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Superyachten 

Luxus und Stille im Kapitalozän

von Grégory Salle

ISBN: 9783518127902
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 170 Seiten
Erscheinungsdatum: 20.11.2022
Übersetzung: Ulrike Bischoff
Reihe: edition suhrkamp
Ausgabe: Deutsche Erstausgabe
Preis: € 16,50

Kurzbeschreibung des Verlags:

Abramowitsch hat eine, der Emir von Abu Dhabi auch, Jeff Bezos so­wieso: Super­yachten sind Aus­weis der Zu­ge­hörig­keit zum Club der lucky few. Sie er­mög­li­chen gren­zen­lose Mo­bi­li­tät und ex­klu­si­ven Gel­tungs­kon­sum. Zu­gleich sind sie schwim­mende Um­welt­sün­den. Sie ver­bren­nen Un­men­gen Treib­stoff, ihre An­ker zer­stö­ren kost­bare Flora. Und sie sind Spiel­fel­der obs­zö­ner Un­gleich­heit: Wäh­rend ihre Be­sit­zer zu den ein­fluss­reichs­ten Men­schen der Welt ge­hö­ren, ist das Bord­per­so­nal oft Will­kür und Recht­lo­sig­keit aus­ge­lie­fert.
Grégory Salle sieht in den riesigen Luxus­schif­fen den Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des ge­gen­wär­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus. In sei­nem ful­mi­nan­ten Essay zeigt er, dass Super­yach­ten nicht ein­fach Sym­bole des Ex­zes­ses sind. Viel­mehr sind sie Sym­bole da­für, dass der Ex­zess zum Kenn­zei­chen un­se­res Zeit­al­ters ge­worden ist.

FALTER-Rezension
Der Wille zur Yacht

Gerade waren sie noch reich und schön, jetzt kotzen sie sich die Seele aus dem Leib. Da nüt­zen kein Gucci und kein Maha­goni, hel­fen keine Bril­lan­ten und keine Kris­tall­lus­ter, denn Luxus be­sänf­tigt Magen­säfte nicht. Der Film "Triangle of Sadness" schickt die Gäste einer Yacht mit ver­dor­be­nen Aus­tern und Sturm auf einen wah­ren Höl­len­trip.
Während das Schiff schwankt und Ladys im Er­bro­che­nen lie­gen, be­trinkt sich der Kapi­tän mit einem Geld­sack. An­stel­le von Trink­sprü­chen le­sen sie sich Zi­ta­te vor. "Sozia­lis­mus funk­tio­niert nur im Him­mel, wo sie ihn nicht brau­chen, und in der Höl­le, wo sie ihn schon ha­ben", gibt der reiche Russe US-Prä­si­dent Ro­nald Reagan zum Bes­ten. "Der letzte Kapi­ta­list, den wir hän­gen, wird der sein, der uns den Strick ver­kauft hat", kon­tert sein Sauf­kum­pan mit Karl Marx.

Welcher andere Ort könnte sich besser für Ruben Östlunds Up­per­class-Sa­tire eig­nen als eine Luxus­yacht? Schon der rea­le Dreh­ort hat Gla­mour: Die "Chris­tina O" ge­hör­te einst dem Reeder Aris­to­te­les Onas­sis. 1948 er­warb der Lieb­haber der Opern­diva Maria Callas und Ehe­mann von Jackie Kennedy güns­tig ein Kriegs­schiff, das vier Jahre zu­vor noch der Offen­sive der Alli­ier­ten in der Nor­man­die diente.

Für den Umbau berappte der Grieche mehrere Mil­li­onen, dann lud er VIPs wie Wins­ton Chur­chill oder die Schau­spie­lerin Grace Kelly an Bord ein. Als Hot Spot galt "Ari's Bar", deren Hocker Onas­sis mit Leder aus der Vor­haut von Walen hatte über­zie­hen las­sen. "Sie sitzen auf dem größten Penis der Welt", raunte der Gast­geber Film­stars wie Greta Garbo zu.

