung, meint er. Die Schul­medi­zin, die nur an Symp­to­men herum­dok­tere, und die Agrar­indus­trie, die mit Mono­kul­tu­ren Ero­sion, Über­dün­gung, Un­frucht­bar­keit ver­ur­sache, nennt er als Indi­ka­to­ren des­sel­ben Prob­lems. Denn die Che­mie scha­de den Mikro­orga­nis­men im Erd­reich wie im Darm. Für bei­de bräuch­te es ei­nen ganz­heit­li­chen Blick. Um­fas­send legt Grass­berger auch sein Buch an und nimmt da­bei Ver­kür­zun­gen in Kauf.

Auf 332 dicht bedruckten Seiten käuen manchmal nicht nur die Kühe und Schafe wie­der, son­dern auch der Autor. Mit dem Ver­armen der Bö­den und dem zer­furch­ten Sys­tem der mo­der­nen Land­wirt­schaft ha­ben sich schon viele aus­ein­ander­ge­setzt. Im hin­te­ren Teil geht Grass­berger auf Lösungs­vor­schläge ein. Und er sam­melt Er­fah­rung mit re­gene­ra­tiv-öko­lo­gi­schem Pflan­zen­bau im ei­genen Gar­ten. Be­son­ders über die er­näh­rungs­wis­sen­schaft­liche Re­cher­che wür­de man gern mehr erfahren.

Spannend wird es, wenn Grassberger in den Rinderpansen schaut oder den PR-Unfug der Wirt­schafts­kam­mer ent­larvt, die sich schüt­zend vor die Zucker­in­dus­trie stellt. Das al­les spricht für eine Agrar­wende, die hier nicht nur als Wunsch, son­dern auch als Not­wen­dig­keit for­mu­liert wird. Grass­bergers For­de­rungen sind nicht neu, sie müs­sen aber im­mer wie­der vor­ge­bracht wer­den, um irgendwann zu fruchten.

Posted by Wilfried Allé Thursday, June 27, 2024 8:35:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Natur Technik/Natur
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Landverstand 

Was wir über unser Essen wirklich wissen sollten

von Timo Küntzle

ISBN: 9783218012904
Reihe: K&S Um/Welt
Umfang: 336 Seiten
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Natur, Gesellschaft
Verlag: Kremayr & Scheriau
Erscheinungsdatum: 24.03.2022
Preis: € 24,00
Kurzbeschreibung des Verlags

„Wir Konsumenten blockieren ein nach­hal­ti­ge­res glo­bal­es Er­näh­rungs­sys­tem, in­dem wir der Land­wirt­schaft ei­nen Mühl­stein aus Vor­ur­tei­len, Denk­ver­bo­ten und wider­sprüch­lichen Wün­schen um den Hals hängen.“

Über unser Essen und die Art und Weise seiner Her­stel­lung wur­de nie emo­tio­na­ler und ver­bis­se­ner dis­ku­tiert als heute. Gleich­zei­tig ist die Zahl der Men­schen mit di­rek­tem Ein­blick in die Land­wirt­schaft auf ei­nem his­to­ri­schen Tief­stand. Klar ist ledig­lich: Je­des Lebens­mit­tel soll makel­los und rund ums Jahr zu ha­ben sein – aber bit­te nach­hal­tig, regio­nal und bio. Kann das funk­tio­nie­ren? Natür­lich nicht, sagt Timo Küntzle. Der Jour­na­list und Land­wirt­sohn sieht ge­nau hin, um mit ro­man­ti­sie­ren­den und ver­teu­feln­den Vor­ur­tei­len auf­zu­räu­men. Wel­che Rol­le spielt Land­wirt­schaft beim Klima­wan­del? Ist „bio für alle“ rea­lis­tisch? Wie schäd­lich sind Glypho­sat und an­dere Pes­ti­zide tat­säch­lich, was sind die Alter­na­ti­ven? Und nicht zu­letzt: Ist un­sere Angst vor Gen­tech­nik auf dem Tel­ler be­rech­tigt, war un­ser Es­sen in der „gu­ten al­ten Zeit“ wirk­lich bes­ser? Die Ant­wor­ten sind nicht im­mer ein­fach. Aber zwei­mal hin­se­hen lohnt sich. Nicht nur, weil es um un­ser täg­lich Brot geht, son­dern auch, weil etwas mehr Land­ver­stand uns al­len guttäte.

