AZ-Neu

Die Informationsplattform für ArbeiterInnen, Angestellte, KMUs, EPUs und PensionistInnen

Ein politischer Aufruf

von Lisa Herzog

Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 224 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.02.2019
Preis: € 22,70


Rezension aus FALTER 40/2020

„Raus aus dem darwinistischen Dschungel“

Lisa Herzogs Karriere kennt viele „Die Erste“- und „Die Jüngste“-Momente. Sie war eine der jüngsten Philo­sophie­pro­fes­sorinnen Deutsch­lands (mit 32), sie war die erste Frau, die den Trac­ta­tus-Preis des Phi­lo­sophi­cum Lech erhielt (mit 35, im Jahr 2019). Herzogs Schwer­punkte sind po­li­tische Phi­lo­so­phie und Öko­nomie, ihr Buch „Die Zu­kunft der Ar­beit“ stand wochen­lang auf der Sach­buch-Besten­lis­te und machte sie zur Vor­den­kerin einer so­zi­aleren, ge­mein­ ohl­orien­tier­ten, fairen Ar­beits­welt.

Falter: Frau Professor Herzog, Ihr Buch „Die Rettung der Arbeit“ könnte nicht aktu­eller sein, über­all in Eu­ro­pa be­mühen sich Re­gie­rungen, Ar­beits­plätze zu ret­ten, mit im­mer neu­en Hilfs­pa­ke­ten, mit der Ver­län­ge­rung der Kurz­ar­beit – sind es am Ende die fal­schen In­stru­mente?

Lisa Herzog: So pauschal lässt sich das nicht sagen. Die Poli­tik ver­sucht vor allem, Be­ste­hen­des zu be­wahren. Sie agiert im Not­fall­modus und ver­sucht, Schäden zu mini­mieren. In mei­nem Buch schla­ge ich da­ge­gen vor, Ar­beit an­ders zu ge­stal­ten, bes­ser, ge­rech­ter. The­men wie Demo­kra­ti­sie­rung, Be­fähi­gung der Ar­bei­ten­den oder alter­na­tive Fir­men­mo­del­le sind im Mo­ment lei­der nicht auf der po­li­ti­schen Agen­da.

Sind Krisenzeiten nicht auch Zeiten, auf die ge­sell­schaft­liche Um­brüche fol­gen?

Herzog: Am Ende von Krisen­phasen stehen oft größere poli­ti­sche Ver­schie­bungen. Nehmen Sie zum Bei­spiel die Ein­führung des Frauen­wahl­rechts am Ende des Ers­ten Welt­kriegs. In Kri­sen­pha­sen wer­den Selbst­ver­ständ­lich­keiten, die vor­her un­hinter­fragt wa­ren, als ver­änder­bar er­lebt, man merkt, es könnte auch ganz an­ders sein. Da­mit fal­len ge­wis­se Ta­bus, und das kann Macht­ver­hält­nis­se ver­än­dern. Ich habe die Hoff­nung noch nicht auf­ge­geben, dass wir auch aus die­ser Kri­se etwas ler­nen und nach­hal­tige Ver­ände­rungen an­ge­stoßen wer­den. Den­ken wir nur an den Ap­plaus und die Mu­sik für die system­rele­van­ten Be­rufe. Bis dato gab es für die­se Grup­pe aber allen­falls ein­ma­li­ge Boni, keine struk­turel­len Ver­bes­se­rungen.

Das Beispiel der Super­markt­kas­sie­rerin brin­gen Sie ger­ne – aber nicht, um Aus­beu­tung zu zei­gen, son­dern dass Men­schen auch in die­sen Be­ru­fen glück­lich sind, wenn die Rahmen­be­din­gungen pas­sen. Was braucht es also?

Herzog: Es gibt eine sehr spannende Stu­die dazu, die zeigt, dass auch Super­markt­kas­siererinnen ihren Job gerne machen. Es geht ihnen nicht nur ums reine Geld­ver­dienen, son­dern auch da­rum, aus dem rein pri­va­ten Um­feld heraus­zu­kom­men, in eine Art von Öffent­lich­keit, und da­rum, einen Bei­trag für die Ge­sell­schaft zu leis­ten. Wenn Sie etwas be­klagen, dann nicht die Ar­beit an sich, son­dern die Be­din­gungen: zu wenig Mit­spra­che, Wert­schätzung, Rück­griff auf ihre Er­fah­rungen und Wis­sen. Das ist auch mein An­satz. Ar­beit ist mehr als ka­pi­ta­lis­tisches Geld­ver­dienen, es ist ein so­zia­ler Akt, den wir mit an­deren Men­schen tei­len wol­len.