Ob im echten Leben oder in James-Bond-Filmen, Luxus­yachten strö­men über vor Tes­tos­te­ron-ge­trie­be­nen Anek­do­ten aus dem Fach "Die ver­rückten Strei­che der Rei­chen". Etwa jene des Ama­zon-Be­sit­zers Jeff Bezos, des­sen neues XXL-Schi­na­kel 2022 aus ei­ner Rot­ter­da­mer Werft ins of­fene Meer se­geln sollte. Blöder­weise stand eine denk­mal­ge­schütz­te Brücke im Weg von Bezos' Mega-Mas­ten. Dass ein Ab­bau der Brücke auch nur an­ge­dacht wurde, ging um die Welt.

Es gibt aber noch einen anderen Zu­gang zum Phäno­men Luxus­yachten als den von Papa­raz­zi, Boule­vard­presse oder Yachting-Maga­zinen. Bei Suhr­kamp er­schien kürz­lich das Buch "Super­yachten. Luxus und Stil­le im Kapi­talo­zän" des Sozio­logen Grégory Salle. In Es­says zieht der Fran­zose aus dem Boom sünd­teu­rer Pri­va­schiffe die Ge­sell­schafts­di­a­g­no­se, dass Reich­tum das Gehen über das Was­ser er­mög­liche.

"Eine Handvoll Superreicher amüsiert sich auf dem Meer - na und?", hinter­fragt Salle kurz sein wis­sen­schaft­liches Inter­esse, aber das ist nur rhetorisch. Schließlich zeigt er, wie eine neofeudale Kaste das Meer verpestet und mit ihren Ankern maritime Flora zerstört. Der öffentlichen Hand lassen die Milliardäre keinen Cent, kreuzen sie doch unter den Flaggen von Steuerparadiesen wie Malta oder den Cayman Islands. Mittels Lobbyismus befreien sich ihre Eigentümer von juristischen Einschränkungen, Grenzen moralischer Natur sind längst weggespült

Als Yacht gilt ein Boot ab zehn Metern, ab 25 Metern fin­gen einst die Luxus­yachten an, heute liegt die­se Kate­go­rie bei 40 Metern. Fast alle wer­den in Ita­lien, Deutsch­land und den Nieder­landen ge­baut; sie spie­len alle Stückln, vom glä­ser­nen Pool bis zu Mini-U-Booten als Zu­behör. Frü­here Eli­ten hat­ten ihre Schlös­ser, heute sind es schwimm­ende Pa­läs­te mit Hub­schrau­ber­lande­plätzen.

Es ist symptomatisch für ihre sprung­haften Be­sitzer, dass auch mit vie­len Ex­tras maß­ge­schnei­der­te Ge­fährte rasch wie­der ver­kauft wer­den. Viele die­nen dann als Charter­yachten, so auch Onas­sis' Traum­schiff. Laut Wiki­pe­dia konnte die "Chris­tina O" zu­letzt für 450.000 Dol­lar pro Wo­che ge­mie­tet wer­den. Stars wie Ma­don­na und Johnny Depp, aber auch Prinz Andrew schip­per­ten da­mit durchs Mit­tel­meer.

Preislich ist da noch viel Luft nach oben, wie Pop­star Beyoncé zeigte. Sie genoss ihren letz­ten Bade­ur­laub mit Gatte Jay-Z und Kiddies auf der "Flying Fox" vor Kro­a­tien, Kos­ten­punkt: sie­ben Tage um 1,5 Mil­li­onen Euro. Die wich­tigs­ten Kri­terien für Yacht­be­sitzer wären Größe, Crew und Hyper­mo­bi­li­tät, führt Salle an.

Die mit 180 Metern längste Motoryacht der Welt sieht wie ein klei­nes Kreuz­fahr­tschiff aus. Aber die "Azzam" hat nur Bet­ten für 36 Pas­sa­giere so­wie für 80 Kopf Per­so­nal. Bei ihrer Höchst­ge­schwin­dig­keit von 31 Kno­ten (58 km/h) ver­braucht die­se Giga­yacht sage und schrei­be 13 Ton­nen Die­sel pro Stun­de, kos­tet al­so um die 19.000 Euro. Eine durch­schnitt­liche Super­yacht stößt jähr­lich 7020 Ton­nen CO2 aus.

In einer Zeit, so Salle, "in der sich der Charakter großer Ver­mö­gen in­fol­ge der Fi­nanzia­li­sierung des Kapi­tals ent­materia­li­siert hat", wür­den Super­yachten als hand­fes­tes Sym­bol für ein rie­si­ges Ver­mögen die­nen. Kein Wun­der, dass die Be­hör­den er­freut waren, als sie im Zuge des Ukra­ine-Kriegs eini­ge Mega­yachten rus­si­scher Oli­gar­chen be­schlag­nahmen konnten.