FALTER-Rezension

Katharina Kropshofer in FALTER 26/2024 vom 28.06.2024 (S. 44)

Das Ende der Intensivlandwirtschaft wäre Selbst­mord; wir brau­chen Pesti­zide, Gen­tech­nik und Stick­stoff­dün­ger, so Timo Küntzle, Bauern­sohn und stu­dier­ter Agrar­wis­sen­schaft­ler. Die Kon­su­men­ten wür­den der Land­wirt­schaft "einen Mühl­stein" an wider­sprüch­li­chen Wün­schen um­hän­gen. Man kann in vie­lem zu an­de­ren Schlüs­sen kom­men, De­bat­ten­an­stöße lie­fert der Autor jeden­falls.

Wie werden wir in Zukunft satt?

Maria Motter in FALTER 27/2022 vom 08.07.2022 (S. 43)

Vollspaltenböden, Gentechnik, Pestizide: Ist die indus­tria­li­sierte Land­wirt­schaft am Ende, oder wäre ihr Ende Selbst­mord? Da­rüber strei­ten die Buch­au­to­ren Matthias Krön und Timo Küntzle

Ab Ende 2039 soll es in Österreich die um­strit­te­nen Voll­spalten­bö­den für Schweine nicht mehr ge­ben. Das haben ÖVP und Grüne ver­gan­gene Woche ver­kündet. Ist das ein Zei­chen ei­nes Sin­nes­wan­dels in der Land­wirt­schaft? Wie in­ten­siv soll die­se sein? Der Fal­ter bringt zwei Land­wirt­schafts­ex­per­ten mit kon­trä­ren An­sich­ten an ei­nen Tisch.

Der eine bricht eine Lanze für Glyphosat, Gen­technik und Stick­stoff­dün­ger, der an­dere be­tont die Schä­den, die die in­ten­sive Land­wirt­schaft hinter­lässt. Der eine, Matthias Krön (53), war Mana­ger in der Milch­wirt­schaft und hat spä­ter den Ver­ein Donau Soja ge­grün­det, der den gen­tech­nik­freien An­bau von Soja in Euro­pa för­dert. Der an­dere, Timo Küntzle (47), ist auf einem Bauern­hof in Baden-Würt­tem­berg auf­ge­wach­sen, hat Agrar­wis­sen­schaft stu­diert und ar­bei­tet als Publi­zist. Bei­de ha­ben vor kur­zem Bücher ver­öffent­licht. "Land­ver­stand" hat Timo Küntzle sei­nes ge­nannt, "Eine Boh­ne ret­tet die Welt" heißt je­nes von Matthias Krön. Mit dem Fal­ter dis­ku­tier­ten sie über von Pflan­zen selbst er­zeugte Gifte, dazu­ler­nende Bio­bauern und Insek­ten­burger.

Falter: Die Regierung hat erklärt, dass die viel­dis­ku­tier­ten Voll­spal­ten­bö­den in der Schweine­hal­tung ein Ab­lauf­da­tum be­kom­men sol­len: Ende 2039. Ist das ein Grund zur Freude oder eine Hiobs­bot­schaft?

Timo Küntzle: Ich finde das begrüßenswert. Tiere sollten ein Min­dest­maß an Lebens­quali­tät er­fah­ren, wenn wir sie schon für uns nut­zen. In der Schweine­hal­tung be­steht da wahr­schein­lich der meis­te Auf­hol­be­darf. Al­ler­dings muss das teu­re­re Fleisch dann auch ge­kauft wer­den, auch von Wirts­häu­sern und Kan­ti­nen. Denn wenn hohe Stan­dards durch Im­porte unter­lau­fen wer­den, dann bringt der Be­schluss nur eine schein­bare Ver­bes­serung.

Matthias Krön: Die jetzt diskutierten graduellen Verbes­se­rungen und ihre Zeit­pläne wer­den rasch von der sehr dyna­mi­schen öf­fent­li­chen De­bat­te über­holt wer­den. 2040 wer­den wir be­reits eine ganz ande­re Dis­kus­sion ha­ben - näm­lich die, ob und wie wir Tiere nut­zen dür­fen. Öster­reich mit sei­ner klein­tei­li­gen Land­wirt­schaft sollte Vor­rei­ter beim Tier­schutz sein und da­mit neue Mark­tchan­cen nut­zen. Der­zeit se­hen zu weni­ge Markt­teil­nehmer die Chan­cen für öster­reichi­sche Schweine aus bäuer­li­chem Fami­lien­be­trieb, mit mehr Platz, regio­na­lem Fut­ter, bes­se­rer Fleisch­quali­tät. Da­bei geht der Kon­sum von Schweine­fleisch in Öster­reich am schnells­ten zu­rück, das ist auch eine Reak­tion der Kon­su­men­ten auf die zu lang­sa­me Ent­wick­lung in die­sem Sektor.