Deswegen sind Sie auch gar keine flammende Befür­wor­terin eines be­dingungs­losen Grund­ein­kommens?

Herzog: Genau. Ich finde es wichtiger, um es mal in ein Wort­spiel zu fassen, statt Leute von der Ar­beit zu be­frei­en, die Ar­beit zu be­freien. In dem Sin­ne, dass sie ge­rech­ter und stär­ker parti­zi­pa­tiv und demo­kra­tisch ge­stal­tet wird. Der über­ra­schendste Zu­spruch zum Grund­ein­kom­men kommt ja aus den Vor­stands­etagen des Silicon Valley. Da deuten sich aber sehr düstere Sze­na­rien an: Stel­len wir uns vor, es gibt ein be­din­gungs­loses Grund­ein­kom­men auf einem nied­rigen Niveau, das alle an­deren So­zial­leis­tungen er­setzt und den Fir­men er­laubt, sich aus aller Ver­ant­wor­tung heraus­zu­stehlen mit dem Ar­gu­ment: Wer nicht bei uns ar­bei­ten will, kann ja mit dem be­dingungs­losen Grund­ein­kommen le­ben. Die wirt­schaft­liche Macht kon­zen­triert sich dann ganz stark auf der Ka­pi­tal­seite, die Kon­trol­le der Pro­duk­tions­mit­tel ist in der Hand ganz weni­ger, wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung sind da­von ab­hän­gig, dass Fir­men weiter­hin be­reit sind, ihre Steu­ern zu zah­len. Das würde die po­li­ti­schen Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis­se doch noch ein­mal mas­siv ver­ändern.

Was ist Ihre Alternative?

Herzog: Interessanter als das bedingungs­lose Grund­ein­kommen finde ich die Idee einer Job­ga­ran­tie. Also öffent­liche Be­schäf­ti­gungs­opti­onen zu­sätz­lich zur Grund­si­che­rung, zum Bei­spiel im So­zial- oder Um­welt­bereich. Wer seinen Job ver­liert, kann sich dann dort ein­brin­gen und weiter­ent­wickeln.

Klingt ein wenig nach real existierendem Sozia­lis­mus, würde eine Markt­libe­rale jetzt sagen.

Herzog: Das stimmt aber nicht, denn es käme ja zu keiner Ver­staat­lichung, die Pri­vat­wirt­schaft bliebe ja be­stehen. Um­ge­kehrt kommt von lin­ker Sei­te oft die Kri­tik, meine Vor­schläge würden nicht weit genug gehen, weil ich nicht da­für bin, alle Pro­duk­tions­mit­tel kom­plett zu ver­staat­lichen und ganz auf die Pri­vat­wirt­schaft zu ver­zich­ten. Aber ich glau­be, dass Märkte mas­siv ein­ge­hegt wer­den müs­sen, dass immer das Pri­mat der Poli­tik gel­ten muss und dass durch­aus mehr in der öffent­lichen Hand pas­sie­ren kann, als wir das in den letz­ten Jahr­zehnten an­ge­nom­men ha­ben.

Ist eine 35-Stunden-Woche für Sie eine Ant­wort?

Herzog: In der besten aller mögli­chen Wel­ten wäre es so, dass Men­schen fle­xi­bel ent­schei­den könn­ten, wie vie­le Wo­chen­stun­den oder auch wie viele Wo­chen im Jahr sie ar­bei­ten wol­len. Aber de facto ist es so, dass bei die­sen Fra­gen oft star­ker so­zi­aler Druck herrscht. Des­wegen sind all­gemein ver­bindl­iche Re­geln wie die 35-Stun­den-Woche sinn­voll, auch weil sie die Fra­gen nach der Ver­ein­bar­keit von Er­werbs­ar­beit und an­deren For­men von Ar­beit und damit die Ge­schlech­ter­ge­rech­tig­keit po­si­tiv be­ein­flus­sen könnten.

