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günstige intelligenz 

hybride poetik und poetologie

von Jörg Piringer

ISBN: 9783854156505
Verlag: Ritter Klagenfurt
Format: Buch
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 13.10.2022
Preis: € 27,00
Kurzbeschreibung des Verlags:

Jörg Piringer investierte 5,60 Euro in einen Online-Dienst, um die Leistungs­fähig­keit des neuro­nalen Netz­werks gene­ra­tive pre­trained trans­former (GPT in der Ver­sion Nr. 3) mit di­ver­sen Schreib­auf­trägen zu tes­ten. Die Er­geb­nis­se die­ses wohl­feilen Ex­peri­ments doku­men­tiert der vor­lie­gende Band. Ge­dichte nach be­stimmten Vor­gaben oder ein gan­zer Kata­log von Trans­for­ma­tionen eines vor­ge­ge­be­nen Ge­dichts in einen Ge­setze­stext, ein Gebet, einen Wiki­pae­dia-Ar­tikel, in einen Glücks­keks­spruch oder einen Donald-Trump-Tweet be­zeu­gen die Stil­sicher­heit der Künst­lichen Intel­li­genz, die Piringer auch einem Intelli­genz­test (Sprach­kom­pe­tenz­auf­gaben) unter­zieht, bei dem diese aller­dings mit einem unter­durch­schnitt­lichen Er­geb­nis ab­schneidet. Piringer setzt die von GPT-3 er­stell­ten Poesie-Doku­mente in Be­zie­hungen zu his­to­ri­schen, ana­logen Kombi­na­to­ri­ken oder den Her­vor­brin­gungen von Schizo­phrenen und macht Dif­ferenz­kri­terien sicht­bar zwi­schen „ins­pi­rier­ter“ Pro­duk­tion ge­gen­über jener der Pro­gramm­rou­tine, der die Fähig­keit, „Wort­witz“ und se­man­ti­sche Dop­pel­bö­dig­keit zu „ver­ar­beiten“, voll­ends fehlt.
Vorzüge des nicht computerunterstützten Schreibens bringt Piringer umso be­herz­ter in sei­nen genu­inen Ge­dich­ten wie dich­te­risch-essay­is­tischen Re­flexi­onen zur Gel­tung: Mit la­ko­ni­schen Poin­ten be­spricht er die Insel­be­gabung der Ma­schine, Pro­bleme des im­men­sen tech­ni­schen und öko­no­mi­schen Auf­wands beim Trai­nieren von Neuro­na­len Netz­wer­ken so­wie der Defi­ni­tions­macht in Bezug auf Al­go­rithmen und nicht zu­letzt die tief­grei­fen­den so­zi­alen Im­pli­ka­tio­nen der KI-Poe­sie für den Autor als Re­dak­teur und „Maus­klicker“.
Jörg Piringers günstige intelligenz ist ein geist­reicher und unter­halt­samer Zwi­schen­be­richt über den Stand com­puter­fabri­zier­ter Dich­tung heute, die in punkto äs­the­ti­sche Kom­plexi­tät und Inno­va­tion so­wie in­halt­liche Subs­tanz der human­gene­rier­ten Lite­ra­tur nach wie vor – in durch­aus be­ruhi­gen­dem Ab­stand – hinter­her­hinkt.

FALTER-Rezension

Dominika Meindl in FALTER 8/2023 vom 24.02.2023 (S. 32)

Bots spuckten früher unfreiwillig komische Texte aus. Dann fuhr ChatGPT wie ein Sturm ins Feuil­leton. Schon zuvor hat der Wiener Daten­poet Jörg Piringer sein lite­ra­ri­sches Spiel mit künst­li­cher Intelli­genz ver­öffent­licht. Für 5,60 Dollar kaufte er sich eine frühe Ver­sion des Chat­bots. Er füt­ter­te ihn mit der An­wei­sung, ein Ge­dicht im Stil Trumps, Handkes oder eines Glücks­keks­spruchs zu schrei­ben. Die Er­geb­nis­se sind oft er­schreckend ge­lungen.

Sein Buch stellt große Fragen nach Autorschaft, Kreativität, Bewusst­sein und Macht. Denn welche Kon­zerne trai­nieren die Pro­gram­me? Der Autor hat 2020 die Jury des Bach­mann-Wett­be­werbs mit der Frage ver­un­sichert, ob nicht eine künst­liche Intelli­genz Ver­fas­serin sei­nes Bei­trags sei. Wüsste eine KI-Re­zen­sion Pirin­gers Witz und Sprach­ver­ständ­nis wohl zu würdigen?

Posted by Wilfried Allé Tuesday, March 21, 2023 9:12:00 AM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Salonfähig 

Roman

von Elias Hirschl

ISBN: 9783552072480
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 23.08.2021
Verlag: Zsolnay, Paul
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was, wenn man sich ein perfektes Leben wie eine zweite Haut über­ziehen könnte? Will­kommen bei Austrian Psycho
Stundenlang übt er vor dem Spie­gel seinen Gang, sein Lächeln, seine Art zu sprechen. Julius Varga, der Partei­chef, ist das ganz große Idol des namen­losen Er­zäh­lers. „Ich gebe mich für dich auf, Julius. Ich liebe dich.“ In seiner Ab­wesen­heit gießt er seine Zimmer­pflan­zen, als ob dies ein Staats­akt wäre. Auf einer unteren Ebene dient der Er­zähler der Par­tei und eifert seinem Vor­bild nach. Er ist be­ses­sen von Mar­ken und Äußer­lich­keiten und der Äs­the­tik von Ter­ror­an­schlä­gen. Elias Hirschls neuer Ro­man ist ein großer Wurf und ein Ver­gnü­gen. Das wahn­wit­zige Por­trät der Gene­ra­tion Slim Fit: jung, schön, in­tel­li­gent, reich, ober­fläch­lich und brand­ge­fähr­lich.