Hinter der Frage der Schweinehaltung steckt eine viel größere. Herr Küntzle, die Kern­aus­sage Ihres Buches lau­tet, die Ab­schaf­fung der inten­si­ven Land­wirt­schaft wäre Selbst­mord für die Mensch­heit. Warum das?

Küntzle: Jahrtausendelang konnten Menschen mehr Nahrungs­mit­tel nur er­zeu­gen, in­dem sie mehr Flächen in Be­wirt­schaf­tung na­hmen. Also Wälder ro­de­ten, Feucht­ge­biete trocken­leg­ten, Savan­nen um­pflüg­ten. Erst in der mo­der­nen Land­wirt­schaft ist es den Men­schen ge­lun­gen, pro Fläche deut­lich mehr zu ern­ten. Für eine Ton­ne Wei­zen brau­chen wir heute viel weni­ger Flä­chen als frü­her. Und wenn die Welt­be­völ­ke­rung mas­siv wächst und mit wach­sen­dem Wohl­stand wahr­schein­lich mehr Men­schen Fleisch kon­su­mie­ren wer­den, dann geht das ein­fach nicht ohne Pflanzen­schutz­mit­tel und syn­the­ti­schen Stick­stoff­dün­ger. Ohne die­sen wäre die Hälf­te der Mensch­heit gar nicht am Leben.

Herr Krön, Ihr Einwand?

Krön: Die historische Analyse halte ich für komplett richtig. Aller­dings ver­ur­sacht die inten­si­vierte Land­wirt­schaft auch viele Pro­bleme, Stich­wort Insek­ten­ster­ben. Und die Fra­ge, wie viel Nah­rung wir brau­chen, ist auch eine Frage des­sen, was wir es­sen. Wenn welt­weit alle so viel Fleisch es­sen wie die Öster­rei­cher, dann brau­chen wir selbst mit einer sehr inten­si­vier­ten Land­wirt­schaft noch mehr Flä­chen. Ich finde es aber gut, dass Herrn Küntzles Buch er­schie­nen ist, weil wir mehr De­bat­ten über die Land­wirt­schaft brau­chen. Viele Öster­rei­cher, auch viele In­tel­lek­tuel­le, sind stolz da­rauf, wenn sie da­von nichts ver­ste­hen. Ich war selbst so ei­ner: Ich kom­me aus einer Stadt­fa­mi­lie, habe ein huma­nis­ti­sches Gym­na­sium be­sucht, und frü­her hat mich das Thema über­haupt nicht inter­es­siert.

Die EU-Kommission will nun mit ihrem Green Deal den Einsatz von Pesti­ziden hal­bie­ren, Anti­bio­ti­ka und Dün­ge­mit­tel re­du­zie­ren und die Bio­land­wirt­schaft kräf­tig aus­bauen. Ist das eine gute oder eine schlechte Nach­richt?

Küntzle: Das Ziel ist auf jeden Fall richtig. Ich ver­gleiche es gern mit Medi­ka­men­ten. Es ist gut, wenn ich mög­lichst wenig da­von brau­che. Schlecht wäre aber, wenn ich nicht da­rauf zu­rück­grei­fen könnte. Ähn­lich ist es mit Pflan­zen­schutz­mit­teln. Natür­lich wäre es für die Na­tur am bes­ten, wir wür­den gar keine ein­set­zen. Das steht völ­lig außer Fra­ge. Weil die­se Mit­tel da­zu ge­macht sind, Or­ga­nis­men ab­zu­tö­ten, übri­gens auch die bio­kon­for­men Wirk­stof­fe. Aber wenn die­se Ini­tia­tive da­zu führt, dass man in Euro­pa weni­ger pro­du­zie­ren kann und da­für anders­wo in der Welt mehr Wald ge­ro­det wer­den muss und wir die feh­len­den Pro­dukt­men­gen wie­der im­por­tie­ren, dann ist für nie­man­den et­was ge­won­nen. Wenn, dann muss man es mit Ver­stand ma­chen. Und da wäre die Neue Gen­tech­nik eine Mög­lich­keit, Pesti­zide zu re­du­zieren.