Ein solcher "Fang" war das 600 Millionen Dollar teure Schiff des Mil­liar­därs Andrej Mel­nit­schenko im Hafen von Triest. Der Groß­teil der most-wanted Schif­fe schal­tete je­doch il­le­galer­weise sein GPS-Identi­­aus und düste ab in sicherere Gefilde wie Montenegro, Dubai oder gleich in den Indischen Ozean.

In seinem Buch nennt Salle die Daseinsform auf Superyachten eine "demonstrative Abgeschiedenheit", also das Paradox einer sichtbaren Unsichtbarkeit. Der US-Künstler Jeff Koons spielte darauf bereits 2013 an, als er das Schiff des Industriellen und Kunstsammlers Dakis Joannou gestaltete.

Für die Yacht mit dem selbstironischen Namen "Guilty" wandelte Koons ein Tarnmuster mit dem Namen "Razzle Dazzle" ab. Mit diesen Balken strich die britische Royal Navy im Ersten Weltkrieg ihre Kriegsschiffe zur Täuschung des Gegners an.

Die allerneueste Antwort auf den Wunsch nach spektakulärer Tarnung sind Yachten mit verspiegelter Außenfläche. Dieser Tage wurde die futuristische "Pegasus" gelauncht. Sie trägt Außenpaneele aus dem 3-D-Drucker, die Himmel und Wasser reflektieren. Laut Pressebericht fährt das Spiegelschiff mit superökologischem Antrieb -Greenwashing Ahoi!

Kunst auf dem Wasser ist schon länger ein großes Thema. Ab Beginn der 2000er-Jahre wurden in fast jedem Bericht von der Biennale von Venedig die vor den Giardini ankernden Yachten erwähnt. Auch die Milliardärin Heidi Horten hatte ihre "Carinthia VII" in der Lagune stehen. Der Trend zur Yacht-Kunstmesse hat sich zwar nicht durchgesetzt, aber dafür gibt es mittlerweile konservatorische Beratungsfirmen, die Gemälde und Skulpturen vor dem salzigen Klima schützen helfen.

Zu den wenigen kritischen Arbeiten über Superyachten zählt die Installation "Post-Social Sea", die letztes Jahr im Wiener Künstlerhaus zu sehen war. Die Konzeptkünstlerin Angela Anderson hat darin die 50 weltweit größten Yachten sowie deren Routen recherchiert.

"Bei einem Besuch in Rijeka 2019 sah ich im Hafen die kaputte Yacht des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Tito liegen", erzählt die in Berlin lebende US-Amerikanerin dem Falter ihr Schlüsselerlebnis. Eines Abends leuchteten weiter draußen am Meer eigenartige Lichter. Damals hatte Anderson bereits eine jener Apps auf ihrem Handy, die Schiffe per Satellit lokalisieren.

Der Tracker "Shipfinder" zeigte ihr an, dass es sich um die "Royal Romance" des ukrainischen Oligarchen und Putin-Verbündeten Wiktor Medwedtschuk handelte. "Ich bekam Gänsehaut", erinnert sich Anderson angesichts des mächtigen Auftritts und der potenziellen Nähe des Separatistenführers.

In früheren Arbeiten hat sich die politische Künstlerin mit der Rohstoffindustrie und deren verheerenden Folgen für Mensch und Natur beschäftigt. Dafür besuchte sie Aktivisten in Ecuador, North Dakota und zuletzt in Griechenland. Unweit von Thessaloniki wurde in Skouris eine Goldmine entdeckt, die eine kanadische Firma ausbeuten sollte. Die heftigen Proteste der lokalen Bevölkerung gegen die Umweltzerstörung beeindruckten die wirtschaftsgebeutelte Regierung in Athen kaum.

Seit Anderson die Eigentümer von Megayachten auf ihrem Radar hat, hat sie viel über Briefkastenfirmen gelernt, mit denen Besitzverhältnisse verschleiert werden. Die Künstlerin stieß aber immer wieder auf Namen, die ihr aus den Bergbauindustrien geläufig waren. "Bald fühlte sich jede einzelne Yacht wie die Geschichte eines Verbrechens an", sagt Anderson.