Wenn wir Arbeit nur als sozial und als wechsel­sei­tiges Ge­mein­schafts­pro­jekt ver­stehen, wo bleibt dann der An­trieb durch Kon­kur­renz und Ehr­geiz?

Herzog: Wir haben in vielen Be­ru­fen eher das um­ge­kehrte Pro­blem, dass es zu viel Wett­be­werb und zu viel Druck gibt. Aus der For­schung heraus ist un­klar, ob uns Wett­be­werb po­si­tiv an­treibt oder eher dazu führt, Wege ab­zu­kür­zen oder Kon­kur­ren­ten zu schaden – klar ist aber, dass ge­rade für krea­tive Tä­tig­kei­ten und für alle Ar­beiten, die in­trin­sische Mo­ti­va­tion be­nö­tigen, Druck von außen eher schäd­lich ist. Ohne ein ge­wis­ses Maß an Wett­be­werb wird es in vielen Be­rei­chen so­wie­so nie ge­hen, allein schon des­wegen, weil es mehr Be­wer­ber für be­gehr­te Po­si­­tionen gibt, als wir tat­säch­lich Leu­te in be­stimm­ten Jobs brau­chen. Das kann pro­duk­tiv sein, wenn es da­rum geht, die bes­ten Be­wer­ber für be­stimmte Po­si­tio­nen zu fin­den. Aber so wie Wett­be­werb in vie­len Be­rei­chen in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­stan­den und ge­lebt wurde, war es ein all­um­fas­sen­der Kampf aller gegen alle, wie in einem dar­wi­nis­tischen Dschun­gel, und das ist we­der pro­duk­tiv noch ge­recht.

Ein Rezept dagegen, das Sie zur Ein­hegung vor­schla­gen, nennt sich „Work­place Demo­cra­cy“. Unter­nehmen sollen sich digi­tal selbst or­ga­ni­sieren, Mit­ar­beiter ihre Chefs wählen kön­nen. Aber wol­len das auch die Chefs?

Herzog: Gute Chefinnen und Chefs sollten eigent­lich keine Angst da­vor ha­ben, von ihren Mit­ar­beiten­den auch ge­wählt zu wer­den! Digi­tale Mit­tel kön­nen ein­fach die Trans­aktions­kos­ten sen­ken und Ab­stim­mungen er­leich­tern und damit hierar­chi­sche Struk­turen an vielen Stel­len un­nötig ma­chen. Im All­tag er­lebt man das in­zwi­schen stän­dig: dass man sich über Chats schnell ab­stimmt, In­for­ma­tionen aus­tauscht, Auf­gaben ver­teilt. Das wird in vie­len Fir­men längst ge­macht. Die Fra­ge ist aber immer, wer letzt­lich das Sagen hat. Die Digi­tali­sierung führt sicher nicht auto­ma­isch zu mehr Demo­kra­ti­sie­rung und Par­ti­zi­pa­tion. Aber wenn man die Fra­ge um­ge­kehrt stellt und fragt, was hin­dert uns denn da­ran, Fir­men demo­kra­ti­scher zu ge­stal­ten, heißt es oft: Das funk­tio­niert nicht, Ent­scheidungs­pro­zes­se dauern viel zu lang. Da kommt die Digi­ta­li­sie­rung ins Spiel, denn sie bie­tet so vie­le Mög­lich­kei­ten des Tei­lens von Infor­mati­onen und der Trans­pa­renz. Das wäre zu Zei­ten der Papier­akten­sta­pel so gar nicht ge­gan­gen. Wir unter­schätzen da viel­leicht auch manch­mal, wie an­ders die Ar­beits­wei­sen schon sind.

Sie stehen gedanklich linken Parteien sicher näher als kon­ser­va­ti­ven, aber wie ste­hen Sie zu tra­di­tio­nel­len Mit­be­stim­mungs­kon­zep­ten wie Be­triebs­räten und Ge­werk­schaf­ten?