Krön: Derzeit werden zwei Drittel der landwirtschaftlichen Flächen für die Pro­duk­tion von Tie­ren ver­wendet. Wür­den wir unse­re Er­näh­rungs­ge­wohn­hei­ten so än­dern, wie es die Ärzte em­pfeh­len, näm­lich nur ein Drit­tel des Flei­sches und der tieri­schen Pro­duk­te ge­gen­über dem heu­ti­gen Kon­sum es­sen, könnten wir mehr Platz für Insek­ten schaf­fen, mehr Blüh­strei­fen und Hecken, Tüm­pel und Moore. Wir könnten al­les auf Bio um­stel­len. Und Bio ist nicht im­mer weni­ger ef­fi­zient. Die öster­rei­chi­schen Bio­land­wirte ha­ben zum Bei­spiel beim Soja die glei­chen Er­träge wie die kon­ven­tio­nellen.

Küntzle: Sieben Prozent weniger laut einer Studie der Boku (Univer­sität für Boden­kul­tur in Wien, Anm.). Und im Schnitt ha­ben wir in der Bio­land­wirt­schaft 20 bis 30 Pro­zent ge­rin­gere Er­träge. Für die­sel­ben Er­trä­ge brau­chen wir also 30 Pro­zent mehr Flä­che. Das ist sehr, sehr viel. Auf die­ser Flä­che könnte ich auch einen Wald wach­sen las­sen, der ist fürs Klima viel wert­vol­ler als das schönste Biofeld.

Krön: Herr Küntzle, Sie haben einen sehr statischen Blick auf die Welt.

Küntzle: Nein, gar nicht.

Krön: Weltweit gesehen sind 80 Prozent der Bio­land­wirte erst in den letz­ten zehn Jah­ren um­ge­stie­gen. In vie­len Ge­bie­ten der Welt ist Bio et­was Neues. Ich bin sehr viel in Un­garn, Rumä­nien, Ser­bien unter­wegs, da lie­gen die Bio­an­teile bei etwa ei­nem hal­ben Prozent. Da ist ein irr­sin­ni­ger Lern­pro­zess im Gange. Das dau­ert eben zehn Jahre, aber die Bio­bauern wer­den bes­ser. Der Ab­stand zwi­schen kon­ven­tio­nell und bio sinkt.

Herr Küntzle, müssen der Konsum tierischer Lebensmittel und die Lebens­mit­tel­ver­schwen­dung nicht so­wie­so sin­ken, weil wir sonst wirk­lich kei­ne zehn Mil­liar­den Men­schen er­näh­ren können?

Küntzle: Dass wir global weniger Fleisch essen sollten, ist voll­kom­men rich­tig. Nur: Die Pfeile zei­gen in die ande­re Rich­tung. In China sind in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehnten bis zu 300 Mil­lio­nen Men­schen aus der Ar­mut in die Mit­tel­schicht auf­ge­stie­gen, und über­all, wo die Men­schen zum Glück mehr Wohl­stand er­fah­ren, kon­su­mie­ren sie auch mehr tieri­sche Pro­dukte. Ich kann mir na­tür­lich das Ge­gen­teil wün­schen, aber: Die Welt ist ein­fach kein Wünsch-dir-was.

Krön: Allerdings essen wir auch deswegen so viel Fleisch, weil es so bil­lig ist. Ich bin jetzt 53 Jahre alt, und seit mei­ner Ge­burt kos­tet das Schnit­zel in Öster­reich gleich viel. Wäh­rend das Brot um 800 Pro­zent teu­rer ge­wor­den ist und das Ge­müse um 500 Pro­zent. Wir sub­ven­tio­nie­ren die Land­wirte da­für, dass sie bil­li­ges Ge­trei­de und Mais er­zeu­gen, die dann den Tieren ver­füt­tert wer­den. Fleisch ist also das höchst­sub­ven­tio­nier­te Pro­dukt in Europa.

Herr Krön, Sie glauben sogar, dass Peak Meat bald bevorsteht, also der Zeit­punkt, ab dem der glo­ba­le Fleisch­kon­sum sin­ken wird. Was macht Sie so opti­mis­tisch?

Krön: Es wird hauptsächlich aus ethischen Gründen dazu kom­men. Lange Zeit ha­ben wir große Land­gü­ter mit Skla­ven be­trie­ben. Ohne Skla­ven, hieß es, kön­ne man die Welt nicht er­näh­ren. Im 18. Jahr­hun­dert hat man da­rü­ber zu dis­ku­tie­ren be­gon­nen, Euro­pa hat Pro­dukte aus Skla­ven­hal­tung boy­kot­tiert. Man führte eine zer­ti­fi­zier­te Skla­ven­hal­tung ein: ein Skla­ve weni­ger pro Zim­mer. Reli­giö­se Be­treu­ung, ein Tag Aus­gang pro Wo­che. Es gibt da al­so große Pa­ral­le­len zum Tier­schutz. Ich ver­glei­che be­wusst nicht die Tier­hal­tung mit der Skla­ven­hal­tung, aber schon ein­mal ha­ben rein ethi­sche Gründe die Land­wirt­schaft mas­siv ver­än­dert. Und jetzt ste­hen wir am Be­ginn einer Ent­wick­lung, in der Tiere Per­so­nen­rechte be­kom­men. Schon gibt es Dis­kus­sio­nen, ob Schim­pan­sen Sach­wal­ter be­kom­men sollen.