"Post-Social" im Titel von Andersons Installation bezieht sich auf einen Luxusyacht-Hafen in Montenegro, wohin sie für Videoaufnahmen reiste. Im Jahr 2006 erwarben der Moskauer Oligarch Oleg Deripaska, der französische Milliardär Bernard Arnault (Louis Vuitton, Moët &Chandon u.a.), Peter Munk aus dem Goldbergbau und andere Großunternehmer eine ehemalige Marine-Basis in der Bucht von Kotor.

Seither wurde dort eine hochmoderne Tiefwasser-Marina mit 650 Liegeplätzen (ein Viertel davon für Superyachten) errichtet. Sie bietet Sicherheit auf High-Tech-Niveau, liberale Zollvorschriften und steuerfreien Diesel. Luxusyachten können hier wesentlich günstiger liegen als an der Côte d'Azur oder in Portofino.

Überall an der montenegrinischen Küste herrsche im Sommer viel Trubel, schildert Anderson, nur im Luxushafen war es sonderbar still: "Im Supermarkt wird Champagner und Cognac für tausende Euro angeboten." Die Bucht von Kotor gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Wie verträgt sich dieser Status mit der aus dem Boden gestampften Hafenanlage, deren Schiffe das Wasser versauen?

"Superreiche Yachtbesitzer verursachen an einem Sommertag mehr Umweltverschmutzung als die Mehrheit der Menschen in ihrem ganzen Leben, doch die Politiker lassen sie weiterhin ungeschoren davonkommen", empörte sich kürzlich auch ein Vertreter der NGO Transport & Environment darüber. Selbst Megayachten sind vom europäischen Emissionshandel immer noch ausgenommen.

Auch der Soziologe Salle schildert in einem Kapitel, dass Luxusyachten in Frankreich durch eine Reform der Vermögenssteuer 2018 von Abgaben verschont wurden. Die kapitalfreundliche Fiskalpolitik sei nicht zuletzt das Resultat von Lobbyismus in einer immer ungleicheren Gesellschaft.

"Superyachten sind nicht nur an Offshore-Finanzplätzen registriert und legen gern dort an, sondern sie sind selbst schwimmende Steuerparadiese", sagt Salle über Schiffe, die ständig herumkreuzen, um sich nirgends registrieren zu müssen.

In der Not -etwa bei einer Pandemie - drehen Milliardäre den Motorschlüssel um und dem Rest der Welt den Rücken zu. Wenn das nicht zum Kotzen ist.

Nicole Scheyerer in Falter 6/2023 vom 10.02.2023 (S. 36)

Posted by Wilfried Allé Sunday, February 12, 2023 9:03:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Favoriten 

Auf den Spuren eines Wiener Arbeiterbezirks

von Gitta Tonka

ISBN: 9783854769439
Verlag: Mandelbaum Verlag eG
Format: Buch
Genre: Sachbücher/Geschichte/Regionalgeschichte, Ländergeschichte
Umfang: 144 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.04.2022
Preis: € 18,00
Kurzbeschreibung des Verlags:

Die riesige graue Vorstadt mit dem klin­gen­den Namen »Favoriten« hat eine Ge­schichte. Es ist die Ge­schichte des ar­bei­ten­den Vol­kes, die Ge­schichte von Namen­losen, die diese Stadt mit­ge­formt, sie ver­tei­digt und wie­der auf­ge­baut haben. Hier wurde von Austro­fa­schis­ten auf Ar­bei­ter­häu­ser ge­schos­sen, hier herrsch­ten Ar­beits­losig­keit und Not, und vie­le Fa­vo­rit­ner ließen für ein freies Öster­reich ihr Leben.
Aus persönlichem Blickwinkel erzählt eine Favo­rit­ner Leh­re­rin, de­ren Fa­mi­lie seit der Be­zirks­grün­dung hier lebt, die poli­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Ve­rän­de­run­gen und Um­brü­che ihres Hei­mat­be­zirks. Texte von his­to­ri­schen Per­sön­lich­keiten wie Victor Adler, Adel­heid Popp, Max Winter oder Jo­hann Pöl­zer ver­tie­fen den Blick auf Fa­vo­ri­ten. Die Zeit­reise wird durch hu­mo­rige und emo­tio­nale Fami­lien­ge­schich­ten so­wie die zahl­rei­chen his­to­ri­schen und zeit­ge­nös­si­schen Foto­gra­fien be­son­ders le­bendig.

