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Weckruf Corona 

Gesellschaftliche Diagnosen für unser Leben nach der Pandemie

von Günther Sidl

ISBN: 9 783200 086012
Verlag: Urban Future
Format: Taschenbuch
Genre: Klimawandel, Nachhaltigkeit, Wirtschaft/Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 17.11.2022
Preis: € 22,00 (zzgl. Versandkosten)

 

Das Buchprojekt von SPÖ-EU-Abgeordneten Günther Sidl soll einen breit ge­fächer­ten Dis­kussions­pro­zess an­stoßen – Bei­träge von Ex­pert­Innen aus unter­schied­lichsten Be­reichen zei­gen auf, was Corona alles ver­ändert hat und wie es jetzt weiter­gehen kann.

„Die Corona-Pandemie hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Nicht nur die wirt­schaft­lichen und so­zi­alen Fol­gen habe viele zu spüren be­kom­men, son­dern na­tür­lich auch den Um­gang mit un­se­ren Grund- und Frei­heits­rechten und die Ver­lage­rung des so­zia­len Lebens in den vir­tuel­len Raum. Und ge­nau da­rüber müs­sen wir reden“, be­tont SPÖ-EU-Ab­ge­ord­ne­ter Günther Sidl, der vor die­sem Hinter­grund das Buch­projekt „Weckruf Corona – Ge­sell­schaft­liche Diag­nosen für unser Leben nach der Ge­sund­heits­krise“ ge­star­tet hat. Mit Bei­trägen von zahl­rei­chen Ex­pertInnen aus den ver­schie­dens­ten Dis­zi­pli­nen, soll das Buch eine Dis­kus­sion da­rüber an­stoßen, wie es jetzt weiter­gehen soll.

Von Augmented Reality bis zum Vor­sorge­denken. Die Themen der Bei­trä­ge sind breit ge­fächert und ge­hen von neues­ten techno­lo­gi­schen Ent­wick­lungen, wie der Aug­mented Rea­li­ty, über den Klima­schutz und das neu er­wachte Inter­esse an der Natur bis hin zu demo­kratie­poli­ti­schen Fra­gen und dem in­zwi­schen viel­fach aus der Mode ge­kom­menen Vor­sorge­denken. „Als über­zeug­ter Ver­fechter des Vor­sorge­den­kens, möchte ich mit diesem Buch auch einen Bei­trag da­zu leis­ten, dass wir diese vor­aus­schau­ende Hal­tung wie­der ins Rampen­licht stel­len“, so Sidl, dem es da­bei nicht nur um die best­mög­li­che Vor­be­rei­tung unse­rer Ge­sund­heits­sys­teme auf die nächs­te Pan­de­mie geht: „Es geht auch da­rum eine neue Sicht­wei­se da­rauf zu ent­wickeln, was uns in unse­rer Ge­sell­schaft wirk­lich etwas wert ist und wo­rauf wir be­son­ders ach­ten müssen.“

„Wir müssen darüber nach­denken, welche Ent­wick­lungen wir bei­be­hal­ten wol­len und wo wir wie­der zu­rück zum Sta­tus Quo vor der Pan­de­mie wol­len“, um­reißt Sidl die Idee für das Buch „Weck­ruf Coro­na“, mit dem aber auch ein lang­fris­ti­ger Blick in die Zu­kunft mög­lich wer­den soll: „Wir müs­sen uns auch über­legen, wo wir ganz neue An­sätze brau­chen, um Wirt­schaft, Ar­beit und unser Zu­sam­men­le­ben zu or­ga­ni­sie­ren. Kurz ge­sagt geht es um die Frage, wie sich un­sere Ge­sell­schaft weiter­ent­wickeln soll.“

Corona darf unsere Demokratie nicht krank machen

Entscheidend ist laut Sidl auch, dass die Corona-Pan­de­mie nicht un­sere Demo­kra­tie krank machen darf. „Wir dür­fen die Grund­lagen un­serer Demo­kra­tie, wie die Be­reit­schaft zum Dia­og und zur Zu­sam­men­ar­beit nicht aus den Au­gen ver­lie­ren“, er­klärt Sidl, der vor den mög­li­chen Spät­fol­gen warnt: „Was pas­siert, wenn wir auf­hören miteinander zu reden und alle in die Entscheidungen einzubinden, sehen wir an derwachsenden Skepsis vieler Menschen ge­gen­über der Politik, staatlichen Ins­tan­zen, Me­di­en und der Wis­sen­schaft. Das wurde in der Pan­de­mie sehr deut­lich sicht­bar. Diese Ent­wicklung kann und darf uns nicht egal sein, wenn wir die lang­fris­tige Sta­bi­li­tät un­serer demo­kra­ti­schen Struk­turen nicht ge­fährden wollen.“

„Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Ex­per­tin­nen und Ex­per­ten aus den unter­schied­lichs­ten Be­rei­chen von Poli­tik, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Zi­vil­ge­sell­schaft da­zu be­reit er­klärt ha­ben, die­ses Buch­pro­jekt zu unter­stützen“, freut sich Sidl, dass es ge­lun­gen ist so viele span­nen­de Bei­träge zu sam­meln: „Mir war es be­son­ders wich­tig, die Per­spek­ti­ven von Frau­en und Män­nern, die sich in ihrem Be­rufs­leben mit unter­schied­lichs­ten The­men be­fas­sen und da­bei Zu­sammen­hänge für un­sere ge­samte Ge­sell­schaft er­ken­nen, ab­zu­bil­den. Durch ihre viel­fäl­tigen Ein­blicke und Er­fah­rungen kön­nen wir wich­tige Lehren aus der Pan­de­mie zie­hen und neue An­sätze fin­en, um un­sere ge­mein­same Zu­kunft bes­ser zu ge­stalten.“
 


Urban Future Edition

Im Jahr 2018 wurde die Urban Future Edition gegründet, um Publikationen zu stadt­forschungs­rele­vanten und kom­munal­wis­sen­schaft­lichen Themen sowie zum Bereich Public Manage­ment stra­te­gisch und ge­zielt ver­öffent­lichen zu können. Dabei sollen auch wis­sen­schaft­lich noch wenig be­leuch­tete As­pekte von Urba­ni­tät und Stadt­ent­wick­lung be­wusst auf­ge­grif­fen werden. Inter­natio­na­li­tät und ein Denken in Re­gio­nen stel­len für Urban Forum und damit auch für die Urban Future Edi­tion einen we­sent­lichen Eck­pfeiler des Han­delns dar. Der Ver­lag möchte aber auch seinem selbst ge­stell­ten Kul­tur­auf­trag nach­kommen und an­lass­be­zogen Bücher ab­seits der vor­ste­hend an­ge­führ­ten Themen­felder heraus­bringen. Denn: „Urba­ni­tät meint immer auch ein Bild vom rich­tigen Leben. Sie be­misst sich auch an den öko­no­mi­schen, so­zia­len und poli­ti­schen Chancen für ein hu­ma­nes Leben, die eine Stadt jedem ihrer Bür­ger er­öffnet.“ (Hartmut Häußer­mann, Walter Siebel).
Bestellungen an office@urbanforum.at

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Der Code des Kapitals 

Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft

von Katharina Pistor

ISBN: 9783518587607
Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Recht
Umfang: 440 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.11.2020
Übersetzung: Frank Lachmann
Preis: € 32,90

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Kapital ist das bestimmende Merkmal moderner Volkswirt­schaften, doch die meisten Men­schen haben keine Ahnung, wo­her es tat­säch­lich kommt. Was ver­wan­delt bloßen Reich­tum in ein Ver­mögen, das auto­ma­tisch mehr Reich­tum schafft? Katha­rina Pistor zeigt in ihrem bahn­bre­chen­den Buch, wie Kapi­tal hinter ver­schlos­senen Türen in An­walts­kanz­leien ge­schaf­fen wird und warum dies einer der wich­tigs­ten Gründe für die wach­sende Un­gleich­heit in unse­ren Ge­sell­schaf­ten ist.

Das Recht »codiert« selektiv bestimmte Ver­mögens­werte und stat­tet sie mit der Fähig­keit aus, pri­va­ten Reich­tum zu schüt­zen und zu pro­du­zie­ren. Auf diese Weise kann jedes Ob­jekt, jeder An­spruch oder jede Idee in Kapi­tal um­ge­wan­delt werden – und An­wälte sind die Hüter dieses Codes. Sie wählen aus ver­schie­de­nen Rechts­sys­temen und Rechts­ins­tru­menten die­je­ni­gen aus, die den Be­dürf­nis­sen ihrer Man­dan­ten am besten die­nen. Tech­ni­ken, die vor Jahr­hun­der­ten Land­be­sitz in Kapi­tal trans­for­mier­ten, dienen heute zur Co­die­rung von Aktien, An­leihen, Ideen und Zu­kunfts­er­war­tungen.
Ein großes, beun­ruhi­gen­des Por­trät der glo­ba­len Natur die­ses Codes so­wie der Men­schen, die ihn ge­stal­ten, und der Re­gie­run­gen, die ihn durch­setzen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 15.12.2020:

Rezensent Caspar Dohmen empfiehlt das Buch der Rechts­ge­lehr­ten Katha­rina Pistor auch fach­frem­den Le­sern. Zu ler­nen ist hier laut Re­zen­sent, wie das Pri­vat­recht im Sinne des Kapi­tals ge­nutzt wurde und wird. Pistors polit­öko­no­mi­sche Stu­die geht laut Dohmen zu­rück zu den engli­schen Land­lords, den Commons und ihrer Ver­ein­nah­mung durch den Adel und seine An­wälte und zeigt bis heute rei­chen­de recht­liche Kon­ti­nui­täten des Kapi­tals auf. Wie die Tren­nung von Kapi­tal und Ge­sell­schaft mit staat­li­cher Hilfe ein­ge­schränkt wer­den könnte, be­schreibt die Autorin in ihrem Buch auch, er­klärt Dohmen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.12.2020:

Es sind die Großkanzleien, erfährt Rezen­sent Georg Simmerl, die durch raffi­nier­te "Co­dierung", so der Zen­tral­be­griff der Autorin, Eigen­tum her­stel­len, sichern und ver­schie­ben. Der be­ein­druckte Kri­ti­ker lernt den Kapi­ta­lis­mus von seiner ju­ris­ti­schen Seite ken­nen - von der recht­li­chen Mög­lich­keit, Land in Kapi­tal zu ver­wan­delt - was zu­erst in Groß­bri­tan­nien im 16. Jahr­hun­dert statt­fand - bis zur Fi­nanz­krise von 2008, also der Sozi­ali­sie­rung pri­va­ter Risi­ken und Schul­den in gi­gan­ti­schem Aus­maß. Da seien eben doch alte "Privi­le­gien" am Werke, die für die wach­sen­de Un­gleich­heit weiter­hin sorg­ten, so er­fährt er. Sein Lob gilt der Tat­sache, dass diese aus­führ­liche und auch poli­tisch deut­liche Dar­stel­lung des Sys­tems das Sys­tem zwar nicht spren­gen will, aber immer­hin auf gute Weise "für Nicht-Juris­ten" les­bar ist. Eine sanfte Kri­tik am Schluss trifft die feh­lende Be­hand­lung der Digi­tal­kon­zerne. Ins­ge­samt aber empfiehlt er das Buch als "vor­be­rei­tende Lek­türe" für das Auf­räu­men nach der nächs­ten Krise.

Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2021
Kritik der juristischen Ökonomie :

Mit ihrem Buch "Der Code des Kapitals" sorgt Katharina Pistor für Furore. Die Juris­tin zeigt da­rin, wie das Privat­recht den Ver­mö­gen­den dient. In Ham­burg trifft sie auf Wider­spruch.

Ein Mann vom Lande steht vor dem Gesetz und möchte hinein. Weil er sich aber am Tür­steher nicht vor­bei­traut, stirbt er nach vielen Jahren des Wartens vor dem Tor, ohne das Innere des Ge­setzes ge­sehen zu haben. So weit Franz Kafkas be­rühmte Pa­ra­bel. Wir aber, die Nach­kommen des Mannes vom Lande, kön­nen jetzt einen Blick hinein­werfen, zu­mindest in den Flü­gel des Ge­bäudes, den das Privat­recht ein­nimmt.

Die Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor von der New Yorker Co­lum­bia-Uni­ver­si­tät bie­tet mit ihrem viel be­ach­teten Buch "Der Code des Kapi­tals" eine ge­führte Be­sich­ti­gung. In deren Ver­lauf zeigt sich, dass die weit­läufi­gen Säle des Rechts, die sich der Mann vom Lande glanzv­oll und fest ge­fügt vor­stellte, in Wahr­heit etwas Pro­vi­so­ri­sches ha­ben: Sie sind mit Leicht­bau­wänden unter­teilt, die ganz nach Be­darf ver­scho­ben, ver­stärkt oder ent­fernt wer­den kön­nen. Den Wunsch nach sol­chen per­ma­nent wech­seln­den Rechts­grund­ris­sen haben die In­haber des glo­ba­len Kapi­tals, die Mana­ger von Banken, Trusts und Invest­ment­fonds. Die Ver­schiebe­ar­beiten er­le­digen in ihrem Auf­trag hoch be­zahlte Wirt­schafts­an­wälte in den Groß­kanz­leien von Lon­don, New York oder Frank­furt.

Allerdings verwendet Katharina Pistor nicht das Bild vom Recht als Bau­werk, des­halb fir­mie­ren die An­wälte bei ihr auch nicht als Meis­ter des Innen­aus­baus, son­dern als "Herren des Codes". Diesen Code lie­fert ihnen ein brei­tes Spek­trum an Ge­setzes­wer­ken, das sich vom Ver­trags-, Eigen­tums- und Kredit­siche­rungs­recht bis zum Trust-, Ge­sell­schafts- und In­sol­venz­recht spannt. Die ver­schie­denen Mo­dule des Codes nutzen die An­wälte in vari­ieren­den Kombi­na­tionen, um Gü­ter zu Kapi­tal zu machen, in­dem sie Eigen­tums­rechte eta­blie­ren, Aktien und an­dere Werte vor Gläu­bi­gern und Steuer­be­hör­den ab­schir­men und durch neue Kapi­tal­formen so­gar Ver­mögen schaf­fen, etwa durch ver­brief­te Hypo­theken oder geis­tige Eigen­tums­rechte. Dabei geht es nicht nur da­rum, die pas­sen­den Para­gra­fen an­zu­wen­den, son­dern die großen Lücken krea­tiv zu fül­len, die das Privat­recht lässt, um an­pas­sungs­fä­hig für die sich än­dernden Märkte zu bleiben.

Die Meister des Codes schaffen selbst neues Recht, indem sie Aus­legungs­spiel­räume im Inter­esse ihrer Man­dan­ten inter­pre­tieren, be­ste­hende Ge­setze durch Ana­lo­gie­bil­dungen auf un­ge­re­gel­tes Ter­rain aus­dehnen und - oft zu Recht - da­rauf bauen, dass ihnen die Ge­richte darin fol­gen. Den größten Ent­faltungs­raum für solch an­walt­liche Schöpfer­kraft bie­ten die Rechts­sys­teme Groß­bri­tan­niens und des Staates New York, deren Regel­werke die An­wälte dank freier Rechts­wahl in den meis­ten Staaten nutzen kön­nen. Dabei kön­nen sie sich da­rauf ver­las­sen, dass die dorti­gen Ge­richte und Be­hör­den dieses Recht durch­setzen wer­den, auch wenn es nicht der ei­genen demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten Gesetz­ge­bung ent­stammt.

Als Musterbeispiel für die Kunst anwaltlichen Codierens prä­sen­tiert Pistor die sur­rea­len, hundert­fach ver­schach­tel­ten Finanz­konstrukte der Lehman-Brothers-Bank, die noch Divi­den­den an ihre Aktio­näre aus­schüt­tete, als ihr bevor­ste­hen­der Unter­gang die Welt­wirt­schaft schon er­be­ben ließ. Die da­durch aus­ge­löste Krise zeigte, dass das Ver­trauen der großen Finanz­ak­teure und ihrer An­wälte in den Staat als Helfer in der Not nur allzu be­rech­tigt war. Wer "too big to fail" war, wurde mit öffent­li­chen Mit­teln ge­ret­tet und war meis­tens auch "too big to jail".

Katharina Pistors Kritik der juristischen Ökonomie hat nun ihrer­seits einen pro­fi­lier­ten Kri­ti­ker ge­funden: Für Hans-Bernd Schäfer, Ex­perte für die öko­no­mi­sche Ana­lyse des Rechts an der Ham­bur­ger Bucerius Law School, schießt die Autorin mit ihrer These von der kapi­ta­lis­ti­schen Herr­schaft durch Recht an­stelle einer Herr­schaft des Rechts weit über das Ziel hinaus. Seine Ein­wände brachte Schäfer in einer Podiums­dis­kus­sion mit Katharina Pistor vor, die vom Ham­burger Max-Planck-Insti­tut für aus­län­di­sches und inter­natio­nales Privat­recht ver­an­stal­tet wurde.

Für Schäfer überzeichnet Pistor den Ein­fluss der An­wälte. Zu­gleich be­lege sie nicht hin­rei­chend, dass sich un­ab­hän­gige staat­liche Ge­rich­te wirk­lich zu deren Er­füllungs­ge­hilfen machen ließen. Auch Pistors Kri­tik, dass die Inter­natio­na­li­sie­rung des Rechts ein­sei­tig den Reichen zu­gute­komme, ak­zep­tier­te Schäfer nicht. Als Gegen­bei­spiel ver­wies er auf ein in Den Haag er­gan­ge­nes Ur­teil, das den Shell-Kon­zern ver­pflich­tet, nigeria­nische Bauern für die Öl­ver­schmutzung ihres Acker­landes zu ent­schä­digen. Ohne "Forum Shopping" - also die Wahl eines für die Sache güns­ti­gen Ge­richts - hät­ten die Bauern dieses Er­geb­nis nicht er­zie­len kön­nen. Die ent­schei­den­de Dif­fe­renz zwi­schen den Kon­tra­hen­ten be­stand aber in der volks­wirt­schaft­lichen Be­wer­tung. Schäfer sieht in der Flexi­bi­li­tät des Privat­rechts eine ent­schei­dende Vor­aus­setzung für öko­no­mi­sche Inno­vationen, die nicht nur die Taschen Ein­zel­ner fül­len, son­dern den all­ge­mei­nen Wohl­stand er­höhen. Als Bei­spiel nannte er die "Er­fin­dung" der juris­ti­schen Per­son, die als recht­li­ches Kon­strukt der Aktien­ge­sell­schaft zu­grunde liegt und die kon­ti­nuier­liche Akku­mu­lie­rung von Kapi­tal er­mög­icht.

Als weiteren Beleg für die wirt­schaft­liche Schub­kraft privat­recht­licher Co­dierungen zog Schäfer die Heraus­bil­dung des Grund­eigen­tums in Eng­land heran, die auch in Pistors Buch eine wich­ti­ge Rolle spielt. Es geht dabei um die Frühe Neu­zeit, als Aristo­kra­ten das zu­vor von den Bauern ge­mein­sam ge­nutzte Gemeinde­land ge­walt­sam pri­vati­sier­ten, mit an­walt­licher Hilfe in recht­lich ge­schütz­tes Eigen­tum um­wan­del­ten und durch neu kon­zi­pier­te Trusts vor Gläu­bi­gern schützten. In Pistors Dar­stel­lung bil­den diese "Ein­he­gungen" der eng­li­schen Allmenden eine Ur­szene: Sie mar­kiert den Auf­stieg der An­wälte zu "Herren des Codes" und den Be­ginn einer Ent­wick­lung, die schließ­lich in die Un­gleich­heiten mo­der­ner kapi­ta­lis­ti­scher Ge­sell­schaf­ten mün­dete. Schäfer da­gegen ver­wies auf die enorme Pro­duk­ti­vi­täts­stei­gerung, die die­ser Pro­zess bei all seiner Härte in der Land­wirt­schaft aus­löste, wo­mit auch die Grund­lagen der spä­teren Indus­tria­li­sie­rung ge­legt wurden.

Karl Marx sah in den "Einhegungen" eine erste Stufe in der Heraus­bildung des Kapi­ta­lis­mus, einen his­to­ri­schen Fort­schritt also. Schäfer plä­dierte für eine funk­tio­nal moti­vier­te Dif­feren­zie­rung des Rechts ent­lang mora­lisch-poli­ti­scher Nor­men: Zweck des Privat­rechts soll es dem­nach sein, die öko­no­mi­schen Ak­teure zur Zu­ver­lässig­keit und Ehr­lich­keit an­zu­halten und so­mit die Rahmen­be­din­gungen für öko­no­mi­schen Fort­schritt zu schaf­fen, während das Sozial­recht für Soli­dari­tät und "Brüder­lich­keit" sor­gen soll. Bei­des zu ver­mischen, hielt Schäfer für kontra­pro­duktiv.