Aber was ist mit der Tendenz, dass global gesehen Menschen mit zu­neh­men­dem Wohl­stand mehr Fleisch essen?

Krön: Das ist nicht zwingend so. Sprechen Sie heute mit jungen Men­schen, ganz vie­le fin­den, dass man Tiere nicht mehr ein­fach nut­zen und tö­ten darf. Meine Frau stammt aus China, dort fin­det die glei­che Ent­wick­lung statt. Die rei­chen Ja­pa­ner neh­men nur ein Zehn­tel ihrer Kalo­rien aus tieri­schen Pro­dukten zu sich.

Kommen wir zum Streitthema Pestizide. Herr Küntzle, Sie brechen eine Lanze für Glyphosat. Warum?

Küntzle: Es ist natürlich einfach zu sagen, ich will das nicht, weg damit. Aber dann muss ich auch sa­gen, wie ich es er­set­zen kann. Bei­spiel ÖBB: Die ha­ben sich groß auf die Fah­nen ge­schrie­ben, kein Glypho­sat mehr zu ver­wen­den. We­gen der Sicher­heit des Fahr­be­triebs müs­sen sie ihre Gleis­an­lagen frei von Be­wuchs hal­ten. Aber jetzt ver­wen­den sie ein­fach vier ande­re Herbi­zide, von de­nen zu­min­dest eines akut toxi­scher ist als Glypho­sat. Was ist damit gewonnen?

Ist Glyphosat also doch das kleinere Übel, Herr Krön?

Krön: Glyphosat ist zwar besser als andere Mittel, die vorher ge­spritzt wur­den. Aber es ist ein Total­herbi­zid, es tö­tet al­le Pflan­zen mit Aus­nahme derer, die spezi­fisch da­ge­gen resis­tent sind. Und ich habe viele Freunde in Ar­gen­ti­nien und Brasi­lien, dort kann man nach 30 Jah­ren die Pro­bleme gut beo­bachten.

Welche?

Krön: Der Glyphosatverbrauch pro Hektar ist massiv gestiegen. Die Ver­spre­chun­gen der Gen­tech­nik, den Pesti­zid­ver­brauch zu re­du­zie­ren, ha­ben also nur am An­fang ge­stimmt. Vie­le Un­kräu­ter kön­nen mit Glypho­sat nicht mehr be­kämpft wer­den, weil sie resis­tent ge­worden sind.

Herr Küntzle, Sie werfen NGOs und Medien vor, dass sie schwarz-weiß malen. Aber nei­gen Sie nicht selbst zur Pole­mik, wenn Sie schrei­ben, Kof­fe­in sei 13-mal gif­ti­ger als Glypho­sat? Wenn ein Insekt den Kaf­fee­strauch an­knab­bert, er­klä­ren Sie, tö­tet oder lähmt das Kof­fein das Insekt.

Und die Dosis, die im Tierversuch die Hälfte der Tiere tötet, sei beim Glypho­sat 13-mal hö­her als beim Kof­fein. Aber was hat das eine mit dem ande­ren zu tun?

Küntzle: Dieser Vergleich soll veranschaulichen, dass Glypho­sat nicht das Hor­ror­gift ist, als das es oft be­zeich­net wird. Natür­lich ver­ein­fache ich auch, ein Buch ist keine wis­sen­schaft­li­che Ab­hand­lung. Aber dass ich dif­fe­ren­zier­ter unter­wegs bin als manche NGO, kann ich guten Ge­wis­sens be­haup­ten. Denn im Gegen­satz zu den NGOs, die gene­rell Pesti­zide ver­bie­ten wol­len und Gen­tech­nik als schlecht em­pfin­den, zeige ich die Vor-und Nach­teile der Dinge auf.

Laut Weltgesundheitsorganisation ist Glyphosat wahr­schein­lich krebs­er­regend.

Küntzle: Alle Zulassungsbehörden der Welt haben gesagt, dass es bei ordnungs­ge­mäßer An­wen­dung nicht krebs­er­regend ist.

