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„Man wartet, dass die Zeit reif wird“

von Florjan Lipuš

Übersetzung: Johann Strutz
Verlag: Jung u. Jung
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 144 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.03.2019
Preis: € 20,00

 

Rezension aus FALTER 12/2019

„Man wartet, dass die Zeit reif wird“

Mit „Schotter“ ist Florjan Lipuš ein beklemmendes Werk über die Fruchtbarkeit des Vergangengeglaubten gelungen

Das erste Bild gilt dem Verschwinden des wichtigsten Menschen im Leben. Zu diesem kehren die Bücher des Kärntner Slowenen Florjan Lipuš immer wieder zurück. Als er sechs Jahre alt war, wurde seine Mutter 1944 vor seinen Augen abgeführt und später im KZ Ravensbrück ermordet. Ihr Vergehen: Sie hatte eine als Partisanen verkleidete Gruppe von Gestapo-Männern bewirtet.

Diese tiefe Wunde war es, die Lipuš zum Schreiben brachte. Sich in seinen Romanen der Sprache der Täter zu bedienen, kam für ihn nicht infrage. Um der Mutter trotzdem nahe sein zu können, entschied er sich für das Slowenische als Literatursprache. Er ist ihr bis heute treu geblieben. Das gilt auch für „Schotter“, ein Buch, das ohne den Verweis „Roman“ oder „Erzählung“ auskommt und im Original unter dem Titel „Gramoz“ bereits 2017 erschienen ist.

„Schotter“ folgt auf das fast schon zärtliche Alterswerk „Seelenruhig“. Von Zärtlichkeit ist hier indes keine Spur. In atemberaubender Prosa ergründet Lipuš die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Dorfes, die untrennbar zusammenhängen:

„Man wartet, dass die Zeit reif wird und der Nachbar wieder gegen den Nachbarn Anzeige erstatten wird, der Meister ohne Zögern den Gehilfen melden wird, der Bruder wieder auf den Bruder schießen wird und die Schwester die Schwester verraten wird, der Vater dem Sohn und der Großvater dem Enkel die Waffe in die Hände drücken wird und der Ehemann die Ehefrau persönlich auf den Richtplatz treiben wird.“

Der erste Schauplatz des Buches ist das Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers. „Gedächtnisgeher“ und „Ausflügler“ suchen hier nach den Spuren ihrer hingerichteten Vorfahren.

Sie finden sich am Boden, im Schotter zwischen den Baracken, wo die inhaftierten Frauen viele Stunden Appell stehen mussten. Auch zwei Enkelkinder machen sich auf den Weg, in der Hoffnung, ihre Großmutter werde ihnen erscheinen. Als die Besuchergruppe ins Dorf zurückkehrt, schlägt ihr eine kaum unterdrückte Feindseligkeit entgegen.

Mit „Schotter“ legt Lipuš einen atmosphärisch hochaufgeladenen Text vor, der seine Wirkung auch dem verdankt, was er alles nicht leistet. Es wird hier keine Geschichte erzählt, es sind – abgesehen von den Enkeln, die den Geist ihrer Großmutter aufspüren wollen – keine Figuren identifizierbar und es lässt sich auch nicht mit Gewissheit sagen, in welcher Zeit und an welchem Ort wir uns befinden, von welchem Konzentrationslager die Rede ist.

Wo Lipuš sonst zumeist konkret auf seine Herkunftsgegend Bezug nimmt, könnten wir uns in seinem jüngsten Werk im Grunde überall im deutschsprachigen Raum befinden ‒ überall dort, wo es Dörfer gibt, wo die Kirche noch über einigen Einfluss verfügt, die Leute alte Waffen und Uniformen im Kasten versteckt haben und auf den Tag warten, an dem sie diese wieder hervorholen können.

Altersradikalität ist wohl das falsche Wort für die Haltung, die Florian Lipuš hier an den Tag legt, Altersklarheit trifft es besser. „Das Mördergeschlecht kam nicht aus der Hölle gekrochen“, heißt es einmal, „wurde nicht aus giftigem Ungeziefergewimmel geboren […]. Das Mördergeschlecht waren die gestern noch freundlichen Verwandten, die langjährigen Bekannten und Genossen, die Verliebten, die Wohltäter und Freunde, die Gelehrten und Geschulten, mit den akademischen Titeln, die Männer und Frauen mit Eigenschaften und ohne Eigenschaften, die auffälligen und die unauffälligen Gemeindebürger, die bisher mit nichts Bösem Aufmerksamkeit erregten. Es waren nicht die Wilden, aber sie wurden zu Wilden, als sich ihnen Gelegenheit dazu bot.“

Das galt gestern und das gilt für Lipuš heute wie morgen. Der Kärntner Slowene, der 2018 mit dem Großen Staatspreis für österreichische Literatur ausgezeichnet wurde, legt ein schmales Buch von großer Sprengkraft vor. Man kann es nur langsam lesen, weil einem bei der Lektüre immer wieder angst und bange wird.

Sebastian Fasthuber in FALTER 12/2019 vom 22.03.2019 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 20, 2019 1:11:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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