3 Fragen von Bettina Wörgötter an Elias Hirschl

Herr Hirschl, was fasziniert Sie an der Generation Slim Fit, die Sie in Ihrem Roman "Salonfähig" porträtieren?

Die Generation der Slim-Fit-Politiker drückt für mich eine Art Zu­spit­zung und Per­fek­tio­nie­rung der po­li­ti­schen Rhe­to­rik aus. Ich stell mir das gern wie beim Ski­sprin­gen vor, wo zu Be­ginn noch ver­schie­den­ste Sprung­tech­ni­ken aus­pro­biert wor­den sind, da wurde mit den Armen ge­ru­dert, an­ge­legt, ab­ge­spreizt, bis sich schließlich eine einzige Sprungtechnik durchgesetzt hat, die dann nur noch verfeinert und perfektioniert wurde. Wie beim Skispringen werden die politischen Pro­ta­go­nis­ten im­mer jün­ger, ihre Kampf­an­züge werden im­mer aero­dy­nami­scher und ihre Aus­drucks­weise ver­engt sich auf einen sehr spezi­fi­schen, schma­len Rhe­to­rik­stil der völ­lig ent­leerten Phrasen­dre­sche­rei, durch den jedes echte Ge­spräch schon im An­satz ver­hin­dert wird. Und die Tat­sache, dass letzt­end­lich keine poli­tisch inter­es­sier­ten Men­schen an der Spitze lan­den, son­dern nur noch die­je­ni­gen, die die­sen spezi­fi­schen Stil der leeren Rede am besten be­herr­schen, die keine ein­zige inter­essante Idee her­vor­brin­gen, aber die Kunst der Be­we­gung per­fek­tion­iert ha­ben, fas­zi­niert mich und macht mir auch ziem­liche Angst. Da fehlen im Grunde nur noch die Spon­soren­logos auf der Kra­watte.

Was fasziniert Sie an Maskulinität?

Im Buch wird toxische Männlichkeit auf ver­schie­dene Ar­ten ge­schil­dert. Vor allem die hie­rar­chi­schen Struk­turen in der Jungen Mitte und der Mut­ter­par­tei Mitte Öster­reichs sind stark pa­tri­ar­chal ge­prägt. Mich fas­zi­niert hier vor allem die­ses in­trin­sische Leis­tungs­den­ken, das je­den As­pekt der neo­libe­ra­len Po­li­tik durch­zieht. Der Mensch ist nur dann etwas wert, wenn er etwas aus ei­ge­nem An­trieb schaf­fen kann. Jeder Mensch de­fi­niert sich nur durch die ihm zu­ge­wie­sene Rolle, je­der be­misst seinen ei­ge­nen Selbst­wert an dem, was er leis­tet. Da­durch ent­frem­den sich alle Fi­gu­ren von­ei­nan­der, weil es nicht mehr um den Men­schen geht, son­dern nur noch da­rum, was man von einem Men­schen be­kom­men kann, wel­che Po­si­tio­nen, Kon­takte oder fi­nan­ziel­len Mit­tel man von je­man­dem be­kom­men kann. Damit ein­her geht auch die fal­sche Prä­mis­se, alle Men­schen hät­ten die­sel­ben Start­be­din­gun­gen und seien für ihr Schick­sal selbst ver­ant­wort­lich, wo­durch sich als Macht­haber an­ge­nehm jede Ver­ant­wor­tung von sich wei­sen lässt. Mich fas­zi­niert vor allem auch, wie die­ser Leis­tungs­wahn, der ja dem an­geb­lichen christ­lich-so­zi­alen Leit­ge­dan­ken der Par­tei völ­lig zu­wider­läuft, schließ­lich in einer Art para­reli­gi­ösen, ri­tuel­len Ver­ehrung die­ses omi­nö­sen Kon­strukts der „Leis­tung“ mündet, als wäre sie eine Art Gott­heit, zu deren Zweck alles ge­schieht.

Was fasziniert Sie an Satire?

Satire widersetzt sich der For­de­rung, eine Auf­gabe er­fül­len zu müs­sen, denn Kunst und Sa­ti­re sind ja, wie wir dank Coro­na wis­sen, nicht system­re­le­vant. Aber das Gute da­ran, nicht sys­tem­re­le­vant zu sein, ist, dass man auch nicht an spezi­fi­sche Er­war­tungen ge­bun­den ist. Sa­tire kann daher alles Mög­liche tun. Und was Sa­tire her­vor­ragend tun kann, ist, ver­steckte Struk­turen, vor allem Macht­struk­turen sicht­bar zu machen, und diese auf eine Art zu ent­lar­ven, dass sie et­was von ihrem Schrecken ein­büßen, dass man zu­min­dest da­rüber lachen kann. Salonfähig ist auch der Versuch zu zeigen, was vom politischen Menschen übrig bleibt, wenn man den Menschen heraus­schält und nichts als die rhe­to­ri­sche Struk­tur zu­rück­bleibt, und was vom Leis­tungs­den­ken zu­rück­bleibt, wenn man diese Idee auf die Spitze treibt und den Wert ei­nes Men­schen tat­säch­lich nur noch an sei­ner Pro­duk­ti­vi­tät be­misst. In bei­den Fäl­len bleibt letzten Endes nichts zu­rück als eine rei­ne Pro­jek­tions­fläche, los­ge­löst von je­der Emo­tion und je­der Mensch­lich­keit, un­fähig zu Mit­ge­fühl, Inter­es­se oder ech­ter An­teil­nahme.