Diese Idee einer rechtsethischen Arbeitsteilung überzeugte aller­dings nicht. Zu Recht machte Katharina Pistor gel­tend, dass das Privat­recht An­wälten in die Hände spielt, um den Reich­tum ihrer Man­dan­ten zu meh­ren, während dem Sozial­staat die un­dank­bare Auf­gabe bleibt, die ge­sell­schaft­lichen Schä­den, die da­durch ent­stehen, ab­zu­federn. Sie plä­dier­te da­für, die Flexi­bili­tät des Privat­rechts zu­rück­zu­schrau­ben, um die Steue­rungs­fähig­keit staat­licher Sys­teme wieder zu ver­bes­sern. Der "Staat als Repa­ra­tur­be­trieb des Kapi­ta­lis­mus" wurde in der Dis­kus­sion an keiner Stelle so be­nannt, aber um ihn ging es. WOLFGANG KRISCHKE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Posted by Wilfried Allé Tuesday, November 8, 2022 6:56:00 PM Categories: Recht
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Die Alpen im Fieber 

Die 2-Grad-Grenze für das Klima unserer Zukunft

von Andreas Jäger

ISBN: 9783711200327
Verlag: BERGWELTEN
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Naturwissenschaft
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.10.2021
Illustrationen: Lana Bragin
Preis: € 32,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Die Zukunft der Alpen: Können wir den Klimawandel stoppen?

»Das Klima hat sich schon immer gewandelt«, so lautet das Lieblings­argument vieler Klima­wandel­leug­ner. Eis­zei­ten und Warm­zei­ten wech­seln sich ab – vor 20 000 wie auch vor 5000 Jah­ren. Der Unter­schied zum heu­tigen Klima­wandel? Er ist men­schen­ge­macht. Andreas Jäger schlägt Alarm: »Wir sind un­zweifel­haft die Pi­lo­ten im Klima­flug und sollten end­lich an­fan­gen, aus dem Cock­pit zu schau­en und ge­gen­zu­steu­ern!«
Zentraler Schauplatz des Buches sind die Alpen: Die alpine Vege­ta­tion wan­dert berg­wärts, Glet­scher zie­hen sich zu­rück, Perma­frost taut in im­mer hö­he­ren La­gen. In sei­nem Buch ver­sam­melt der Meteo­ro­loge und Geo­phy­si­ker nicht nur fun­dier­te Ant­wor­ten und Fak­ten rund um Ge­schich­te und Trend des al­pi­nen Klimas, son­dern macht auch die Dring­lich­keit deut­lich, mit der wir jetzt auf die Klima­krise rea­gie­ren müs­sen.
- Klimageschichte der Alpen: Welches Erbe der Eis­zeit ist uns ge­blie­ben und was hat es mit dem heu­ti­gen Klima­wandel zu tun?
- Vergangenheit ver­stehen, Zu­kunft ge­stalten: Wie hat sich die Mensch­heit wäh­rend des Holo­zäns ent­wickelt?
- Wasserschloss und Wetter­maschine: Welche Rolle spie­len die Alpen für das Wet­ter?
- Umweltschutz und Arten­viel­falt: Welche Aus­wir­kun­gen hat der Klima­wandel auf Tiere und Pflan­zen im Alpen­raum?
- Konkrete Lösungs­vor­schläge für die Klima­krise: Wo wir jetzt ak­tiv wer­den müs­sen

Welche Folgen hat die Erderwärmung im Alpenraum?

»Das bisschen CO2 macht doch keinen Klima­wandel!« – »Kein Pro­b­lem, wenn es wär­mer wird. Warm­zei­ten waren im­mer gut für die Men­schen!« Mit Irr­tü­mern und Falsch­in­for­ma­tionen die­ser Art räumt Andreas Jäger in sei­nem Buch auf. Er be­ant­wor­tet häu­fig ge­stellte Fra­gen rund um den Klima­wandel mit­hilfe wis­sen­schaft­licher Fakten und ord­net die In­for­matio­nen in ei­nem größeren Kon­text ein.
Sein Buch ist nicht nur ein aufrüttelndes Plä­do­yer, jetzt im Kampf ge­gen die Klima­krise aktiv zu werden. Der Autor hat auch eine hoffnungs­volle Bot­schaft: Noch ist es nicht zu spät!

Posted by Wilfried Allé Tuesday, October 25, 2022 11:01:00 AM Categories: Sachbücher/Natur Technik/Naturwissenschaft
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Energierevolution jetzt! 

Mobilität, Wohnen, grüner Strom und Wasserstoff: Was führt uns aus der Klimakrise – und was nicht?

von Volker Quaschning , Cornelia Quaschning

ISBN: 9783446273016
Verlag: Hanser, Carl
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 24.01.2022
Preis: € 20,60

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Welche Wege führen uns aus der Klima­krise und welche nicht? Ver­ständ­lich er­klärt vom „Drosten der Klima­ka­tas­trophe“ (Manfred Ronzheimer, taz) und Ini­ti­a­tor der „Scien­tists for Future“-Be­we­gung.
Wie kommen wir aus der Klima­krise? Reicht die Ener­gie von Son­ne und Wind? Sind Elektro­autos wirk­lich um­welt­freund­lich? Ist Was­ser­stoff der Heils­brin­ger? Was kön­nen wir sel­ber tun, auch wenn es uns schwer­fällt, un­se­re Lebens­gew­ohn­hei­ten zu än­dern? Sol­che Fra­gen stellt man am bes­ten Volker Qua­schning, einem der welt­weit füh­ren­den Ex­per­ten für re­ge­ne­ra­ti­ve Ener­gien. Mit sei­ner Frau Cor­nelia Qua­schning er­klärt er an kon­kre­ten Bei­spie­len, wie der Um­stieg auf eine nach­hal­ti­ge Wirt­schaft ge­lin­gen kann. Aber eines machen die bei­den auch klar: Die Zeit wird knapp. Eine Ener­gie­wen­de reicht nicht, es braucht eine Ener­gie­re­vo­lu­tion.

FALTER-Rezension:

Was führt uns aus der Energie­krise - und was nicht?

Eine Energiewende reicht nicht mehr, es braucht eine Re­vo­lu­tion: So lau­tet die Kern­bot­schaft im neu­en Buch von Vol­ker und Cor­ne­lia Qua­schning. Der Ber­li­ner Pro­fes­sor für Re­ge­nera­tive Ener­gie­sys­teme ver­sucht seit Jahren, die Poli­tik zum Han­deln zu be­we­gen. Er hat die Scient­ists for Fu­ture mit­be­grün­det und ge­mein­sam mit an­de­ren Klä­gern er­reicht, dass das deut­sche Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt die Klima­schutz­ge­setz­geb­ung im April 2021 für teil­wei­se ver­fas­sungs­wid­rig er­klärte. Nun ha­ben er und Ehe­frau Cornelia, Informatikerin und Co-Host des gemeinsamen Podcasts "Das ist eine gute Frage", leserfreundlich Stand und Perspektiven der Energiewende in je­dem Le­bens­be­reich zu­sammen­ge­fasst, vom Ver­kehr über das Woh­nen bis zur Er­näh­rung. Was hilft uns da raus - und was sind die Irr­wege, lau­ten die zen­tra­len Fra­gen.

Die einzige Option, um die Selbst­ver­pflich­tun­gen im Rah­men der Pa­ri­ser Klima­ver­trä­ge ein­hal­ten zu kön­nen, sei in unse­ren Brei­ten­gra­den der kon­se­quen­te Aus­bau von Wind-und Solar­ener­gie. Zwei Pro­zent der Flä­che Deutsch­lands müssten dem­nach mit Wind­parks be­stückt werden, dazu braucht es die In­stal­la­tion von Solar­pa­ne­len in großem Stil. "Macht eure Dächer voll!", plä­die­ren die Qua­schnings. Bei der Wind­kraft wol­len sie "Schluss mit den Vor­ur­tei­len" ma­chen. Aber wie ist das mit E-Au­tos, sind die wirk­lich um­welt­freund­lich? Müs­sen wir dem Klima zu­liebe künf­tig im Win­ter frie­ren? Ist der Was­ser­stoff die Lö­sung? (Spoiler: Nein, weil zu teuer; eignet sich auch nur punk­tuell, etwa im Schiffsverkehr.) Müssen wir zur alten Kern­ener­gie zu­rück?(Nein!)

Seit 30 Jahren, so schreiben die beiden, würden sie ver­su­chen, et­was ge­gen die Um­welt-und Kli­ma­krise zu unter­nehmen, auch in ihrem pri­va­ten Le­ben. Dass das emis­sions­arme Le­ben öde sei, ver­nei­nen sie vehe­ment: "Un­sere span­nen­ds­ten Rei­sen wa­ren die im Nacht­zug nach Wien oder bis zum Polar­kreis!" Kennt­nis­reich, ideo­lo­gie­frei und un­wider­steh­lich opti­mis­tisch.

Sebastian Kiefer in Falter 41/2022 vom 14.10.2022 (S. 32)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 12, 2022 9:33:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Heilung für eine verstörte Republik 

von Helmut Brandstätter

ISBN: 9783218013635
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.08.2022
Preis: € 22,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Wir müssen verstehen lernen, wie sehr das Ver­trauen der Men­schen in Öster­reich miss­braucht wurde, und vor allem: Wie es dazu kom­men konnte, dass sich so viele so lange täu­schen ließen.“

Die Politik verwundet Menschen. Und Men­schen, die die Po­li­tik nur als ihr per­sön­li­ches Spiel­feld ver­ste­hen, ver­wun­den das ihnen an­ver­traute Land und die Wäh­ler*innen, die sie einst ins Amt brach­ten. Die Jahre, in denen die Grup­pe um Sebas­tian Kurz Öster­reich do­mi­nier­te, ha­ben das Land und Ins­ti­tu­tio­nen wie Jus­tiz, Ver­wal­tung, Par­la­ment und Me­dien nach­hal­tig ver­letzt und die Bür­ger*­innen aus­ge­rech­net in Kri­sen­zei­ten ge­spal­ten.

Eine unsichere Gesell­schaft sucht Hei­lung. Öster­reich, das – nicht zum er­sten Mal – auf ei­nen großen Blen­der herein­ge­fal­len ist, braucht Orien­tie­rung, ge­rade jetzt, wo ein Krieg ganz Eu­ro­pa be­droht. Die tür­kise Re­gie­rungs­zeit kann im Ideal­fall eine Zä­sur dar­stel­len: Schluss mit per­sön­li­chen Ab­hän­gig­kei­ten, mit der Kor­rup­tion, mit der Zer­stö­rung von Ins­ti­tu­tio­nen. Helmut Brand­stätter wagt einen Blick zu­rück in die po­li­ti­sche Ge­schich­te Öster­reichs und re­flek­tiert per­sön­li­che Er­leb­nis­se, um zu zei­gen, was in Zu­kunft ge­bo­ten ist, um ver­lo­re­nes Ver­trauen in Po­li­ti­ker*­innen wie­der­her­zu­stel­len. Denn Show-Po­li­tik be­rei­tet das Land auf kom­men­de Kri­sen nicht vor - und Neu­tra­li­tät allein garan­tiert keine Sicher­heit.