Herzog: Das sind unglaublich wichtige his­to­rische Errungen­schaften, die aber auch weiter­ent­wickelt wer­den müssen und können. Ich glau­be, wir brau­chen eine Zu­sammen­füh­rung von unter­schied­lichen Din­gen, die im Mo­ment neben­einan­derher exis­tieren: einer­seits die eta­blier­ten Mit­be­stim­mungs­struk­turen und anderer­seits all diese neu­en An­sätze wie Holo­cracy, die sich oft auch di­gi­tal unter­stützen las­sen. Der große Wert der tra­di­tio­nel­len Mit­be­stim­mung und des Ge­werk­schafts­wesens ist, dass sie wirk­lich Rechte ein­ge­for­dert ha­ben. Und ohne ge­sicherte Rechte, die man auch ein­klagen kann, wer­den auf Dauer all diese di­gi­talen, schönen par­ti­zi­pa­ti­ven Me­tho­den unsere Welt nicht wirk­lich ver­ändern, weil die Ge­schäfts­lei­tung im­mer dann, wenn es irgend­eine heikle Ent­schei­dung zu tref­fen gibt, sagen kann: An der Stel­le machen wir das nicht so.

Für Sie sind anonyme Whistleblower Helden, große Wirt­schafts­kapitäne aber nicht. Wieso?

Herzog: Wenn man sich anschaut, wie über bestimmte Leute aus der ­High­tech­in­dus­trie be­rich­tet wur­de, ist das, als wären das die neuen Royals. Die Art und Wei­se, wie Ein­zel­ne heraus­ge­hoben wer­den, ver­kennt, dass Men­schen ihre Rolle nur ­ein­nehmen können, weil andere Men­schen ­an­dere Auf­ga­ben er­fül­len und ihnen den Rücken frei­hal­ten. Wir ar­bei­ten in ­so­zi­alen ­Kon­tex­ten und bauen auf dem auf, was andere schon ge­macht ha­ben. In der Wissen­schaft wurden viele Durch­brüche ­his­to­risch ­pa­ral­lel von mehre­ren Per­so­nen er­reicht. Wenn Mark Zucker­berg Face­book nicht ­ge­star­tet ­hät­te, bin ich mir ziem­lich si­cher, dass andere etwas Ähn­liches ge­star­tet hät­ten. Und Whistle­­blower sind für mich die ­wahren Hel­den, weil sich in großen, ­kom­plexen, ar­beits­tei­ligen Sys­temen For­men von Miss­brauch sehr lange hal­ten kön­nen. Es kommt zu Kompli­zen­schaft und ­Grup­pen­den­ken. Es ist oft sehr viel ein­facher, da mit­zu­schwim­men, als zu sa­gen: „Hej, das ist ein­fach falsch und ich sage das jetzt öffent­lich.“

Warum profitieren sozialdemokratische Parteien so wenig von den Kri­sen der letzten Jahr­zehnte?

Herzog: Die Sozialdemokratie hatte sich in vielen euro­pä­ischen Län­dern auf ein eher markt­freund­liches Pro­gramm ein­ge­las­sen, damit ging der so­zial­demo­kratische Mar­ken­kern ver­loren. Viel­leicht ist auch ein Fak­tor, dass die Sozial­demo­kra­tie immer auch da­ran er­innert, dass man als Mensch ein Gemein­schafts­wesen ist und dass es auch den gemein­schaft­lichen Ein­satz für die eige­nen Rechte braucht. Da steckt viel­leicht für manche Men­schen eine ge­wis­se Kränk­ung ihrer Eitel­keit drin. Nach dem Mot­to: Du schaffst es nicht alleine. Das ist ja das, was uns der neo­li­be­rale Zeit­geist jahre­lang ein­ge­impft hat: dass man für sich alleine kämpfen müsse. Ich frage mich, ob sich das nicht lang­sam aus­ge­wach­sen hat und diese hyper­in­di­vi­dua­lis­tische Bot­schaft an Attrak­ti­vi­tät ver­loren hat. Bei Co­ro­na war ja auch sehr klar: Wir sind alle Teil einer Ge­sell­schaft. So­gar Boris Johnson hat, als er aus dem Kran­ken­haus ent­las­sen wur­de, fest­ge­stellt, dass der alte Spruch von Mar­garet Thatcher nicht stimmt, und öffent­lich ge­sagt: „There is such a thing as society.“

Barbaba Tóth in FALTER 40/2020 vom 02.10.2020 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, September 30, 2020 5:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
Rate this Content 0 Votes

Comments

Comments are closed on this post.

Statistics

  • Entries (293)
  • Comments (5)

Categories