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 8:26:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Dunkelblum 

Roman

von Eva Menasse

ISBN: 9783462047905
Ausgabe: 8. Auflage
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 528 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 19.08.2021
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Preis: € 25,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Jeder schweigt von etwas anderem.
Auf den ersten Blick ist Dunkelblum eine Klein­stadt wie jede andere. Doch hin­ter der Fas­sade der öster­reichi­schen Ge­mein­de ver­birgt sich die Ge­schich­te eines furch­tba­ren Ver­bre­chens. Ihr Wis­sen um das Er­eig­nis ver­bin­det die äl­teren Dunkel­blumer seit Jahr­zehn­ten – ge­nau­so wie ihr Schwei­gen über Tat und Täter. In den Spät­som­mer­ta­gen des Jah­res 1989, wäh­rend hin­ter der nahe­ge­le­genen Gren­ze zu Un­garn be­reits Hun­der­te DDR-Flücht­lin­ge war­ten, trifft ein rät­sel­haf­ter Be­su­cher in der Stadt ein. Da ge­ra­ten die Din­ge plötz­lich in Be­we­gung: Auf einer Wiese am Stadt­rand wird ein Ske­lett aus­ge­gra­ben und eine jun­ge Frau ver­schwin­det. Wie in einem Spuk tau­chen Spu­ren des al­ten Ver­bre­chens auf – und kon­fron­tie­ren die Dunkel­blumer mit einer Ver­gan­gen­heit, die sie längst für er­le­digt hiel­ten. In ihrem neuen Ro­man ent­wirft Eva Menasse ein großes Ge­schichts­pa­no­ra­ma am Bei­spiel einer klei­nen Stadt, die im­mer wie­der zum Schau­platz der Welt­po­li­tik wird, und er­zählt vom Um­gang der Be­woh­ner mit einer his­to­ri­schen Schuld. »Dunkel­blum« ist ein schau­rig-ko­mi­sches Epos über die Wun­den in der Land­schaft und den Seelen der Men­schen, die, anders als die Er­inne­rung, nicht ver­gehen.
»Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Be­tei­lig­ten ge­mein­sam ge­wusst. Des­halb kriegt man sie nach­her nie mehr rich­tig zu­sam­men. Denn von je­nen, die ein Stück von ihr be­ses­sen ha­ben, sind dann im­mer gleich ein paar schon tot. Oder sie lü­gen, oder sie ha­ben ein schlech­tes Ge­dächt­nis.«

FALTER-Rezension

Durch die Grauzonen einer braunen Kleinstadt

Es gibt dieses Bonmot von Öster­reich als Punsch­krapfen­land. Es sei außen süß und rosa, in­nen drin feucht­braun und alko­hol­ge­tränkt. Es steht für Öster­reichs Um­gang mit sei­ner Nazi-Ver­gan­gen­heit, die man bis in die spä­ten 1980er-Jahre mit Alpen­kitsch ver­deckte. Man war doch das erste Opfer Hitler-Deutsch­lands und sonst un­schul­dig.

Das funktionierte, bis ein Bundes­prä­si­dent­schafts­kan­di­dat na­mens Kurt Wald­heim (ÖVP) in sei­nem Wahl­kampf über seine NS-Ver­gan­gen­heit stol­per­te, bes­ser ge­sagt: über sei­nen Um­gang damit. Er wollte sich nicht so recht er­in­nern, wie die meis­ten Kriegs­ve­te­ra­nen sei­ner Gene­ra­tion, und wur­de ge­nau des­wegen ge­wählt. Das Bild von der ge­schichts­ver­ges­senen Alpen­re­pu­blik lebt bis heute fort, vor allem in anglo­ameri­ka­nischen Medien.

Eva Menasses neuer, dritter und bislang um­fang­reichster Roman, „Dunkel­blum“, spielt in so einer Punsch­krapfen­stadt. Sie heißt, wie ihr Werk, „Dunkel­blum“ und liegt im Bur­gen­land. Es ist ein fik­ti­ver Schau­platz, zu­sam­men­ge­setzt aus vie­len Orten die­ser Ge­gend, in denen sich in den letz­ten Mo­na­ten des Zwei­ten Welt­kriegs so ge­nannte End­phasen­ver­bre­chen an Juden und Zwangs­ar­bei­tern er­eig­neten. Die Na­zis trie­ben sie auf ihrem Rück­zug vor der Roten Armee aus Un­garn Rich­tung Wes­ten. Wer noch ar­bei­ten konnte, musste Hit­lers Süd­ost­wall bauen. An­dere wurden mas­sa­kriert und er­mor­det.

Das bekannteste Verbrechen geschah in Rechnitz. Im März 1945 feier­ten Nazi-Bon­zen ein Fest im Schloss der Gra­fen­fa­mi­lie Batthyány, das in einem Mas­saker an 180 Men­schen en­de­te. Das Massen­grab wurde bis heute nicht ge­fun­den, ein Volks­ge­richts­ver­fahren in den Nach­kriegs­jahren blieb ohne Er­geb­nis. Das Mas­sa­ker von Rech­nitz wurde von His­to­ri­kern be­forscht sowie von Künst­lern fil­misch und li­te­ra­risch ver­ar­bei­tet, etwa in El­friede Jeli­neks Drama „Rechnitz (Der Würge­engel)“.