FALTER-Rezension:

Ein tiefer Blick zurück in die türkise Message Con­trol

Helmut Brandstätter beschreibt in seinem Buch "Hei­lung für eine ver­stör­te Re­pu­blik" die kur­ze Ära Sebas­tian Kurz (2017-2021). An­hand kon­kre­ter Bei­spie­le, was das Buch sehr lesens­wert macht, er­klärt der ehe­ma­lige Chef­re­dak­teur und Heraus­ge­ber des Kurier, heute Neos-Ab­ge­ord­ne­ter zum Natio­nal­rat, wie Kurz Öster­reich zu einem auto­kra­ti­schen Land "um­bauen" und "ge­gen das Sys­tem" re­gie­ren wollte. Die Volks­par­tei sollte eine "tür­kise Führer­be­we­gung" wer­den, die ge­gen alles Fremde agiert (Mi­gra­tion) und, wenn nötig, auch ge­gen EU-Nach­barn.
Eine Begegnung, die der Autor mit dem dama­li­gen Außen­mi­nis­ter und tür­ki­sen Spitzen­kan­di­daten für den Urnen­gang im Herbst 2017 hat­te, ist auf­schluss­reich und gibt den kri­ti­schen, ab­rech­nen­den Grund­ton des Buches vor: "Ich er­war­te die Unter­stüt­zung des Kurier bei der Natio­nal­rats­wahl", sagte Sebas­tian Kurz. Brand­stätter lehnte ab, er poch­te auf pro­fes­sio­nelle Prin­zi­pien und die Un­ab­hän­gig­keit der Zei­tung. Schnell war klar, dass der Jour­na­list im Denk­schema von Kurz seine Zu­ord­nung be­kam: "Ich werde sein Feind", schreibt der Autor.

Message Control, Lügen, Unter­werfung, Miss­brauch von Me­dien durch In­se­raten­kor­rup­tion, Popu­lis­mus und fal­sche Ver­spre­chen wa­ren die Mit­tel, die Kanz­ler Kurz ein­setzte. So wur­de das am hef­tigs­ten be­kämpfte Vor­ha­ben der tür­kis-blau­en Koa­li­tion, die Fu­sion von 21 auf fünf So­zial­ver­si­che­rungs­trä­ger, ein Flop. Im Juli 2022 be­stä­tigte der Rech­nungs­hof in einem Roh­be­richt, dass sich die "Pa­tienten­mil­liarde" in Luft auf­ge­löst hat­te. Die Zu­sammen­le­gung der Kran­ken­kas­sen brachte keine Ein­spa­rung, son­dern Mehr­kosten in Höhe von 215 Mil­li­onen Euro.

Helmut Brandstätter widmet sich auch aus­führ­lich den At­tacken von Sebas­tian Kurz auf Säu­len des Staates wie Ver­wal­tung, Par­la­ment, Me­dien und Jus­tiz, wie die Wirt­schafts-und Kor­rup­tions­staats­an­walt­schaft (WKStA). So sprach der Kanz­ler vor der Ein­set­zung des "Ibiza-Unter­suchungs­aus­schusses be­tref­fend mut­maß­li­che Käuf­lich­keit der tür­kis-blauen Bun­des­re­gie­rung" von "ro­ten Netz­wer­ken" in der WKStA, ohne dies be­le­gen zu kön­nen. Sein Ziel war es, Ins­ti­tu­tio­nen zu dis­kre­di­tie­ren oder sie zu zer­schlagen.

Nach der Lektüre wird einem noch mehr bewusst, dass Sebas­tian Kurz an Show-Poli­tik, fri­sier­ten Um­fra­gen und In­se­raten­deals schei­ter­te, sei­ne un­seriö­sen und un­mora­li­schen Me­tho­den brach­ten ihn zu Fall. Die öf­fent­lich be­kannt ge­wor­de­nen Chats be­wei­sen das und las­sen tief bli­cken in das "Sys­tem Kurz". Am 9. Okto­ber 2021 musste der Kanz­ler auf Druck des grü­nen Koa­li­tions­part­ners das Amt zu­rück­le­gen, we­nige Wo­chen spä­ter trat er von al­len Funk­tio­nen zu­rück. "In ei­nem ist Sebas­tian Kurz gut ge­we­sen: im Ver­führen", be­schreibt ihn die dä­ni­sche Zei­tung Poli­tiken.

Kritisch analysiert Brandstätter, wie sehr durch die Art des Han­delns von Kurz das Ver­trau­en in die Poli­tik ver­loren ge­gan­gen ist. Um die­ses wie­der her­zu­stel­len, zeigt er an zehn Bei­spie­len auf, was pas­sie­ren muss, um die Re­pu­blik zu ret­ten. Er spricht dabei von "Hei­lung".

Dabei würden Reformen, Bereitschaft zur offenen Dis­kus­sion, Trans­pa­renz, in­halt­li­che Kom­pe­tenz des poli­ti­schen Per­so­nals und eine bes­sere Bil­dung aller Bür­ger­in­nen und Bür­ger schon ge­nügen.

Helmut Brandstätters Blick zu­rück auf die Kurz-Jahre ist Pflicht­lek­türe für alle an Öster­reichs Innen­po­li­tik Inter­essier­ten. Seine Ana­ly­se ver­dich­tet sich in sei­nen per­sön­li­chen Er­leb­nis­sen zu ei­nem um­fas­sen­den Charak­ter-und Sit­ten­bild.

Margaretha Kopeinig in Falter 39/2022 vom 30.09.2022 (S. 23)

Posted by Wilfried Allé Monday, October 3, 2022 10:49:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Atlas der Zukunft 

100 Karten, um die nächsten 100 Jahre zu überleben

von Ian Goldin , Robert Muggah

ISBN: 9783832199999
Verlag: DuMont Buchverlag/td>
Format: Hardcover
Genre: Reisen/Karten, Stadtpläne, Atlanten
Umfang: 512 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.07.2021
Übersetzung: Tobias Rothenbücher
Preis: € 46,30

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das Leben auf unserer Welt hat sich in den letzten Jahr­zehnten deut­lich ver­än­dert, 2020 be­son­ders weit­rei­chend, und viele Um­brüche kom­men noch auf uns zu. Unsere ge­wohn­ten Land­karten, so­wohl die im Kopf als auch die phy­si­schen, sind nicht mehr zweck­dien­lich. Nicht die Auf­glie­de­rung in Staats­ge­biete, son­dern die Dar­stel­lung von grenz­über­schrei­ten­den As­pek­ten wird die Zu­kunft der Kar­to­gra­fie be­stim­men und für das ge­mein­same Han­deln nütz­lich sein. Auf der Grund­lage jahr­zehnte­lan­ger For­schung kom­bi­nie­ren Ian Goldin und Robert Muggah Sa­tel­li­ten­bil­der und Pro­jek­ti­onen mit ihren auf­schluss­rei­chen Ana­ly­sen. Sie offen­baren vie­le tief­grei­fende Un­gleich­hei­ten, die für die Men­schheit es­sen­ziell wer­den, wenn die großen The­en wie z. B. Glo­ba­li­sie­rung, Kli­ma, Ver­städte­rung, Geo­poli­tik, Mi­gra­tion, Er­näh­rung und Bil­dung nicht an­ge­gan­gen werden.
Der ›Atlas der Zukunft‹ er­mög­licht einen um­fas­sen­den Blick auf glo­ba­le Trends, die unsere Welt neu ge­stal­ten. Dieses Buch bietet eine Aus­sicht nicht nur auf die Heraus­for­de­run­gen, vor de­nen wir ste­hen, son­dern auch da­rauf, wie wir sie mit den rich­ti­gen Da­ten und In­for­ma­tio­nen in den Griff be­kom­men können.

FALTER-Rezension:

"Die Entscheidung übers Klima fällt im Amazonas"

Es sind schier unglaubliche Dimen­sionen: Der größte tro­pi­sche Regen­wald der Welt, der Ama­zo­nas, er­streckt sich über acht Län­der, be­her­bergt 60 Pro­zent der Tropen­wälder der Welt, 20 Pro­zent aller Süß­was­ser­re­ser­ven und zehn Pro­zent der ge­sam­ten Bio­di­ver­si­tät. Wie kann man diese Viel­falt schützen und gleich­zei­tig von den ge­wal­ti­gen Res­sour­cen pro­fi­tie­ren, die ein sol­cher Ort lie­fert? Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler, Autor und Grün­der des bra­si­lia­ni­schen Think­tanks "Igarapé Institute" Ro­bert Muggah ist für das Hu­ma­ni­ties Fes­ti­val des Insti­tuts für die Wis­sen­schaf­ten vom Men­schen in Wien. Dort spricht er über das Po­ten­tial von Bio­öko­no­mie und die Be­deu­tung des Ama­zo­nas für uns alle. Der Fal­ter hat ihn im Vor­feld ge­trof­fen.
Falter: Herr Muggah, Sie ha­ben in den letz­ten Jah­ren an allen mög­li­chen The­men ge­ar­bei­tet, von Städte­wachs­tum bis hin zu Sicher­heits­fragen. Warum kon­zen­trie­ren Sie sich jetzt auf den Ama­zonas?

Robert Muggah: Ich habe versucht, glo­bale Mega­trends zu ver­stehen, und mei­nen Fokus für mein Buch "Atlas der Zu­kunft" auf jene ge­legt, die un­auf­halt­sam sind, wie die di­gi­tale Trans­for­ma­tion und den Klima­wandel. Ich lebte ge­rade in Bra­si­lien und beim Schrei­ben wurde mir klar, dass viele die­ser Trends im Ama­zo­nas zu­sam­men­lau­fen. Er ist grund­le­gend mit der Glo­ba­li­sie­rung ver­bun­den. Wir fin­den dort sel­tene Erden wie Nickel, Li­thium, Gold, aber auch große An­bau­ge­biete für Soja, Rin­der, Zucker, Holz. Wir se­hen, dass die Leute den Ama­zo­nas als die­ses rie­sige, un­be­rühr­te Ge­biet be­trach­ten, aber tat­säch­lich ist er seit Tau­sen­den von Jah­ren be­wohnt. Die Mi­gra­tion nimmt zu, weil die Jagd nach Res­sour­cen zu­nimmt. Da­durch wurde vor allem Bra­si­lien auch zu einem der ge­walt­tä­tig­sten Orte der Welt.

Wie groß ist die ökologische Bedeutung des Amazonas?