FALTER-Rezension:
Von Sandlern, Heldinnen und dem Eissalon Tichy

Die zumeist aus Böhmen zuge­wan­der­ten Ziegel­ar­bei­ter am Laaer Berg und am Wiener­berg waren vor 150 Jahren die Aus­ge­beu­tetsten der Aus­ge­beu­teten. Zu­sam­men­ge­pfercht ar­bei­teten sie für ein paar Hel­ler, leb­ten in Ge­mein­schafts­unter­künf­ten und wur­den auch noch mit Blech­mar­ken be­zahlt, mit denen sie den über­teu­er­ten, schlech­ten Fraß in den Werks­kan­ti­nen kau­fen mussten. Victor Adler, spä­ter der Eini­ger der So­zial­demo­kra­ten, schlich sich in­kog­ni­to ein und schrieb eine packen­de Repor­tage über das Elend der Zie­gel­ar­bei­ter - die Auf­decker­story legte die Grund­lage zu sei­ner spä­te­ren Po­pu­la­ri­tät und Le­gen­de. Auf der unters­ten Stufe der Elen­den stan­den jene, die die Zie­gel­for­men mit Sand aus­fül­len mussten. Sie wurden "Sandler" ge­nannt, und der Be­griff bür­ger­te sich spä­ter für alle auf der un­ters­ten Spros­se der so­zi­a­len Lei­ter ein. Nach­dem im­mer mehr Ar­beits­rechte durch­ge­setzt wur­den, blie­ben die Werks­kan­ti­nen be­ste­hen, ver­wan­del­ten sich aber nach und nach zu nor­ma­len Wirts­häu­sern, und um das Publi­kum zu hal­ten, dach­ten sich die fin­dig­sten Wirts­leute am Laaer Wald ein paar zu­sätz­li­che Attrak­tio­nen aus und stell­ten Spiel­ge­räte auf. Der Grund­stein des Böh­mi­schen Pra­ters war ge­legt.

Die Geschichte des Böhmischen Praters, die Ar­beiter­kul­tur im "zehn­ten Hieb", der Straßen­gangs und Volks­bild­ner - das und vie­les mehr kann man in Gitta Tonkas Buch "Favo­riten - Auf den Spuren eines Wie­ner Ar­bei­ter­be­zir­kes" nachl­esen. Wenn sie er­zählt, dann blickt sie auf eine un­glaub­liche, 170-jäh­rige Fa­mi­lien­ge­schichte zu­rück.

Tonkas Urgroßvater Jakob Sokopp kam in den 1870er-Jahren nach Wien. Er lernte Me­tall­dru­cker und war schon in der aller­ers­ten Gene­ra­tion der Ar­beiter­be­we­gung und der Ge­werk­schaften ak­tiv. Jakob Reu­mann, spä­ter der erste Bür­ger­meis­ter des Ro­ten Wien, war einer sei­ner engs­ten Freunde. Die Fa­mi­lie lebte in Elends­quar­tieren, bis sie in einer klei­nen Woh­nung mit Werk­statt in der Buchen­gasse 100 unter­kam.

Die ganze Familie, Großeltern und Groß­tan­ten von Gitta Tonka waren in den lin­ken Be­we­gungen und im Wider­stand ak­tiv. Vor eini­gen Jah­ren hat sie schon die Lebens­er­in­ne­rungen ihrer Mut­ter Ossy Tonka heraus­ge­bracht. Revo­lu­tio­näre, spä­ter Schutz­bünd­ler, ille­ga­le Sozi­a­lis­ten, todes­ver­ach­tende Kons­pi­ra­teure ge­gen die Nazis, sie alle gin­gen ein und aus in der Buchen­gas­se 100. Tonkas Mut­ter schlägt sich - blut­jung -zu den Par­ti­sa­nen nach Jugos­la­wien durch, kämpft auf deren Sei­te, und in der Nach­kriegs­zeit lan­det sie bei Bertolt Brecht als Mit­ar­bei­terin im Thea­ter Scala. Gitta saß noch bei Brecht am Schoß.