Ich wollte keinen Rechnitz-Roman schreiben“, sagt Eva Menasse. Aber na­tür­lich ist „Dunkel­blum“ eine Art Rech­nitz-Ro­man ge­wor­den. Me­nasse de­kli­niert nicht nur die klas­si­schen Anti-Hei­mat-Roman-The­men wie Ver­drän­gung, Schwei­gen, Schuld und Sühne an­hand ihrer fik­ti­ven Modell­stadt durch. Sie er­zählt auch die Um­brüche des Jahres 1989 mit: den Fall des Ei­ser­nen Vor­hangs, die Flucht der ers­ten DDR-Bür­ger über die grüne Grenze.

Dazu kommen auch noch das Motiv des zi­vi­len Auf­be­geh­rens und die Um­welt­be­we­gung. Die Dunkel­blumer wehren sich im Jahr 1989, in dem der Roman spielt, ge­gen eine neue Was­ser­ver­sor­gungs­an­lage. Fehlt bloß noch der Auf­stieg des da­ma­ligen FPÖ-Chefs Jörg Haider, denkt man sich kurz, aber die­se zeit­ge­schicht­liche Tan­gen­te er­spart sich Menasse.

Auch für die Autorin, Jahrgang 1970, war 1989 ein Schlüs­sel­jahr. Sie er­lebte als junge Jour­na­lis­tin im Pro­fil den Fall des Eiser­nen Vor­hanges mit. Mit Öster­reichs Ge­schichts­ver­ges­sen­heit wuchs sie ohne­hin auf. Über den Lon­do­ner Pro­zess ge­gen den Holo­caust­leug­ner David Irving schrieb sie einen viel­be­ach­teten Re­por­tage­band. Und wie schon in „Quasi­kri­stalle“, ihrem letz­ten Ro­man, nimmt Me­nas­se ver­schie­dene Er­zähl­per­spek­tiven ein, um eine These zu de­mons­trie­ren: Die eine Ge­schich­te gibt es nicht, es sind im­mer vie­le Er­zäh­lun­gen neben­ei­nan­der, die sich wider­spre­chen und in Kon­kur­renz zu­ei­nander ste­hen.

Wer sich im Lesefluss gerne an einer Pro­ta­go­nis­tin oder einem Pro­ta­go­nisten fest­hält, wird ent­täuscht. Wer gern tief in die Psyche und in das Be­ziehungs­ge­flecht von fik­ti­ven Cha­rak­teren ein­taucht, wer gerne in Ro­ma­nen ver­sinkt, die Zeit­ge­schichte bloß en pas­sant mit­er­zählen, wie sie bei­spiels­weise die ita­lienische Au­to­rin Fran­ces­ca Me­lan­dri schreibt, auch.

Menasse schafft eher ein literarisches Wimmel­bild mit einer Viel­zahl an possier­lich über­zeich­neten Fi­guren. So will sie Dunkel­blums kollek­ti­ves Ge­dächt­nis und Ge­wis­sen skiz­zie­ren, die Leer­stel­len die­ser in Ab­hän­gig­keiten und Ge­heim­nis­sen ver­schwo­re­nen Ge­mein­schaft. Dunkel­blums Be­woh­ner spie­len nicht die Haupt­rolle, sie sind nur Funk­tionen.

Wir lernen eine rebellierende Tochter aus besserem Haus kennen, die ge­mein­sam mit Stu­den­ten aus Wien den jü­di­schen Fried­hof Dunkel­blums res­tau­riert. Sie steht für die kri­ti­sche, junge Ge­ne­ra­tion, die will, dass sich die Vor­fahren mit den Ver­bre­chen der NS-Zeit kon­fron­tie­ren. Es gibt den alten Dorf-Nazi, der res­pek­tiert wird, weil er sei­ne alten Kon­takte stets für die Dorf­ge­mein­schaft ein­ge­setzt hat. Die re­so­lute Hotel­wir­tin, die als Zim­mer­mäd­chen unter den alten Ho­te­li­ers, Ju­den, an­fing und dann das Haus über­nahm. Dazu den Dorf­arzt, der sein Wis­sen über das da­ma­lige Mas­sa­ker mit in die Pen­sion nimmt. Einen jü­di­schen Greißler, der in seiner alten Heimat­stadt nach dem Krieg trotz allem neu an­ge­fangen hat.

Und einen geheimnisvollen Gast aus Übersee, der viele un­an­ge­nehme Fra­gen stellt und sich der Suche nach den Grä­bern der einst Er­mor­de­ten ver­schrie­ben hat. Ein Lage­plan des Ortes er­leich­tert die Orien­tie­rung. Es wird auf den über 500 Sei­ten mit­unter näm­lich ganz schön un­über­sicht­lich.

Zwischendurch nimmt Menasse die Haltung einer alt­klugen, sar­kas­ti­schen Stadt­schrei­berin ein. Sie spart nicht mit Dia­lekt­aus­drücken. Topfen­neger, Kri­spin­deln, Zniach­terln, Tschick, Tschop­perl, Tuchent: ein Glos­sar am Ende des Romans hilft Le­sen­den jen­seits des bay­erischen Sprach­raums beim De­chif­frie­ren der groß­zügig ein­ge­streu­ten Ösi-Folk­lore. Das deut­sche Feuil­le­ton lobte Me­nasses Kunst-Dunkel­blume­risch, man bekäme regel­recht „Dialekt­neid“, schrieb Die Zeit. Vor Ort liest es sich strecken­weise manie­riert.

Was bleibt? „Das ist nicht das Ende der Ge­schich­te“, lautet Menasses letz­ter Satz. Dunkel­blums Ge­heim­nis – was ge­schah in der Nacht des Mas­sa­kers an den jü­di­schen Zwangs­ar­bei­tern und wo liegt ihr Grab – bleibt ver­bor­gen. Unter den Schich­tungen des Er­in­nerns und dem Zucker­guss des Ver­drän­gens. Das ist durch­aus stim­mig. Eva Me­nasse hat Öster­reichs Ver­gan­gen­heits­po­li­tik ein wür­diges litera­ri­sches Denk­mal ge­setzt.