Muggah: Er reguliert das globale Klima mit. Um das in Per­spek­ti­ve zu rücken: Der Ama­zo­nas ist rie­sig, sie­ben Mil­lio­nen Qua­drat­kilo­meter groß, Öster­reich hätte 80 Mal Platz. Er lie­fert enorm viel Sauer­stoff und spei­chert enorm viel Kohlen­stoff. Heu­te stehen wir aber vor einem so­ge­nann­ten "dieback" - Wald­ster­ben auf­grund von Hitze­stress, Trocken­heit und der fort­schrei­ten­den Ent­wal­dung. Und sind da­durch nah an einem ge­wal­ti­gen Wende­punkt: Die größte Kohlen­stoff­senke der Welt könnte zu einem der größ­ten Kohlen­stoff­emit­ten­ten wer­den. Die Wis­sen­schaft­ler Carlos Norbe und Thomas Lovejoy be­rech­neten, dass der Ama­zo­nas kip­pen könnte, so­bald 20 bis 25 Pro­zent der Wald­fläche ver­lo­ren ge­gan­gen sind. Heute pos­tu­lie­ren Wis­sen­schaft­ler, dass be­reits 18 Prozent ab­ge­holzt wur­den. Mit an­de­ren Wor­ten: Wir sind nur ein paar Pro­zent­punk­te von einem Ka­ta­s­t­ro­phen­sze­na­rio ent­fernt. Man­che Teile im Sü­den dürf­ten schon ge­kippt sein, sie pro­du­zie­ren jetzt Kohlen­stoff und sind im Über­gang zu einer Sa­van­ne. Die etwas bes­sere Nach­richt ist, dass der west­li­che Ama­zo­nas noch in­tak­ter zu sein scheint und Po­ten­zial zur Re­si­lienz zeigt, wider­stands­fähig ist.

Was bedeutet das für jemanden außerhalb des Ama­zo­nas­becken, je­manden in Öster­reich?

Muggah: Was im Amazonas passiert, bleibt nicht im Ama­zo­nas. Der Zu­sam­men­bruch wäre nicht nur für die lo­ka­len Öko­sys­teme ka­tas­tro­phal, son­dern auch für die glo­bale Erd­er­wär­mung. Wenn sich Tro­pen­wald in Sa­vanne ver­wan­delt, ver­län­gern sich Trocken­zei­ten, Nieder­schläge nehmen ab. Der Ama­zo­nas würde dann bis zu 90 Mil­liar­den Ton­nen Kohlen­stoff aus­spucken. Das ent­spricht den Emis­sio­nen der ge­sam­ten Welt­be­völ­ke­rung in sie­ben Jahren. Wenn das pas­siert, än­dern sich auch glo­ba­le Wet­ter­mus­ter, Stoff­kreis­läu­fe, Meeres­strö­mun­gen. Denn der Ama­zo­nas setzt auch eine enorme Menge Was­ser­dampf frei, wir nen­nen das flie­gen­de Flüs­se. Mil­liar­den Ton­nen Was­ser, die Re­gen­zei­ten füt­tern und Flüsse auf­füllen.

Wie schnell könnte der Wald kippen?

Muggah: Wir wissen es nicht genau, nur dass es da­durch zu Wel­len­ef­fek­ten kommt, die das Pari­ser Ab­kommen tor­pe­die­ren. Unter dem bra­si­lia­ni­schen Prä­si­den­ten Jair Bol­so­na­ro, der 2018 ge­wählt wurde, ha­ben wir eine Be­schleu­ni­gung der Ent­wal­dung ge­sehen. Wenn er die zwei­te Amts­zeit ge­winnt, ha­ben wir eine sehr be­grenz­te Chance, die­ses Ab­ster­ben rück­gän­gig zu ma­chen. Wenn sein Geg­ner Luiz Inácio Lula da Silva ge­winnt, sieht es bes­ser aus.

Sie sagen in einem TED-Vortrag, dass 95 Prozent der Ent­wal­dung im Ama­zo­nas il­legal pas­siert. Wer steckt da­hin­ter und mit wel­chen Mo­ti­ven?

Muggah: Zwischen 30 und 35 Millionen Menschen leben im Ama­zo­nas. Nach­kom­men von Euro­päern, die wäh­rend der Kolo­nial­zeit kamen, hun­der­te von in­di­ge­nen Grup­pen, man­che von ihnen un­kon­tak­tiert, afro­bra­si­lia­nische Ge­mein­schaf­ten, die ver­sklavt wur­den, um Gummi zu zap­fen oder Kaf­fee zu pro­du­zie­ren. Viele wur­den ge­zwun­gen, hier­her zu mi­grie­ren, pa­ral­lel zu einem welt­weit wach­sen­den Ap­petit auf Roh­stoffe. Frü­her war das Kaut­schuk, heute ist Bra­si­lien eine Agro­super­macht und ein Berg­bau­gi­gant. Es geht also nicht nur um Ein­hei­mische, die Bäume fäl­len, um Platz für Dör­fer zu machen, son­dern um rie­sige Unter­nehmen. Die­ses Jahr haben wir die höchste Ent­wal­dungs­rate seit 15 Jah­ren ge­sehen: 13.000 Qua­dra­tkilo­meter, etwa ein Fünf­tel der Fläche Öster­reichs. Und die Ent­wal­dung hat seit Bol­so­na­ros Amts­an­tritt um 70 Pro­zent zu­ge­nom­men. Die Haupt­ur­sache ist Land­raub, der Bo­den ist mehr wert, wenn er ab­ge­holzt ist. Da­nach wird kaum ge­fahn­det, es gibt also kaum An­reize, das legal zu tun. Zwei­tens zah­len große land­wirt­schaft­liche Er­zeu­ger Land­be­sit­zern für den Zu­gang zu Land, um­gehen so die Ge­setze. Da­zu kommt il­le­ga­les Schür­fen nach Gold, für das oft Flüs­se mit Queck­sil­ber ver­gif­tet wer­den.

Aber wie kann es sein, dass so viel davon illegal pas­siert? Den Groß­teil der Pro­dukte, von denen Sie spre­chen, im­por­tie­ren EU-Staaten täg­lich.

Muggah: Die Rohstoffe werden am Schluss einer langen il­le­galen Kette in le­gale Liefer­ket­ten ein­ge­spült. In­ves­toren zah­en Leute, um das Land zu ko­lo­nia­li­sie­ren; kor­rup­te Mak­ler lie­fern Li­zen­zen; die Poli­zei wird Kom­pli­ze bei der Zu­las­sung; und am Ende stehen Händ­ler und Käu­fer. Es ist also nicht ein ein­zel­ner Ma­fio­so, es ist eine stark ver­teil­te, de­zen­tra­li­sier­te und weit ver­brei­tete Krimi­na­li­tät mit Bra­si­lien als Ort, wo all das zu­sam­men­kommt.

Wie sehr hat Jair Bolsonaro diese illegale Abholzung in diesem Um­fang über­haupt erst mög­lich ge­macht?

Muggah: Bolsonaro ist der Sohn eines Gold­wäschers, hat sei­nen Wahl­kampf mit Anti-Um­welt-Themen be­strit­ten. Er leug­net nicht nur die Exis­tenz des Klima­wan­dels, er führt Krieg ge­gen die Natur. Ak­ti­vis­ten ha­ben ihm be­reits Öko­zid und so­gar Völker­mord vor­ge­wor­fen. Bol­so­na­ro hat seit sei­nem Amts­an­tritt sys­te­ma­tisch Schutz­ge­biete und indi­gene Ter­ri­to­rien ab­ge­baut. Er hat Leu­ten Am­nes­tie ge­ge­ben, denen il­le­ga­le Ab­hol­zung oder Berg­bau vor­ge­wor­fen wird. Er be­schützt die Garimpeiros, il­le­gale Gold­sucher, die seine po­li­ti­sche Basis bil­den. Er hat Be­hör­den ent­mach­tet, die Um­welt­ver­bre­chen ahnden, in­klu­sive IBAMA, die größte Um­welt­schutz­be­hörde Bra­si­liens. Er hat Kam­pag­nen ge­gen Um­welt­schützer und in­di­ge­ne Ak­ti­vis­ten hoch­ge­fahren, was Bra­si­lien mittler­weile zu einem der ge­fähr­lichs­ten Län­der der Welt macht. Und - das ist fast am schlimmsten - er hat ein Klima für Bauern und Vieh­züch­ter ge­schaf­fen, um un­ge­straft zu han­deln. Brand­ro­dung hat da­durch ein ganz neues Level er­reicht. All das hat auch Kon­se­quen­zen im Aus­land: Nor­wegen und Deutsch­land ha­ben die Fi­nan­zie­rung des Ama­zo­nas-Fonds be­endet, ein mil­liar­den­schwe­rer Wie­der­auf­fors­tungs­topf. Es ist eine Art Blitz­krieg der Richt­linien und Ge­setze.

Am 2. Oktober wählt Brasilien eine neue Regierung. Falls Bol­so­na­ro ge­hen muss: Wie könnte der Scha­den rück­gän­gig ge­macht werden?

Muggah: Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die­se Wahl über das Schick­sal des Ama­zonas­beckens ent­schei­det. Laut ak­tu­el­len Um­fra­gen liegt Lula vor Bol­so­na­ro. Er hat be­reits Net­to-Null-Ent­wal­dung ver­spro­chen, und grüne Agrar­kre­di­te ein­zu­führen, um An­reize für nach­hal­tige Prak­ti­ken zu schaf­fen. Aber wa­rum sollten wir ihm glau­ben? Zwi­schen 2003 und 2010, als er Prä­si­dent war, ging die Ent­wal­dung um mehr als 84 Pro­zent zu­rück. Auch wenn man da­zu­sa­gen muss, dass selbst in die­sem Sys­tem nur drei Pro­zent der Buß­gel­der für ille­ga­le Ab­hol­zung ge­zahlt wur­den. Er hat rie­sige Schutz­ge­biete ge­schaf­fen, auch für die in­di­ge­ne Be­völ­ke­rung. Er er­mu­ti­gte Land­be­sitzer, ihr Land zu re­gis­trie­ren, da­vor gab es eine Menge Streit um Eigen­tum. Er hat die Wis­sen­schaft ge­stärkt, die il­le­ga­le Ab­hol­zung moni­to­ren konnte, Natio­nal­parks an­ge­legt und einen Öko­touris­mus-Boom ge­star­tet.

In einem Ihrer Projekte verwenden Sie Satellitendaten, um die Folgen dieser Um­welt­zer­stö­rung bes­ser zu ver­folgen. Was könnte sich da­durch än­dern?