Gitta Tonkas Buch ist ein packendes Por­trät eines Be­zirks ge­wor­den. Seiner ver­ruch­tes­ten Vier­tel etwa, wie "das Kreta", wo die här­tes­ten Gangs die Straße be­herrsch­ten und das heute noch übel be­leu­mun­det ist, auch wenn das städte­bau­lich ambi­tio­nier­te Sonn­wend­vier­tel fast di­rekt an­grenzt. Als eins­tige Leh­rerin und Direk­to­rin einer Favo­rit­ner Volks­schule kennt Tonka den so­zia­len Wan­del der ver­gan­ge­nen Jahr­zehnte. Zu je­der Fa­brik, je­dem Ge­mein­de­bau, je­der Gar­ten­stadt, zum Tichy, zu Ober­laa - zu allem hat Tonka Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die auch für Ken­ner neu sind. Zu bril­lan­ten Fi­gu­ren, die dem Bez­irk eng ver­bun­den wa­ren, wie dem Jour­na­lis­ten Max Win­ter, Grün­der der Kinder­freunde und in den 1920er-Jahren Vize­bür­ger­meis­ter. Oder Schani Pölzer, Schnei­der, Ge­werk­schaf­ter, Ar­beiter­bild­ner, und sei­ner Frau Amalie, Ge­werk­schaf­terin und radi­kale Femi­ni­stin - nach ihr wur­de das Amalien­bad be­nannt, heute ein Denk­mal avan­cier­ter Archi­tek­tur.

Robert Misik in Falter 21/2022 vom 27.05.2022 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Friday, January 27, 2023 8:56:00 PM Categories: Ländergeschichte Sachbücher/Geschichte/Regionalgeschichte
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Earth for All 

Ein Survivalguide für unseren Planeten

Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«

ISBN: 9783962383879
Verlag: oekom verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 06.09.2022
Übersetzung: Rita Seuß
Übersetzung: Club of Rome, Barbara Steckhan
Preis: € 25,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

»Wohlstand innerhalb der Grenzen unseres Pla­neten ist mög­lich!« Jørgen Randers
1972 er­schüt­ter­te ein Buch die Fort­schritts­gläu­big­keit der Welt: »Die Gren­zen des Wachs­tums«. Der erste Be­richt an den Club of Rome gilt seit­her als die ein­fluss­reichs­te Publi­ka­tion zur dro­hen­den Über­las­tung un­se­res Pla­ne­ten. Zum 50-jäh­rigen Jubi­läum blicken reno­mmier­te Wis­sen­schaft­ler*innen wie Jørgen Randers, Sandrine Dixson-Declève und Johan Rock­ström aber­mals in die Zu­kunft – und le­gen ein Ge­ne­sungs­pro­gramm für un­sere kri­sen­ge­schüt­tel­te Welt vor.
Um den trägen »Tanker Erde« von seinem zer­störe­ri­schen Kurs ab­zu­brin­gen, ver­bin­den sie ak­tuel­le wis­sen­schaft­liche Er­kennt­nis­se mit in­no­va­ti­ven Ideen für eine an­dere Wirt­schaft. Der ak­tu­el­le Be­richt an den Club of Rome lie­fert eine poli­ti­sche Ge­brauchs­an­wei­sung für fünf we­sent­liche Hand­lungs­fel­der, in de­nen mit ver­gleich­bar klei­nen Wei­chen­stel­lun­gen große Ver­än­de­run­gen er­reicht wer­den können

  • gegen die Armut im globalen Süden,
  • gegen grassierende Ungleichheit,
  • für eine regenerative und natur­ver­träg­liche Land­wirt­schaft,
  • für eine umfassende Energiewende
  • und für die Gleichstellung der Frauen.

Wer wissen will, wie sich eine gute Zu­kunft rea­li­sie­ren lässt, kommt an »Earth for All« nicht vorbei.