Barbaba Tóth in Falter 34/2021 vom 27.08.2021 (S. 28)

Posted by Wilfried Allé Sunday, December 5, 2021 1:05:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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30 Ideen für Europa 

Verlag: Czernin Verlag
Herausgeber: OeGfE (Österreichische Gesellschaft für Europapolitik)
Umfang: 144 Seiten
Genre: Politikwissenschaft/Politik, Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Erscheinungsdatum: 22.09.2021
ISBN - Buch: 978-3-7076-0749-9
Format - Buch: Hardcover
Preis - Buch: € 20,00
ISBN - e-Book:
978-3-7076-0750-5
Format - e-Book:
ePub
Preis - e-Book:
Euro 14,99

Wie geht es mit der Europäischen Union weiter? Wie werden die gesundheitspolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie bekämpft? Wer findet Antworten auf die Klimakrise und wie können die Chancen der Digitalisierung genutzt werden?

Ob Bildung, die globale Positionierung der Union oder die Gesundheitskrise: Die Europäische Union steht vor umfassenden Herausforderungen. Nicht nur der Umgang mit Migration und der Schutz der EU-Außengrenzen haben zu immer stärkeren Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten geführt. Auch die unterschiedliche Auslegung von Rechtsstaatlichkeit und Grundwerten macht deutlich: Es braucht dringend neue, gesamteuropäische Impulse.

»30 Ideen für Europa« versammelt spannende Kommentare von je 15 Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Fachrichtungen und Hintergründe, die ihre Vorstellungen für eine vielfältige Zukunft der EU skizzieren.

Mit Beiträgen von: Renate Anderl, Silvia Angelo, Elodie Arpa, Barbara Blaha, Mercedes Echerer, Teresa Eder, Edeltraud Hanappi-Egger, Sylvia Kritzinger, Hannah M. Lessing, Corinna Milborn, Katharina Rogenhofer, Margit Schratzenstaller, Christa Schweng, Nini Tsiklauri, Christa Wirthumer-Hoche sowie Helfried Carl, Vedran Džihić, Belached Gebrewold, Robert Holzmann, Wolfgang Katzian, Gerald Knaus, Michael Landau, Helmut Leopold, Harald Mahrer, Gerhard Mangott, Josef Moosbrugger, Hans Dietmar Schweisgut, Martin Selmayr & Werner Wutscher

Posted by Wilfried Allé Thursday, November 18, 2021 11:31:00 AM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945) Politikwissenschaft/Politik
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Schotter 

„Man wartet, dass die Zeit reif wird“

von Florjan Lipuš

Übersetzung: Johann Strutz
Verlag: Jung u. Jung
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 144 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.03.2019
Preis: € 20,00

 

Rezension aus FALTER 12/2019

„Man wartet, dass die Zeit reif wird“

Mit „Schotter“ ist Florjan Lipuš ein beklemmendes Werk über die Fruchtbarkeit des Vergangengeglaubten gelungen

Das erste Bild gilt dem Verschwinden des wichtigsten Menschen im Leben. Zu diesem kehren die Bücher des Kärntner Slowenen Florjan Lipuš immer wieder zurück. Als er sechs Jahre alt war, wurde seine Mutter 1944 vor seinen Augen abgeführt und später im KZ Ravensbrück ermordet. Ihr Vergehen: Sie hatte eine als Partisanen verkleidete Gruppe von Gestapo-Männern bewirtet.

Diese tiefe Wunde war es, die Lipuš zum Schreiben brachte. Sich in seinen Romanen der Sprache der Täter zu bedienen, kam für ihn nicht infrage. Um der Mutter trotzdem nahe sein zu können, entschied er sich für das Slowenische als Literatursprache. Er ist ihr bis heute treu geblieben. Das gilt auch für „Schotter“, ein Buch, das ohne den Verweis „Roman“ oder „Erzählung“ auskommt und im Original unter dem Titel „Gramoz“ bereits 2017 erschienen ist.

„Schotter“ folgt auf das fast schon zärtliche Alterswerk „Seelenruhig“. Von Zärtlichkeit ist hier indes keine Spur. In atemberaubender Prosa ergründet Lipuš die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Dorfes, die untrennbar zusammenhängen:

„Man wartet, dass die Zeit reif wird und der Nachbar wieder gegen den Nachbarn Anzeige erstatten wird, der Meister ohne Zögern den Gehilfen melden wird, der Bruder wieder auf den Bruder schießen wird und die Schwester die Schwester verraten wird, der Vater dem Sohn und der Großvater dem Enkel die Waffe in die Hände drücken wird und der Ehemann die Ehefrau persönlich auf den Richtplatz treiben wird.“

Der erste Schauplatz des Buches ist das Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers. „Gedächtnisgeher“ und „Ausflügler“ suchen hier nach den Spuren ihrer hingerichteten Vorfahren.

Sie finden sich am Boden, im Schotter zwischen den Baracken, wo die inhaftierten Frauen viele Stunden Appell stehen mussten. Auch zwei Enkelkinder machen sich auf den Weg, in der Hoffnung, ihre Großmutter werde ihnen erscheinen. Als die Besuchergruppe ins Dorf zurückkehrt, schlägt ihr eine kaum unterdrückte Feindseligkeit entgegen.

Mit „Schotter“ legt Lipuš einen atmosphärisch hochaufgeladenen Text vor, der seine Wirkung auch dem verdankt, was er alles nicht leistet. Es wird hier keine Geschichte erzählt, es sind – abgesehen von den Enkeln, die den Geist ihrer Großmutter aufspüren wollen – keine Figuren identifizierbar und es lässt sich auch nicht mit Gewissheit sagen, in welcher Zeit und an welchem Ort wir uns befinden, von welchem Konzentrationslager die Rede ist.