Muggah: In den letzten Jahren ist der Zu­gang zu Techno­lo­gien ex­plo­diert. Da­durch haben sich auch Trans­pa­renz und Rechen­schafts­pflicht in Be­zug auf Krimi­na­li­tät und Ent­wal­dung ver­bes­sert. In Bra­si­lien haben wir ein Sys­tem ein­ge­rich­tet, um Wäl­der nahe­zu in Echt­zeit zu über­wachen. Wir ver­wen­den Satel­liten­daten der bra­si­liani­schen Wis­sen­schafts­agen­tur, aber auch aus pri­vaten Quellen, in einer Auf­lö­sung, die es bis­her nicht ge­ge­ben hat. Wir zei­gen nicht nur, dass ent­wal­det wird, son­dern auch, auf wel­che Weise. Das kom­bi­nieren wir mit Infos zu Ver­brechen. So kön­nen wir ver­stehen, wo die Hot­spots der Il­le­ga­li­tät sind. Wir wol­len Trans­pa­renz schaf­fen, für Medien, aber vor allem auch für die Fi­nanz­branche, den Roh­stoff­sek­tor. Zu lange konnten wir uns auf ge­wisse Weise vor der Rea­li­tät im Ama­zo­nas ver­stecken. Aber die Krimi­na­li­tät, der feh­lende Natur­schutz, kann nicht län­ger igno­riert wer­den.

Die EU ist für 16 Prozent der globalen Entwaldung ver­ant­wortlich. Das EU-Par­la­ment hat vor zwei Wo­chen für ein Ge­setz ge­stimmt, das die­sen Pro­zess ein­däm­men soll. Wie sehr könnte das das Pro­blem im Ama­zo­nas lösen?

Muggah: Das ist vielleicht der Lichtblick in dieser düsteren Ge­schichte. Die Be­mü­hungen der EU sind wich­tig. Das neue Anti-Ent­waldungs­ge­setz würde Pro­dukte ver­bieten, die mit der Zer­stö­rung von Wäl­dern oder Men­schen­rechts­ver­letzungen ver­bunden sind. Unter­nehmen müs­sen also Rechen­schaft ab­legen. Wir kön­nen hof­fen, dass der so­ge­nannte Brüs­sel-Effekt ein­tritt, sich die Ge­setz­ge­bung der EU also auf das Ver­hal­ten ande­rer Märkte aus­wirkt. Es sind Schrit­te in die rich­tige Rich­tung, aber wir müs­sen sicher­stel­len, dass all das in einer Ge­schwin­dig­keit er­folgt, die an­ge­sichts der Dring­lich­keit der Krise er­for­der­lich ist.

Wer kann hier Druck erzeugen?

Muggah: Am wichtigsten sind die Menschen in den Regionen selbst. Wir hö­ren im­mer mehr in­di­ge­ne Stim­men, Wis­sen­schaft­ler. Wir se­hen Wirt­schafts­führer, die Koa­li­tio­nen bil­den und in nach­hal­tige Forst­wirt­schaft in­ves­tie­ren. Selbst die Welt­bank unter­stützt eine Art Clus­ter grü­ner Fonds und ver­sucht, natur­freund­li­che In­ves­ti­tio­nen zu be­schleu­ni­gen. Wir se­hen, dass große Unter­nehmen - auch wenn ich hier zu Vor­sicht mahne - wie Black­Rock oder JBS, der größte Fleisch­pro­du­zent der Welt, be­gin­nen, in Wieder­auf­fors­tung und CO2 Aus­glei­che zu in­ves­tie­ren. Wir se­hen lo­ka­le Poli­ti­ker, die Al­li­an­zen schmie­den. Und auch Re­gie­run­gen, etwa in Ko­lum­bien unter dem Prä­si­den­ten Gustavo Petro, spre­chen sich stär­ker für den Schutz des Ama­zo­nas aus. Wir brau­chen aber kein perio­di­sches Fahnen­schwin­gen, wir brau­chen einen ste­ti­gen Trom­mel­schlag.

Sie setzen viel Hoffnung auf eine grüne Wirtschaft. Wie können wir Green­washing ver­meiden?

Muggah: Es ist eine enorme Menge an Geld für In­ves­ti­tio­nen in die­sem Be­reich im Um­lauf, der grüne An­sturm auf Kohlen­stoff und Bio­di­ver­si­täts­gut­schrif­ten, also im We­sent­li­chen der Er­halt von Wäl­dern ge­gen Be­zahlung. Und es gibt eine De­bat­te über die Rea­li­sier­bar­keit, die Ef­fek­ti­vi­tät da­von. Da muss man auf­pas­sen. Aber wir hat­ten lange eine Dicho­tomie zwi­schen Er­hal­tung und Ent­wick­lung in der Re­gion. Es gibt Pu­ris­ten, die glau­ben, dass Wäl­der in­takt blei­ben müs­sen, frei von Men­schen und ihren Inter­ven­tio­en. Und es gibt eine an­dere Grup­pe, die sagt: Wald muss auf dem Al­tar der Ent­wick­lung ge­opfert wer­den. Die Ant­wort liegt irgend­wo in der Mit­te. Wir müs­sen eine Neu­be­wer­tung vor­nehmen und ver­stehen, wel­ches Po­ten­zial nach­hal­tige Wald­wirt­schaft hat. Eine Grup­pe von Ex­per­ten spricht von "Ama­zo­nas 4.0". Eine Wald­wirt­schaft, in der man schnell wie­der auf­fors­ten kann und gleich­zei­tig die außer­ge­wöhn­liche Bio­di­ver­si­tät schätzt - von Nüs­sen und Beeren über die Basis für Kos­me­ti­ka, Bio­techno­lo­gie und bis zu pharma­zeu­ti­schen Pro­duk­ten. Auch hier be­steht die Ge­fahr des Green­washings. Des­halb ist es ja so wich­tig, Rechen­schafts­pflicht und Trans­pa­renz in die­sen Pro­zess zu brin­gen.

Nehmen wir an, Lula gewinnt die Wahl, der Ama­zo­nas wird mehr ge­schützt, die Finanz­märkte schwin­gen um. Ist es wirk­lich so ein­fach, be­reits ab­ge­holzte Ge­biete auf­zu­fors­ten und die Kom­plexi­tät der Bio­di­versi­tät, die es da­vor dort gab, wieder­her­zu­stellen?

Muggah: Die einfache Antwort auf diese Frage ist, dass wir es ver­su­chen müs­sen. Wir haben keine Alter­na­tive, wenn wir ein regio­na­les und glo­ba­les Kli­ma haben wol­len, in dem es sich zu leben lohnt. Laut der Wis­sen­schaft bleibt uns ein Jahr­zehnt, um damit zu be­gin­nen, die Ent­wal­dung auf null zu brin­gen. Oder wir wer­den Rück­kopplungs­schlei­fen se­hen und kön­nen uns vom Pari­ser Klima­ab­kom­men ver­ab­schie­den.

So wie Sie das schildern, steht gerade alles auf dem Spiel.

Muggah: Es ist das Außergewöhnliche unserer Zeit: Zu 99 Pro­zent der 300.000-jäh­rigen Ge­schich­te als Homo sapiens hat­ten wir keine Ahnung, was um uns herum pas­sier­te. Wir wis­sen heu­te nicht nur über die letz­ten 300 Jahre Be­scheid, son­dern ha­ben auch ein gu­tes Ge­spür für Lö­sun­gen, die die Zu­kunft be­tref­fen. Gleich­zei­tig ha­ben wir nur zehn bis 30 Jahre Zeit, um kri­ti­sche Pfade ein­zu­len­ken. Es ist ein furcht­er­re­gen­der Mo­ment, um am Le­ben zu sein, aber auch ein wirk­lich er­staun­licher. Die Ent­schei­dung über unser glo­ba­les Klima­sys­tem fällt hier im Ama­zo­nas.

Welche Rolle spielen indigene Völker in der Bewäl­ti­gung dieser Krisen?

Muggah: Allein in Brasilien leben mindestens 300 indi­gene Ge­mein­schaf­ten, hun­derte wei­tere in Peru, Ko­lum­bien und den an­de­ren Ama­zonas­län­dern. Viele von ihnen setzen sich in­ten­siv für den Schutz der Wäl­der ein. Aber sie ge­hören auch zu den­jeni­gen, die am an­fäl­ligs­ten für die Über­grif­fe der Agrar­unter­nehmen, Berg­bau­kon­zerne oder Wild­tier­händ­ler sind. Morde an Um­welt­schüt­zern, Ein­schüchte­rungen, Be­läs­ti­gungen sind sprung­haft an­ge­stiegen.

Erst im Sommer wurden der Indigenen-Experte Bruno Pereira und der Guardian-Jour­na­list Dom Philipps er­mordet.

Muggah: Dom Philipps war ein guter Freund von mir. Es gibt Dutzende wei­tere Fälle. Bra­si­lien ist der­zeit das viert­ge­fähr­lichste Land der Welt für Um­welt­akti­vis­ten. Mein Insti­tut ver­sucht des­halb auch, direkt mit in­di­ge­nen Frauen­netz­wer­ken zu­sam­men­zu­ar­bei­ten, ihnen zu hel­fen, die Be­dro­hungen und Ri­si­ken zu do­ku­men­tie­ren, denen sie aus­ge­setzt sind.

Wie sieht es mit dem indigenen Wissen darüber aus, wie man diese Gebiete bewahrt, wieder aufforstet?

Muggah: Wir kennen nur etwa ein Prozent der Bio­di­ver­si­tät des Ama­zo­nas. Wenn Sie Zeit mit in­di­ge­nen Ge­mein­schaf­ten ver­brin­gen, mer­ken Sie, wie viel sie über ihre Um­welt wis­sen. Wir sollten in­di­ge­ne Ge­mein­schaf­ten des­halb nicht nur als Opfer, son­dern auch als wich­ti­ge Agen­ten in der Trans­for­ma­tion des Ama­zo­nas se­hen. Sie se­hen ihre Um­welt als inte­grier­tes Gan­zes, ern­ten nur das, was sie brau­chen. Und es gibt das Ver­ständ­nis, an meh­re­re zu­künf­tige Gene­ratio­nen zu den­ken. Die­ses Be­wusst­sein wird auch glo­bal im­mer wich­ti­ger: Wir müs­sen die Zu­kunft des Pla­ne­ten nicht nur für un­sere Kin­der, son­dern viele Gene­ra­tio­nen da­rü­ber hi­naus si­chern.