FALTER-Rezension:

Über eine Erde, wie wir sie nicht kennen wollen

Shu, Samiha, Carla und Ayotola: Sie alle wurden am selben Tag im Au­gust 2020 ge­boren. Samiha kam in einem Slum in Bangla­desch zur Welt, Ayotola in einem Armen­vier­tel im ni­geria­ni­schen Lagos. Die Fa­mi­lien von Shu und Carla hin­ge­gen sind bes­ser­ge­stellt. Shu wächst in der chi­ne­si­schen Stadt Chang­sha auf, Carla im kali­for­ni­schen Los An­geles. Wie es ihnen er­ge­hen wird, wie alt sie wer­den – all das wird maß­geb­lich da­von ab­hän­gen, um wie viel Grad die glo­ba­le Durch­schnitts­tem­pe­ra­tur stei­gen wird. Die vier Mäd­chen sind fik­ti­ve Fi­gu­ren; Wis­sen­schaft­ler:innen ha­ben aber an­hand zwei­er Klima­sze­na­rien ty­pi­sche Lebens­wege für sie nach­ge­zeich­net. Nach­zu­le­sen sind diese im Buch „Earth for All“, dem neu­en Be­richt an den Club of Rome, der vor 50 Jah­ren mit „Die Grenzen des Wachstums“ auf­rüt­telte.

Die Klimabücher dieses Herbstes machen klar: Ein Zu­rück zu ei­nem ge­mäßig­ten Kli­ma gibt es nicht mehr, ex­tre­me Wet­ter­er­eig­nis­se wer­den wei­ter zu­nehmen. Jetzt geht es da­rum, ob die Mensch­heit den­noch einiger­maßen ge­deih­lich wei­ter­le­ben kann – oder ob die heu­ti­gen Kin­der und Jugend­li­chen in einer Plus-drei-Grad-Welt wer­den le­ben müs­sen. „Eine Erde, wie wir sie nicht ken­nen wol­len“, so Stefan Rahmstorf, ei­ner der Leit­au­to­ren des vier­ten Sach­stands­be­richts des Welt­kli­ma­rates (IPCC). Und, da sind sich die Auto­rin­nen und Auto­ren der Bü­cher „Earth for All“, „Sturm­no­ma­den“ und „3 Grad mehr“ einig: Herum­reißen las­se sich das Ruder nur, wenn die Kluft zwi­schen Arm und Reich klei­ner wird. Die drei Bü­cher ge­hö­ren zum Wich­tigs­ten, das ein Mensch der­zeit lesen kann.

„3 Grad mehr“ lautet der Titel des Sammel­ban­des von 19 Au­to­ren, da­run­ter die Klima­for­scher Stephan Rahmstorf und Hans Joachim Schelln­huber so­wie die Sozial­for­sche­rin Jutta Allmen­dinger. Aber wa­rum sol­len wir uns über­haupt ein Drei-Grad-Sze­na­rio an­sehen, se­hen doch die Pari­ser Klima­ziele eine Er­wär­mung von 1,5, höchs­tens zwei Grad vor? Weil wir laut jüngs­tem Welt­kli­ma­be­richt be­reits auf dem bes­ten Weg in Rich­tung drei Grad plus sind.

Was das bedeutet, müssten die Menschen wissen, findet Heraus­geber Klaus Wiegandt. Viel zu lange habe die Po­li­tik die Kri­se ver­harm­lost, und so glau­bten vie­le im­mer noch, es gehe „bloß“ um Eis­bären und ein paar ver­sin­kende Insel­chen. „Wüssten die Men­schen, was den Enkel­kin­dern be­vor­steht, würde das keiner wol­len“, sagte Wiegandt ein­mal: näm­lich „eine Radi­kali­sie­rung des Wet­ter­ge­sche­hens“. Wüssten sie es, ist er sich sicher, wür­den sie eine völ­lig an­de­re Poli­tik ein­fordern.

Stakkatoartig zählt Stephan Rahmstorf auf, in wel­cher Welt seine Kin­der, der­zeit Gymna­sias­ten, da le­ben müssten – und mit ihnen rund vier Mil­liar­den Men­schen, die heu­te jün­ger als 20 Jahre alt sind. Drei Grad glo­ba­le Er­wär­mung, das be­deu­tet für viele Land­ge­biete sechs Grad mehr, so auch für Deutsch­land und Öster­reich. „Damit wäre Ber­lin wär­mer, als es Ma­drid heute ist.“ An den heißes­ten Ta­gen müssten die Deut­schen dann um die 45 Grad er­tra­gen. Rund um den Erd­ball wür­den sich „die wäh­rend Hitze­wel­len töd­lich heißen Ge­biete mas­siv aus­wei­ten“. Ex­trem­wet­ter­er­eig­nis­se näh­men über­pro­por­tio­nal zu. Stark­regen, Dürre­peri­oden, Tro­pen­stür­me – sie alle kä­men öf­ter, wür­den hef­ti­ger und blie­ben länger.