Wo Lipuš sonst zumeist konkret auf seine Herkunftsgegend Bezug nimmt, könnten wir uns in seinem jüngsten Werk im Grunde überall im deutschsprachigen Raum befinden ‒ überall dort, wo es Dörfer gibt, wo die Kirche noch über einigen Einfluss verfügt, die Leute alte Waffen und Uniformen im Kasten versteckt haben und auf den Tag warten, an dem sie diese wieder hervorholen können.

Altersradikalität ist wohl das falsche Wort für die Haltung, die Florian Lipuš hier an den Tag legt, Altersklarheit trifft es besser. „Das Mördergeschlecht kam nicht aus der Hölle gekrochen“, heißt es einmal, „wurde nicht aus giftigem Ungeziefergewimmel geboren […]. Das Mördergeschlecht waren die gestern noch freundlichen Verwandten, die langjährigen Bekannten und Genossen, die Verliebten, die Wohltäter und Freunde, die Gelehrten und Geschulten, mit den akademischen Titeln, die Männer und Frauen mit Eigenschaften und ohne Eigenschaften, die auffälligen und die unauffälligen Gemeindebürger, die bisher mit nichts Bösem Aufmerksamkeit erregten. Es waren nicht die Wilden, aber sie wurden zu Wilden, als sich ihnen Gelegenheit dazu bot.“

Das galt gestern und das gilt für Lipuš heute wie morgen. Der Kärntner Slowene, der 2018 mit dem Großen Staatspreis für österreichische Literatur ausgezeichnet wurde, legt ein schmales Buch von großer Sprengkraft vor. Man kann es nur langsam lesen, weil einem bei der Lektüre immer wieder angst und bange wird.

Sebastian Fasthuber in FALTER 12/2019 vom 22.03.2019 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 20, 2019 1:11:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Internat 

Roman von Serhij Zhadan

In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt.

Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn „geparkt“ hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.
Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft. Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. Zhadan lebt in Charkiw.

Preis: € 22,70
Übersetzung: Juri Durkot
Übersetzung: Sabine Stöhr
Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 300 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.03.2018

Rezension aus FALTER 11/2018

Wenn nichts mehr so ist, wie es war

Serhij Zhadan erzählt vom Krieg in der Ukraine aus der Perspektive jener, die zwischen die Fronten gerieten

Wenn Menschen ums Leben kommen, Städte brennen, Tausende ihr Zuhause hinter sich lassen und fliehen müssen, dann ist es auch mit dem Alltag des Schriftstellers vorbei. Das sagte der ostukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan angesichts des Krieges zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten im Donbass vor vier Jahren in einem Interview mit Spiegel online. „Wir alle sind heute in einer Situation, in der es gilt, das Wichtigste zu behaupten: das Recht auf Freiheit, das Recht auf unseren souveränen Staat, das Recht auf unsere Zukunft. Ob man darüber schreiben kann? Man kann nicht, man muss.“
Als Sänger einer Band ist Zhadan in den letzten Jahren immer wieder in den Donbass gereist, um Konzerte zu geben und Hilfsmittel dorthin zu transportieren. Seine Texte sind von anschaulicher Direktheit, seine Beobachtungen von lakonischer Präzision. „Jeder Tote an der Front“, so Zhadan, „schürt den Hass, jedes zerbombte Haus provoziert Flüche, jeder Tag im Widerstreit ist ein weiterer Baustein an der endlosen Mauer, die wir jetzt zwischen uns errichten.“

Vom Krieg, vom Hass und dem tiefen Graben zwischen den Menschen im Donbass erzählt Serhij Zhadan nun auch in seinem neuen, beeindruckenden Roman „Internat“. Es ist die Geschichte einer Metamorphose: Der unpolitische, sich aus allem heraushaltende Lehrer Pascha bricht auf, um seinen 13-jährigen Neffen aus dem nahe gelegenen Internat abzuholen. Aber nachdem die Kriegshandlungen eingesetzt haben, ist die Situation brenzlig, die üblichen Kommunikationskanäle sind zusammengebrochen, auf die Infrastruktur ist ebenso wenig Verlass wie auf die Behörden, die sich in Auflösung befinden.
Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Stadt in eine bedrohliche, undurchschaubare Zone der Gewalt verwandelt. Wo eben noch Nachbarn waren, gibt es nun Flüchtende, wo eben noch Ordnung herrschte, regiert nun Willkür. Die kurze Reise zum Internat wird für Pascha zu einer surrealen Erfahrung, die auch ihn verändert. Er durchquert eine Landschaft, in der sich urbane und dörfliche Kulissen ablösen, die etwas Unwirkliches, Geisterhaftes, Apokalyptisches angenommen haben. Er begegnet Rohheit und Zynismus, Elend und Hilfsbereitschaft, und die Zeit dehnt sich, während er sich seinen Weg durch die einstmals vertraute, nunmehr vollkommen fremd gewordene Umgebung bahnt.
Unklar bleibt, wer hier überhaupt das Sagen hat oder seine Kompetenzen unrechtmäßig überschreitet – es ist ein rechtsfreier Raum, in dem fortwährend Kontrollen stattfinden, als müsste der Schein gewahrt werden, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Von Unterschlupf zu Unterschlupf kämpft sich der erschöpfte und zugleich hellwache Pascha weiter zu seinem Ziel, von seiner Angst und Mutlosigkeit weniger gelähmt als angetrieben.
Pascha erreicht schließlich das Internat, er findet seinen Neffen unversehrt, aber die Szenerie gleicht auch hier einer befremdenden Kriegslandschaft. Jede einzelne Begegnung auf seiner Odyssee lässt ihn die Orientierungslosigkeit stärker wahrnehmen. Und während er mit seinem Neffen durch Minenfelder und Kanonenfeuer im Zickzack zurückzufinden sucht in die noch verschonte Heimat, erkennt er nach und nach die Unhaltbarkeit seines bisherigen Lebens. Er wusste, wie ihm nun in aller Drastik vor Augen geführt wird, nichts über die Welt. Es ist eine existenzielle Erfahrung.
„Internat“ – das bedeutet im Ukrainischen auch Waisenheim. Und genau das ist diese Ostukraine, die aufgerieben wird zwischen den verschiedenen Interessen: ein Ort, an dem die heimatlos Gewordenen ums Überleben kämpfen.
Das Großartige an Zhadans Roman ist, wie sich hier Realitätspartikel und Albtraumsplitter auf gespenstische Weise vermischen. Fast schon parabelhaft erzählt „Internat“ von einer zeitenthobenen Schreckenssphäre: Die Bilder, die Zhadan von dieser dreitägigen Wanderung durch die versehrte Stadt zeichnet, sind von immenser Suggestivität. Man fühlt sich durch die Wucht der Sprache, die fortwährend gesteigerte Gereiztheit der Protagonisten, die zum Reißen gespannte Atmosphäre hineinversetzt in eine Zwischenwelt, in der das Alltägliche als Vorhölle erscheint.