Wobei etliche Forscher kritisieren, die von den Herstellern eingebrachten Studien wür­den die wis­sen­schaft­li­chen Kri­te­rien nicht er­fül­len. Und wenn wir auf die Öko­lo­gie schauen: Es birgt doch of­fen­sicht­lich hohe Risi­ken, wenn Pesti­zi­de, also Mit­tel, die Orga­nis­men tö­ten, in die Um­welt aus­ge­bracht wer­den, dann in Bö­den und Ge­wäs­sern auf­tau­chen und in Wechsel­wir­kung zu­einan­der treten.

Küntzle: Die EU-Behörden kontrollieren, wie in der Medizin, die Ein­hal­tung wis­sen­schaft­li­cher Kri­te­rien. Risi­ken gibt es über­all im Leben.

Aber manches muss sein und manches nicht.

Küntzle: Dass Pflanzenschutzmittel sein müssen, kann ich al­lein an der Tat­sache ab­le­sen, dass im Jahr 2020 43 Pro­zent al­ler in Öster­reich ver­kauf­ten Wirk­stof­fe bio­kon­form wa­ren. Das ist auch so eine Ge­schichte, die mich mas­siv stört: Nahe­zu je­den Tag finde ich Be­richte, in de­nen be­haup­tet wird, in der Bio­land­wirt­schaft wür­den keine Pesti­zide ein­ge­setzt. Das ist schlicht und er­grei­fend nicht wahr.

Krön: Das heißt aber nicht, dass 43 Prozent aller Pestizide in der Bio­land­wirt­schaft aus­ge­bracht werden.

Küntzle: Das habe ich auch nicht gesagt.

Krön: Und in der Biolandwirtschaft werden deutlich weniger Mittel, ge­rin­gere Men­gen und deut­lich weni­ger ge­fähr­liche Mit­tel ein­ge­setzt.

Küntzle: Im Obst-und Gemüsebau fahren die Landwirte zum Teil sogar öf­ter mit der Spritze raus. Kupfer zum Bei­spiel, ein weit­ver­brei­te­tes Bio­pesti­zid, muss ich im­mer wie­der neu aus­brin­gen, weil es der Re­gen aus­wäscht. Und dieses Mit­tel schä­digt wie Glypho­sat Was­ser­orga­nismen.

In Summe gelten aber die chemischsynthetischen Pestizide, die in der kon­ven­tio­nel­len Land­wirt­schaft zu­ge­las­sen sind, als schäd­li­cher als die für den Bio­land­bau zu­ge­las­se­nen. Das sagt auch Johann Zaller, Zoolo­gie-Pro­fes­sor und Pesti­zid­ex­per­te an der Boku: Von 389 Wirk­stof­fen, die er ana­ly­siert hat, seien 22 hoch­toxisch für den Men­schen. Kei­nes da­von sei ein Biomittel.

Küntzle: Es mag ja sein, dass konventionelle Pestizide zum Teil toxi­scher sind als Bio­pesti­zide. Tat­sache ist: Auch bei den kon­ven­tio­nell er­zeug­ten Pro­duk­ten lie­gen die Kon­zen­tra­tio­nen weit unter je­dem Ge­fahren­po­ten­zial. Dass wir nicht alle schlei­chend ver­gif­tet wer­den, be­weist doch schon die Tat­sache, dass wir im­mer äl­ter werden.

Krön: Wobei die Lebenserwartung in Österreich sinkt.

Küntzle: Weltweit gesehen steigt sie.

Herr Krön, bei Donau Soja müssen die Bauern ohne Gentechnik aus­kommen. Wa­rum ist Ihnen das so wichtig?

Krön: Weil die Bevölkerung in Europa massiv gegen Gen­tech­nik ist. Und laut der Sta­tis­tik der UN-Er­näh­rungs­organi­sa­tion FAO ha­ben die öster­rei­chi­schen Land­wirte zum Bei­spiel beim Soja die glei­chen Er­träge wie Land­wirte in Bra­si­lien oder den USA. Ob­wohl die­se Gen­tech­nik einsetzen.

Sie lehnen den Einsatz von Gentechnik in der Landwirt­schaft nicht prin­zi­piell ab?

Krön: Na ja, ich bin mit gentechnisch veränderten Impfstoffen geimpft. Es wäre Blöd­sinn, eine Techno­lo­gie zu ver­dam­men. Aber Gen­tech­nik führt sehr oft dazu, dass an den Stand­ort nicht an­ge­passte Pflan­zen an­ge­baut wer­den. Ob die Grüne Gen­tech­nik ihre Ver­spre­chun­gen in Zu­kunft er­füllt, kann man noch nicht sagen. In den letz­ten 30, 40 Jah­ren hat sie sie nicht er­füllt. Es wur­de eine deut­li­che Re­duk­tion des Pes­ti­zid­ein­sat­zes ver­sprochen.