Katharina Kropshofer in Falter 39/2022 vom 30.09.2022 (S. 50)

Posted by Wilfried Allé Sunday, October 2, 2022 10:22:00 AM Categories: Atlanten Reisen/Karten Stadtpläne
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Wilde Genüsse 

Enzyklopädie und Kochbuch der essbaren Wildpflanzen

von Margot Fischer

ISBN: 9783854764335
Verlag: Mandelbaum Verlag eG
Format: Buch
Genre: Ratgeber/Essen, Trinken/Themenkochbücher
Umfang: 808 Seiten
Erscheinungsdatum: 15.09.2014
Reihe: Mandelbaums Feine Gourmandisen
Preis: € 59,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das Standardwerk der essbaren Wild­pflanzen
Seit Jahren empfiehlt Margot Fischer be­reits, das Un­kraut bes­ser auf­zu­essen, als che­misch zu ver­nich­ten!
Ihr umfassendes Nachschlage­werk, es ist Koch­buch und En­zy­klo­pä­die der ess­baren Wild­pflan­zen in einem, er­scheint nun in neuer, er­wei­ter­ter Auf­lage und ver­bes­ser­ter Aus­stat­tung: zwei Bän­de im Schu­ber, er­wei­tert durch Farb­foto­gra­fien, die das Er­ken­nen der Pflan­zen er­leich­tern.
Das Buch lädt gleicher­maßen zum Schmö­kern in der Kul­tur­ge­schichte, zur ge­ziel­ten In­for­ma­tion über medi­zi­ni­sche An­wen­dun­gen oder zum ge­nuss­vol­len Nach­kochen von über 500 an­re­gen­den Re­zep­ten ein.
Hinweise auf Verwechslungs­möglich­keiten und mög­liche un­er­wünschte Wir­kun­gen machen eine sichere Be­stim­mung und Ver­wen­dung der Kräu­ter ein­fach. Hin­zu kommt eine um­fang­rei­che Über­sicht über die sai­so­nale Ver­wend­bar­keit von Trie­ben, Blät­tern, Blü­ten, Früch­ten, Samen, Wur­zeln und Säf­ten der kuli­na­risch ver­wend­baren Wild­pflan­zen Mit­tel­eu­ro­pas.

FALTER-Rezension:

Die Pflanzenwissen-Zusammenfügerin

Margot Fischer hat eine äußerst bunte Berufs­karriere. Unter anderem ist sie Ex­per­tin für ess­bare Wild­pflan­zen. Und die kann man auch im Herbst sam­meln. Ein Rund­gang.
Kaum auf der großen Wiese hinterm Lust­haus an­ge­kom­men, bückt sich Mar­got Fischer schon zum ers­ten Mal und zupft ein klei­nes, ge­fie­der­tes Blätt­chen ab, das aus­sieht wie eine zar­te, grüne Feder, und hält es einem zum Kosten hin. „Schaf­garbe“, sagt sie, „sie wird jetzt im Herbst schon ein biss­chen bit­ter, aber es ist ein super Ge­würz für Kräu­ter­auf­stri­che.“ Über­haupt könne man die Ernte­sai­son für vie­le ess­bare Wild­pflan­zen ver­län­gern, wenn man noch ein­mal hin­gehe, nach­dem die Wiese so wie hier vor kur­zem ge­mäht wor­den ist und man­che Pflan­zen so­gar jetzt im Herbst in Boden­nähe noch ein bisschen fri­sches Grün an­setzen.
Margot Fischer schreitet weiter aus. Sie ist eine kleine, fili­grane Frau mit schickem, blon­dem Kurz­haar­schnitt, einem schwar­zen Lack­leder­man­tel und schwar­zen Palla­dium-Boots. Kräu­ter­frauen stellt man sich an­ders vor. Sie spricht lei­se, kon­zen­triert und ein bisschen ab­ge­hackt. Es ist ein strah­lend son­niger, kalter Okto­ber­mor­gen. Der Wind treibt Wol­ken über den Him­mel. Ab­ge­fal­lene Blät­ter spren­keln Gras und Wege. Das Laub an den Zwei­gen hat schon be­gon­nen, sich zu ver­färben.
Es ist nicht viel los im grünen Prater. Ein paar Läufer, ein paar Spa­zier­gän­ger mit Hun­den, ab und zu weht es Stimm­fetzen aus dem Kinder­garten in der Aspern­allee herü­ber. Wenn Margot Fischer ihre Ex­kur­si­onen zu ess­ba­ren Wild­pflan­zen ver­an­stal­tet, dann tut sie das meis­tens an Or­ten wie die­sem: mit­ten in der Stadt und doch am Land. In der Natur und doch mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln zu er­rei­chen.
Wie zum Beispiel oben am Cobenzl im Wiener Wald. Oder eben hier rund um die großen Wie­sen und die Au­land­schaft beim Lust­haus-Wasser im Prater. „Hier wächst viel auf engs­tem Raum“, sagt sie und ist auch schon am Wald­rand an­ge­kom­men, wo sie ein paar Samen vom Kleinen Spring­kraut ab­zupft. Sie schmecken nus­sig und jetzt im Herbst, wenn sie schon etwas älter sind, auch pfeffrig. Sie ent­halten viel Öl und Ei­weiß und pas­sen gut in Sa­late. Wie lange, grüne Wild­reis-Na­deln lie­gen die Spring­kraut-Samen auf Margot Fischers be­hand­schuhter Hand­fläche: „Man soll eh so viel wie mög­lich da­von auf­essen, weil das Spring­kraut ein ziem­lich in­va­si­ver Neo­phyt ist“, scherzt sie.

Wer mit Margot Fischer unter­wegs ist, für den wird die Na­tur im Hand­um­drehen zu einem äußerst gut be­stück­ten Selbst­be­dienungs­laden: Wild­ge­müse und -kräu­ter, Samen, Beeren, Wur­zeln. „Allein in Mit­tel­eu­ro­pa exis­tie­ren mehr als 1600 ess­bare Wild­pflan­zen“, schreibt Margot Fischer in ihrem zwei­bän­di­gen Buch „Wilde Genüsse. Enzy­klo­pä­die und Koch­buch der ess­ba­ren Wild­pflan­zen“, das im Mandel­baum-Ver­lag er­schie­nen ist und eins der Stan­dard­werke zum Thema ist.
Natürlich handelt es sich bei der Lehre von den ess­ba­ren Wild­pflan­zen um ur­altes Wis­sen, aber für ihr eige­nes Leben ist Margot Fischer ganz allein drauf ge­kom­men. So könnte man es zu­min­dest for­mu­lieren.
Es ist eine Geschichte über be­schwing­ten Eigen­sinn, und sie geht so: Schon mit zwölf oder 13 fing Margot Fischer selbst zu kochen an. Und zwar „weil meine Mut­ter so schlecht ge­kocht hat. Sie war System­pro­gram­miererin und keine Haus­frau“, er­zählt sie heiter. Da traf es sich gut, dass die Toch­ter neu­gie­rig aufs Kochen war, gern ex­peri­men­tierte und viel mit Kräu­tern würzte.
Irgendwann bekam sie mit, dass viele der Würz­kräu­ter zu­gleich auch als tradi­tio­nelle Heil­kräuter im Ein­satz waren. Also wünschte sie sich ein Heil­kräuter­buch, be­kam es und stol­perte in einem Ab­satz über die Kul­tur­ge­schichte der Vogel­miere (Stellaria media) über die Infor­mation, dass diese auch als Wild­ge­müse ge­ges­sen werden kann. „Da hat’s bei mir Bing ge­macht“, er­zählt Margot Fischer, Jahr­gang 1958. Von da an fing sie an, sich in der Na­tur zu be­die­nen, wann immer sie an den drei Orten, an denen sie auf­ge­wach­sen ist, unter­wegs war – in Wien oder in Graz oder in Leoben „auf der G’stät­ten der Voest“: Sauerampfer, Amaranth, Melde, Vogel­miere, Wegerich, Gänse­blümchen. „Ich hab alles ge­kostet und ge­schaut, was mir schmeckt und was nicht.“
Es waren die 1970er-Jahre. Wild­pflanzen­koch­bücher, wie es sie seit eini­gen Jah­ren zu­hauf gibt, exis­tier­ten nicht. „Wenn, dann gab’s so Hefteln aus dem Kneipp-Ver­lag mit Re­zep­ten zur no­tori­schen Brenn­nessel­suppe und, wenn’s hoch kommt, ge­backe­nen Ho­lunder­blü­ten“, er­zählt Margot Fischer. Auf der ande­ren Seite, sagt sie, sei das gar nicht so schlecht ge­wesen, „da­durch war ich freier in meinem Zu­gang“. Sie sam­melte, las nach, kos­tete, kombi­nier­te, pro­bier­te aus, was zu­sammen­passte, und er­forschte, was auch ge­kocht noch gut aus­sah. Später während der Studien­zeit dann mischte Margot Fischer stän­dig Heil­tees zu­sam­men und kochte viel für Freun­de – immer auch mit Wild­pflan­zen, die sie am Stadt­rand, im Türken­schanz­park oder in Nuss­dorf am Beet­hoven­gang selber sam­melte. „Ich wollte mir auch im­mer sel­ber hel­fen kön­nen und von nichts und nie­man­dem ab­hän­gig sein“, er­zählt sie. Die ess­baren Wild­pflan­zen passten da gut ins Kon­zept. Eben­so der Um­stand, dass sie sich viele hand­werk­liche Fähig­keiten an­eig­nete.