Wo die Kampflinien verlaufen, ist kaum zu sagen. „Es schlägt ganz in der Nähe ein, vor allem aber schlägt es so ein, dass man nicht weiß, wohin es als Nächstes fallen wird. Die ganze Zeit Explosionen: mal hinter den Gleisen, mal hinter dem Boulevard. Alle drücken sich an die Wände, nach der Explosion hört man ein gedämpftes Heulen, dann wird es still. Bis die Stille hinter den Fenstern wieder reißt und das Heulen wieder anfängt. ,Es brennt!‘, ruft jemand am Eingang, und alle stürzen dorthin, schauen aus dem Fenster. Auch Pascha schaut hinaus, steht mitten in dieser Menschenmenge, die ihn vor einer halben Stunde noch fast mit ihren Goldzähnen zerrissen hätte, und sieht, wie hinter den Hochhäusern öliger schwarzer Qualm aufsteigt, so ölig und schwarz, als würden dort Leichen verbrannt.“
Zhadan erzählt von der Absurdität des Krieges – nicht aus der Perspektive der Soldaten, sondern aus dem Blickwinkel jener, die unversehens und unverschuldet zwischen die Fronten geraten.
In jeder Zeile sind die Erfahrungen spürbar, die der Autor auf seinen Reisen in den Donbass gesammelt hat und von denen ihm die Menschen erzählt haben. Zu einem Kunstwerk aber wird der Roman durch seine verstörende Szenerie und der von Juri Durkot und Sabine Stöhr brillant ins Deutsche gebrachten Sprache.

Ulrich Rüdenauer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 17)

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:57:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Hochdeutschland 

Roman von Alexander Schimmelbusch

Victor kann sein albernes Siegerdasein als erfolgreicher Investmentbanker schon lange nicht mehr ernst nehmen. Alle Versuche, sich zu verlieben, scheinen ebenso zum Scheitern verdammt zu sein, wie es seine Ehe war. Er ist ein Produkt der marktorientierten deutschen Gesellschaft und dieselben Fähigkeiten, auf denen sein Erfolg in diesem System basiert, weisen ihm jetzt den Ausweg – eine Revolution.

Er bewohnt eine gläserne Villa im Taunus, hat bei Bedarf Sex im Spa-Bereich des Hotel Adlon und schafft es, die Work-Life-Balance der Mitarbeiter seiner Bank in einem rentablen Ungleichgewicht zu halten. Doch all das führt zu nichts. Zum Glück lernt er den italophilen Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland kennen, dessen Lebenstraum es ist, nach seiner politischen Laufbahn als steinreicher Investmentbanker mit dem Ferrari durch Mailand zu gleiten. Dafür braucht er Victors Hilfe und unterstützt ihn im Gegenzug dabei, eine populistische Bewegung zu gründen, deren rohe Lebendigkeit Victor erlösen wird. In seinem Roman wirft Alexander Schimmelbusch ein grelles Licht auf die deutsche Volksseele und stellt die zentralen Fragen unserer Zeit: Ist unser System kaputt? Was ist Elite? Können wir überhaupt noch kommunizieren? Haben wir Prinzipien? Welchen Preis zahlt man dafür, nach seinen eigenen Regeln zu leben? Ist es Zeit für einen radikalen Neuanfang? Für eine Stunde null, wie nach einem Krieg?   Alexander Schimmelbusch, geboren 1975 in Frankfurt am Main, wuchs in New York auf, studierte an der Georgetown University in Washington und arbeitete dann fünf Jahre lang als Investmentbanker in London. Sein Debüt »Blut im Wasser« gewann den Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage. »Hochdeutschland« ist sein vierter Roman.