Küntzle: Die ist sehr wohl erfolgt. Dass die Versprechen nicht ein­ge­hal­ten wur­den, ist so ein Steh­satz der NGOs, der den Fak­ten kom­plett wider­spricht. Es gibt eine Meta­ana­lyse über cir­ca 140 Einzel­stu­dien aus Deutsch­land, finan­ziert vom deut­schen Ent­wicklungs­hilfe­minis­te­rium und der EU. Er­geb­nis: Über alle Gen­technik­sor­ten ist der Pesti­zid­ein­satz um 37 Pro­zent ge­sunken. Der Er­trag hat sich um 22 Pro­zent er­höht, und die Ein­kom­men der Land­wirte sind ge­stie­gen. Ne­ben der Herbi­zid­resis­tenz gibt es ja auch die BT-Techno­lo­gie. Sie führt da­zu, dass die Pflanze ein Insekti­zid selbst pro­du­ziert; es braucht also nicht mehr aus­ge­bracht zu wer­den und schadet nur je­nen In­sek­ten, die die­se Pflanze an­knab­bern. Das nüt­zen etwa Baum­woll­bauern in Indien und Mais­bauern in den USA.

Krön: Viele Menschen haben das Gefühl, die Landwirtschaft sei zu weit ge­ga­ngen. Die Gen­technik ist ein Sym­bol da­für. Es gab ja Fort­schrit­te im Züch­tungs­be­reich, aber die las­sen sich nicht un­end­lich weiter­spin­nen. Bei Soja gibt es jetzt Sor­ten mit 50 Pro­zent Ei­weiß, frü­her waren es 38 Pro­zent. Irgend­wann ha­ben wir 70 Pro­zent, aber da sind dann keine ande­ren Nähr­stof­fe mehr drin.

Küntzle: Sie sagen zu Recht, die Leute haben das Gefühl, die Land­wirt­schaft sei zu weit ge­ga­ngen. Und das ist sie sicher auch an der einen oder ande­ren Stel­le. Aber so wich­tige Ent­schei­dun­gen dür­fen nicht allein auf Ge­fühl­en ba­sie­ren. Der Welt­klima­rat schreibt an mehre­ren Stel­len, dass die nach­hal­ti­ge Inten­si­vie­rung not­wen­dig ist. Und Gen­tech­nik ist ein Werk­zeug, um die Land­wirt­schaft nach­hal­tiger zu machen.

Herr Küntzle, wie werden unsere Supermärkte und Speisepläne in 50 Jahren aussehen?

Küntzle: In Europa wird vermutlich weniger Fleisch gegessen werden, kom­plett da­rauf ver­zich­ten werden wir aber nicht.

Werden Sie dann vielleicht Mehlwürmer und Schnecken essen?

Küntzle: Sag niemals nie. Wenn der Insektenburger schmeckt, warum nicht?

Herr Krön?

Krön: Die Niederländer, Dänen und Kanadier investieren gerade wie ver­rückt in pflanz­li­che Er­näh­rung. Da wer­den ganz neue, tolle Pro­duk­te kom­men. Bei uns schläft man da noch ein biss­chen. Ich sage jetzt vor­aus: In 50 Jah­ren wird in Öster­reich die Pro­duk­tion von Nutz­tie­ren ver­boten sein, und wir wer­den in der Kronen Zei­tung, so es sie noch gibt, oder im Falter Inse­rate se­hen: "Flie­gen Sie zum Gril­len nach Nami­bia, dort ist es noch erlaubt."

Posted by Wilfried Allé Thursday, June 27, 2024 8:22:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Natur Technik/Natur
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Landverstand 

Was wir über unser Essen wirklich wissen sollten

von Timo Küntzle

Verlag: Kremayr & Scheriau
ISBN: 9783218012904
Umfang: 336 Seiten
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Natur, Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 24.03.2022
Format Taschenbuch
Reihe: K&S Um/Welt
Preis: € 24,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags

„Wir Konsumenten blockieren ein nachhaltigeres globales Ernährungs­system, indem wir der Land­wirt­schaft einen Mühl­stein aus Vor­ur­teilen, Denk­ver­boten und wider­sprüch­li­chen Wün­schen um den Hals hängen.“
Über unser Essen und die Art und Weise seiner Her­stel­lung wurde nie emo­tio­naler und ver­bis­sener dis­ku­tiert als heute. Gleich­zei­tig ist die Zahl der Men­schen mit direk­tem Ein­blick in die Land­wirt­schaft auf einem his­to­ri­schen Tief­stand. Klar ist ledig­lich: Jedes Lebens­mit­tel soll makel­los und rund ums Jahr zu haben sein – aber bitte nach­haltig, regio­nal und bio. Kann das funk­tio­nieren? Natür­lich nicht, sagt Timo Küntzle. Der Jour­na­list und Land­wirt­sohn sieht genau hin, um mit roman­ti­sie­ren­den und ver­teu­felnden Vor­ur­teilen auf­zu­räumen. Welche Rolle spielt Land­wirt­schaft beim Klima­wan­del? Ist „bio für alle“ rea­lis­tisch? Wie schäd­lich sind Glypho­sat und andere Pes­ti­zi­de tat­säch­lich, was sind die Alter­na­tiven? Und nicht zu­letzt: Ist unsere Angst vor Gen­tech­nik auf dem Tel­ler be­rech­tigt, war unser Es­sen in der „guten alten Zeit“ wirk­lich bes­ser? Die Ant­wor­ten sind nicht im­mer ein­fach. Aber zwei­mal hin­se­hen lohnt sich. Nicht nur, weil es um unser täg­lich Brot geht, son­dern auch, weil etwas mehr Land­ver­stand uns allen gut­täte.

FALTER-Rezension

Maria Motter in Falter 27/2022 vom 08.07.2022 (S. 43)

Posted by Wilfried Allé Saturday, July 9, 2022 10:58:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Natur Technik/Natur
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aprés lift 

49 Skitouren auf EX-Bahn-Berge der Schweiz

von Daniel Anker

ISBN: 9783039130290
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Natur, Gesellschaft
Umfang: 220 Seiten
Format: Buch
Erscheinungsdatum: 01.01.2022
Verlag: AS Verlag
Preis: € 40,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Neu-alte Skitourenberge bekommt das Land. Wenn der (Kunst-)Schnee ausbleibt oder das Geld für die Renovation, dann stehen Liftanlagen plötzlich still. Und Hügel und Berge in der Schweiz werden wieder Ziele für Skifahrer und Snowboarderinnen, die aus eigener Kraft in die Höhe kommen. Auf 55 Gipfel in den Schweizer Bergen führten einst – manchmal bis ganz zuoberst – Ski- und Sessellifte, aber auch Gondel- und Seilbahnen. Die Vergangenheitsform ist richtig: Die Anlagen waren mehrheitlich nur in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Betrieb. Nun laufen sie nimmer, und die Schneesportler, die mit Fellen an den Brettern hochsteigen, haben die weissen Hänge wieder für sich allein. Die meisten Lifte wurden mangels Nachfrage und Schneefall sowie wegen anderen Gründen stillgelegt. Und dann rückgebaut, teilweise wenigstens. Manchmal ist alles noch da, die Bügel und die Kabinen, die Masten und die Stationen, nur die Leute in Pistenskischuhen fehlen. Manchmal sieht man aber kaum noch was im Gelände. Vielleicht noch ein kleines Holzhäuschen, hier der Betonsockel eines Masten, drüben eine Ausbesserung im Gelände, da ein Schild.
Genau: Die Lifte sind weg (oder fahren wenigstens nicht mehr), die Erinnerungen blieben. Und neue Möglichkeiten im Tourenskilauf kommen hinzu bzw. werden wieder wahr. Oft waren diese besonderen Gipfel, bevor sie mit Liften erschlossen wurden, ja schon Ziele von Tourengängern. Denn eines ist sicher: Anhöhen, auf die Aufstiegshilfen gebaut wurden, eignen sich grundsätzlich gut zum Abfahren.
Bereits werden nicht mehr laufende, verlassene und verlorene Skigebiete wissenschaftlich untersucht. Die Forscher haben auch schon einen Begriff kreiert: Lost Ski Area Projects – LSAP. Mehr noch: Das Buch dazu ist ebenfalls schon auf der Piste bzw. im Programm des AS Verlages: „Letzte Bergfahrt. Aufgegebene Skigebiete und ihre touristische Neuausrichtung“ von Matthias Heise und Christoph Schuck. Der Skitourenführer zu 48 Ex-Bahn-Bergen ist sozusagen der Praxisteil zur letzten Bergfahrt. Sicher wie grüne Weihnachten im Mittelland wird die Zahl der LSAP zunehmen. Die einen freut‘s, die andern reut‘s. Und umgekehrt.
Anders gesagt: Aus dem Après Ski ist Après Lift geworden.

Posted by Wilfried Allé Thursday, December 16, 2021 11:07:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Natur Technik/Natur
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