Sie legte es definitiv nicht stromlinienförmig an. Im Rahmen eines selbst zu­sam­men­ge­stell­ten Stu­dium irregu­lare stu­dierte sie Er­näh­rungs­wissen­schaf­ten und jobbte da­neben als For­schungs­assis­ten­tin auf der Inten­siv­sta­tion des AKH. Aus die­ser Zeit sind ihr die Kon­takte zur Medi­zin ge­blie­ben. Bis heute ver­dient sie ein Gut­teil ihres Ein­kom­mens als „scien­ti­fic author“, indem sie für Ärzte etwa medi­zi­ni­sche Stu­dien de­signt oder engli­sche Fach­maga­zin­arti­kel schreibt. Sie ist Wis­sen­schaft­lerin, Pflan­zen­kun­dige und Köchin in Per­so­nal­union. Da über­rascht es kaum, dass sie auch zwei Res­tau­rants ge­führt hat – das Bayou am Karme­liter­markt in der Leo­pold­stadt, das auf Cajun-Kitchen aus Loui­siana spezia­li­siert war, und das Con­tor, eben­falls am Karme­liter­markt, eine klei­ne, fei­ne Wein­bar mit eini­gen aus­ge­suchten Speze­reien, die – unter an­derer Füh­rung – immer noch exis­tiert. Zu­dem ar­bei­tet sie als Er­nährungs­be­ra­terin, gibt Koch­kurse (siehe Margi­nal­spalte), stellt eine ei­gene klei­ne Spezi­ali­täten-Pro­dukt­linie her, führt Wild­pflan­zen-Ex­kur­sio­nen und schreibt Bücher. Neben der En­zy­klo­pädie und dem Koch­buch zu den Wild­pflan­zen hat sie auch ein Cajun-Kitchen-Koch­buch, Kin­der- und Jugend­bücher oder eine Reihe klei­ner, fei­ner kuli­na­risch-kul­tur­his­tori­scher Pflan­zen-Mono­gra­fien aus der „kleine gour­man­disen“-Reihe des Mandel­baum-Ver­lags ge­schrie­ben. Es ist ein ver­schlun­gener, höchst eigen­wil­liger Lebens­weg. Die ess­ba­ren Wild­pflan­zen haben sie im­mer da­bei be­glei­tet. Man kann ge­trost be­haup­ten, dass sie in puncto ess­barem Wild­ge­müse dem ak­tuel­len Boom gleich ein paar Jahr­zehnte vor­aus ist.
Inzwischen ist Margot Fischer im tiefsten Au­wald des Lust­haus-Was­sers an­ge­kom­men, dort wo Biber-Fraß­spuren den Fuß dicker Pappel­stämme zie­ren und um­ge­fal­lene Bäume kreuz und quer lie­gen. Sie zeigt auf die rei­fen, roten Beeren des Weiß­dorns, die früher zu Mehl­er­satz ver­ar­bei­tet und zum Kuchen- und Brot­backen ­ver­wen­det wur­den, und be­rich­tet auch von der blutdruckregulierenden Wirkung der Weißdornblätter und -blüten. Dann zieht sie eine oberirdisch fast schon zur Gänze vertrocknete Nelkenwurz mit brau­nen, klet­ten­arti­gen Samen­stän­den aus dem Bo­den und er­zählt, dass man die Wur­zel trock­nen und als Ge­würz­nel­ken­er­satz ver­wen­den kann. Und tat­säch­lich: Wenn man ein Stück­chen Wur­zel kaut, brei­tet sich nach und nach ein deut­li­ches Ge­würz­nel­ken­­aro­ma im Mund aus.
Wer es sich wie Margot Fischer seit so langer Zeit an­ge­wöhnt hat, Wild­pflan­zen genau zu beo­bach­ten, der sieht Dinge, die an­dere nicht se­hen. Etwa in wel­cher Weise sich der Klima­wan­del an ihnen be­merk­bar macht. Seit fünf, sechs Jah­ren, sagt sie, falle ihr deut­lich auf, dass viele Wild­pflan­zen um Wo­chen, manch­mal auch gleich um bis zu zwei Mo­na­te frü­her blühen, als das ehe­mals der Fall war: Die Gundel­rebe, frü­her ein klassi­scher April-Blüher, blüht nun schon im Februar. Eben­so das Schar­bocks­kraut – der klassi­sche Vita­min-C-Spen­der unter den ers­ten grü­nen Früh­lings­blät­tern. Mittler­weile muss man sich mit dem Blät­ter­sam­meln im Vor­früh­ling schon be­eilen, weil diese nur gut schmecken, so­lange die Pflan­ze noch nicht blüht.

Freilich, wer anfangen möchte, sich ein bisschen nä­her mit ess­baren Wild­pflan­zen zu be­schäf­ti­gen, wird sein Ge­schmacks­empfi­nden ver­mut­lich etwas adap­tie­ren müs­sen, denn die meis­ten Wild­pflan­zen schmecken bit­te­rer, als wir es von unse­ren Kultur­pflan­zen ge­wohnt sind. „Als Mensch ist man auf süß ge­trimmt, weil süß sel­ten gif­tig ist. Aus die­sem Grund wer­den Kultur­pflan­zen nicht nur auf mehr Er­trag hin ge­züch­tet, son­dern auch auf weni­ger Bitter­stoffe“, er­klärt Margot Fischer. Was auch des­wegen nicht ideal ist, weil Bitter­stoffe Galle und Ver­dauung an­regen und gleich­zei­tig des­in­fi­zie­rend wir­ken.
Und nicht selten verbirgt sich hinter einem ersten bitteren Ge­schmacks­ein­druck etwas höchst Über­raschen­des. Zu­rück auf der Wiese ver­teilt Margot Fischer ein paar junge Blätt­chen aus ei­ner der vie­len Spitz­wege­rich-Blatt­ro­set­ten, die hier wach­sen. Tat­säch­lich, man kaut ein biss­chen und plötz­lich taucht ein star­kes Wald­pilz­aroma – irgend­wo zwi­schen Eier­schwam­merl und Stein­pilz – auf.
Aber solche speziellen Geschmacks­nuancen allein ma­chen die Be­son­der­heit von ess­ba­ren Wild­pflan­zen noch nicht aus. Ganz ins­ge­samt ist die Dichte der wert­vol­len In­halts­stof­fe in ihnen wesent­lich höher als bei Kultur­pflan­zen. „Das hängt damit zu­sam­men, dass sie auf un­ge­düng­ten Bö­den ge­deihen und nicht auf ra­sches Wachs­tum ge­züch­tet sind“, er­klärt Pflan­zen­ex­per­tin Margot Fischer. Eigent­lich sei es ziem­lich ein­fach, sagt sie: „Das Zeit­alter der Ana­ly­se, in dem wir le­ben, hat da­zu ge­führt, dass alles aus­einander­ge­hackt wird. Ich bin eine Zu­sammen­fügerin. Jedes natur­be­las­sene Lebens­mit­tel ist auch Medi­zin. Und wenn ich mit einem Essen, das mir schmeckt, zu­gleich auch mei­nem Kör­per etwas Gutes tue, dann ist das doch ideal.“

Julia Kospach in Falter 41/2016 vom 14.10.2016 (S. 51)

Posted by Wilfried Allé Friday, September 30, 2022 2:18:00 PM Categories: Ratgeber/Essen Trinken/Themenkochbücher
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Angst und Angstmacherei 

Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht

von Markus Marterbauer , Martin Schürz

ISBN: 9783552073111
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 384 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.09.2022
Preis: € 26,80

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Wie bezahlen wir die wirtschaftlichen Folgen von Pandemie und Krieg? Markus Marter­bauers und Martin Schürz’ Plä­do­yer für einen besseren Sozial­staat.

Neoliberale Wirtschaftspolitik betrachtet Angst als mobili­sieren­den Faktor. Sie schürt Angst vor Alters­armut, sozia­lem Ab­stieg und dem be­vor­mun­den­den Staat. Doch ist es das, was wir an­ge­sichts von Pan­de­mie, Krieg und Kli­ma­kri­se brau­chen? Mar­kus Marter­bauer und Mar­tin Schürz plä­die­ren für eine Wirt­schafts­po­li­tik, die be­grün­de­ten Ängs­ten ge­zielt ent­ge­gen­wirkt, die Ver­ängs­tig­ten be­stärkt, Hoff­nung weckt und Frei­heit schafft.
In einer Gesellschaft, in der Weni­ge Mil­li­arden be­sit­zen, darf es keine Ar­mut ge­ben, und es darf nicht mit Angst­mache­rei Poli­tik be­trie­ben wer­den. Ein Plä­do­yer für hohe Min­dest­stan­dards in ei­nem bes­seren So­zi­al­staat, Löhne, von denen man gut le­ben kann, und eine Be­gren­zung des Reich­tums.

"Mit Freude lese ich, dass Marter­bauer und Schürz hier zu einem An­satz fin­den, wie Poli­tik wie­der in­halt­lich be­grün­det wer­den kann. Die­ses mate­rial- und facet­ten­rei­che Buch strotzt vor Bei­spie­len für sol­che Grenz­zie­hungen, und ich plä­diere da­für, dass Sie es er­wer­ben und es selbst le­sen." Armin Thurnher

https://awblog.at/angst-und-angstmacherei/?jetztlesen

Posted by Wilfried Allé Monday, September 26, 2022 2:30:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik
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Geld 

von Marlene Engelhorn

ISBN: 9783218013277
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 176 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.09.2022
Reihe: übermorgen
Preis: € 20,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Es ist wichtig zu verstehen, worum es bei politischer Vermögensverteilung geht: Recht, Macht und Ressourcen. Dass diese Verteilung transparent und demokratisch stattfinden sollte, muss außer Frage gestellt werden. Vermögensungleichheit zerreißt das Miteinander.“

Zaster, Moneten, Knete, Marie: Wer Geld hat, redet nicht darüber; wer es nicht hat, jagt einem meist unerreichbaren Heilsversprechen hinterher. Immer jedoch geht Geld mit Macht Hand in Hand und ist oft ein Mittel, um Beziehungen zu führen, ohne sich auf Augenhöhe auf diese einlassen zu müssen. Nicht umsonst heißt es oft: Wer das Gold hat, macht die Regel. Warum eigentlich?

Marlene Engelhorn tut etwas, was so einigen Schweiß auf die Stirn treibt: Als Erbin eines beträchtlichen Vermögens redet sie über Geld – und besteht darauf, dass wir alle es tun. Wie viel ist genug? Was ist das gute Leben für alle? Wie wollen wir teilen? In wessen Händen liegt das Recht, zu entscheiden? Wenn wir nachhaltige Antworten wollen, müssen wir uns persönlich sowie gesellschaftlich damit auseinandersetzen, was Geld eigentlich ist. Ein Druckmittel? Eine sichere Bank? Ein erstrebenswertes Ziel oder der direkte Weg ins Verderben? Marlene Engelhorn seziert mit spitzer Feder unser Verhältnis zu Geld – und entwirft eine Vision, die zeigt, dass gerechte Umverteilung nur demokratisch wirken kann.

Millionenerbin Marlene Engelhorn: "Besteuert mich endlich!"
Buchpräsentation ->

Posted by Wilfried Allé Monday, September 19, 2022 11:21:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Grenzland Ukraine 

Unterdrückte Potenziale, drastische Gewalterfahrungen. Mit einem Essay von Wolfgang Petritsch

von Christian Reder

ISBN: 9783854769262
Verlag: Mandelbaum Verlag eG
Format: Buch
Genre: Geschichte/Kulturgeschichte
Umfang: 204 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.09.2022
Preis: € 19,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Wie in kaum einer anderen Weltregion hat die Bevöl­ke­rung der Ukraine im letzten Jahr­hundert Tod und Leid er­fah­ren müs­sen: als zen­tra­ler Schau­platz der Ver­wüs­tungen bei­der Welt­kriege, durch die ge­plan­te Hungers­not 1932/33, die Juden­ver­nich­tung, die po­li­ti­schen Ver­fol­gun­gen, die Lang­zeit­fol­gen von Tscher­no­byl. Um die­se Ge­schich­te be­wuss­ter zu ma­chen, als Hin­ter­grund­wis­sen zur aku­ten Kriegs­si­tua­tion, lie­fert Chris­tian Reder essa­is­ti­sche Hin­weise für ein bes­se­res Ver­ständ­nis, kon­zen­triert auf wenig Ge­läu­fi­ges und die dem Land durch Flucht und Emi­gra­tion ver­loren­ge­gan­genen Poten­ziale.
Der in vielen inter­natio­nalen Funk­ti­onen er­fah­rene Spitzen­diplo­mat Wolf­gang Pet­ritsch kom­men­tiert die durch Russ­lands Krieg in Eu­ro­pa dras­tisch ver­än­der­te Welt­lage.

Posted by Wilfried Allé Sunday, September 11, 2022 12:47:00 PM Categories: Geschichte/Kulturgeschichte
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