Preis: € 20,60
Verlag: Tropen
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 214 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.03.2018

 

Rezension aus FALTER 11/2018

Der Neoliberalismus ist bloß Schnee von gestern

In seinem Zukunftsroman „Hochdeutschland“ imaginiert Alexander Schimmelbusch das Ende unseres Systems

Irgendwann einmal wird es auch mit dem Neoliberalismus ein Ende nehmen. Vielleicht, weil niemand mehr an die höhere Vernunft des Marktes glauben will. Vielleicht, weil den Gewinnern des freien Spiels der Kräfte ganz einfach langweilig wird. Coole Villen, teure Weine, scharfe Autos: Soll das wirklich alles gewesen sein? Okay: Dass der Neoliberalismus eines Tages von seinen Profiteuren zu Grabe getragen wird, dass sie irgendwann den ultimativen Kick nur noch in der Vergesellschaftung des Reichtums suchen, klingt jetzt erst einmal nicht sehr wahrscheinlich. Aber man kann sich ja mal ausmalen, was wäre, wenn …
Alexander Schimmelbuschs Roman „Hochdeutschland“ buchstabiert diese Möglichkeit vom Ende der totalen Herrschaft des Marktes aus. Der Held heißt Victor, das wird kein Zufall sein. 39 Jahre alt, Investmentbanker, Inhaber der Birken Bank, Spezialität Mergers & Acquisitions, also Unternehmenskäufe, Fusionen, all das. Die Ehe allerdings ist zerbrochen, nun bekommt er im Spa eines Berliner Luxushotels, was er als Mann so zu brauchen glaubt. Der wichtigste Mensch ist ihm seine Tochter, seine einzige wirklich ernste Wette auf die Zukunft. Durch den Taunus, das Revier des Frankfurter Geldadels, rast er mit einem hochgetunten Elektro-Porsche. Man wird die Handlung also um die Mitte unseres Jahrhunderts datieren können.
Die Zeit der großen Fusionen ist dann vorbei, weil einander nur noch wenige große Konglomerate gegenüberstehen. Nun gilt plötzlich als wahre Lehre, sich aufs Kerngeschäft zu konzentrieren und alle Unternehmensteile abzustoßen, die damit nichts zu tun haben: Schließlich kann eine Investmentbank auch damit ihr Geld verdienen. Victor durchschaut dieses Spiel und macht sich keine Illusionen darüber, dass damit nur ein neuer Zyklus seinen Anfang nimmt und die nunmehr filetierten Unternehmensteile früher oder später wieder fusioniert werden, um den Investmentbanken ein weiteres Geschäft zu sichern. Soll das alles im Leben gewesen sein?

Dann doch lieber eine Revolution! Alles rückgängig machen, was die neoliberale Ideologie in den letzten Jahrzehnten angerichtet hat. Die ­Infrastruktur zurück in die Hände des Staats; für eine neue bürgerliche Gesellschaft kämpfen, die auf allen Ebenen das gemeinsame Wohl in den Mittelpunkt stellt, von der gerechten Verteilung der Vermögen bis zur ­Gleichberechtigung der Geschlechter. Und Victor weiß auch schon, wer ihm beim Aufbau einer entsprechenden Bürgerbewegung mit seinen Erfahrungen helfen kann: der türkischstämmige Bundesfinanzminister, dem er im Gegenzug seinen größten Wunsch erfüllen kann, einen Posten als Investmentbanker in Mailand samt Dienst-Ferrari.

Der Roman treibt ein böses Spiel mit der tiefen Verunsicherung, die sich in den westlichen Industriestaaten breitgemacht hat. Die vertrauten politischen Lager haben sich aufgelöst, es ist gar nicht mehr so einfach, bestimmte Positionen der Linken, den Liberalen oder den Konservativen zuzuordnen.
Wo die Politik nicht überhaupt der Wirtschaft ihr ureigenes Terrain überlassen hat, spielt sie immer häufiger den Unternehmer, der sich eher ungern mit der Frage aufhält, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Man nennt diese Zeit gerne postideologisch, vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner, wenn man einen Mangel an grundlegenden Überzeugungen konstatiert, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Und so können Investmentbanker und Finanzminister problemlos ihre Rollen tauschen, wobei der Banker immer die Nase vorn hat, denn er verfügt über das Geld und die Expertise, der sich die Politik nur zu gern anvertraut. Dass Schimmelbusch selbst fünf Jahre als Investmentbanker gearbeitet hat, lässt einen bei der Lektüre bisweilen schaudern. Aber dann auch wieder durchatmen, denn, so lernen wir aus diesem Buch: Auch Investmentbanker erzählen ihrem Publikum nur Geschichten, denen man glauben mag – oder auch nicht.

Tobias Heyl in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:31:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Nachtzug nach Lissabon 

Roman von Pascal Mercier

Raimund Gregorius, Lateinlehrer, lässt plötzlich sein wohlgeordnetes Leben hinter sich und setzt sich in den Nachtzug nach Lissabon. Im Gepäck: das Buch des Portugiesen Amadeu de Prado, dessen Einsichten in die Erfahrungen des menschlichen Lebens ihn nicht mehr loslassen. Wer war dieser Amadeu de Prado? Es beginnt eine rastlose Suche kreuz und quer durch Lissabon, die Suche nach einem anderen Leben und die Suche nach einem ungewöhnlichen Arzt und Poeten, der gegen die Diktatur Salazars gekämpft hat.

Portrait
Pascal Mercier, 1944 in Bern geboren, lebt in Berlin. Nach Perlmanns Schweigen (1995) und Der Klavierstimmer (1998) wurde sein Roman Nachtzug nach Lissabon (Carl Hanser Verlag 2004) einer der großen Bestseller der vergangenen Jahre und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2007 folgte die Novelle Lea. Unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri veröffentlichte er, ebenfalls bei Hanser, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens (2001).
Pascal Mercier wurde 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und 2007 in Italien mit dem Premio Grinzane Cavour für den besten ausländischen Roman geehrt. 2007 erhielt er die Lichtenberg-Medaille der Universität Göttingen.

Posted by Wilfried Allé Thursday, January 18, 2018 10:52:00 AM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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