Beim Meeresspiegel wäre schon ein Meter Anstieg „eine Katas­trophe“, schreibt Rahmstorf: Weil an den Küsten­li­nien mehr als 130 Mil­lio­nen­städte lie­gen, da­zu Häfen, Flug­häfen und 200 Kern­kraft­werke. Bei drei Grad plus stie­gen die Meere laut IPCC-Be­richt je­den­falls um 70 Zenti­me­ter. Er­reicht aller­dings das Grön­land­eis sei­nen Kipp­punkt und schmilzt kom­plett ab, steigt der Meeres­spie­gel um sie­ben Meter. Auch welt­weite Hun­ger­kri­sen be­fürch­tet Rahmstorf. „Ich per­sön­lich“, schließt er sei­nen furi­osen Text, „halte eine 3-Grad-Welt für eine exis­ten­ziel­le Ge­fahr für die mensch­liche Zi­vi­li­sation“.

Was heißt eine solche Heißzeit nun für unsere vier Mäd­chen? In „Earth for All“ schaut sich der Club of Rome zwei Sze­na­rien an. Das schlech­tere, „Too little, too late“, er­scheint gar nicht so pessi­mis­tisch. Da pas­siert bis 2050 durch­aus eini­ges: Wind­räder und Foto­vol­taik­an­lagen ge­hen in Be­trieb, auch in Asien schließen die Kohle­kraft­werke. Den­noch ist alles zu we­nig und zu spät. Fos­sile Brenn­stof­fe kom­men im­mer noch zum Ein­satz, die Men­schen kle­ben an ihren Au­tos und es­sen viel zu viel ro­tes Fleisch. Ins­ge­samt ist es mehr ein Durch­la­vie­ren. Kommt Ihnen be­kannt vor?

Mithilfe aufwendiger Simulationsprogramme haben die For­scher er­rech­net, was das für die Tem­pe­ra­turen, die Welt­be­völ­ke­rung, die Ver­füg­bar­keit von Nah­rungs­mit­teln und vie­les mehr be­deutet. Dem­nach über­springt die Erde mit „Too little, too late“ be­reits 2050 die Zwei-Grad-Grenze.

In diesem Jahr sind unsere Mädchen 30 Jahre alt. Shu ist Was­ser­wirt­schafts­in­genieu­rin, häu­fige Über­schwem­mun­gen be­dro­hen Chinas Nahrungs­mit­tel­sicher­heit. Carla zieht von Kali­for­nien in den Nor­den, hat je­doch das Ge­fühl, dass Brän­de und Hitze ihr fol­gen. In Bangla­desch hat Samiha ihren Job in ei­ner Klei­der­fa­brik ver­loren, weil die Küsten­re­gion we­gen der Flut­katas­tro­phen all­mäh­lich auf­ge­ge­ben wird. Ayotola lebt mit vier Kin­dern im Armen­vier­tel, nur der Sohn wird zur Schu­le ge­hen können.

Noch weiter in die Zukunft geschaut, stirbt Carla mit 65 an Krebs. Samiha lei­det im Slum unter Was­ser- und Es­sens­knapp­heit. Im ni­geria­ni­schen Lagos mussten Ayotola und ihr Mann ihre Unter­kunft we­gen immer ge­fähr­li­cherer Flu­ten auf­geben. Noch am bes­ten geht es Shu, deren Kom­pe­ten­zen im Hoch­was­ser­manage­ment sehr ge­fragt sind.

Wie realistisch solche Lebensläufe sind, hat Kira Vinke rund um den Erd­ball re­cher­chiert. Die Lei­te­rin des Zen­trums für Kli­ma und Außen­poli­tik der Deut­schen Ge­sell­schaft für Aus­wär­tige Poli­tik hat zahl­reiche Län­der be­sucht, sie er­zählt von Hir­ten im Sahel, von Fi­schern auf den Philip­pinen – und von der Flut im deut­schen Ahrtal 2021.

Längst haben Millionen ihre Heimat ver­lassen, weil Tai­fune oder Dür­ren ihnen die Exis­tenz raub­ten. Viele blei­ben da­bei in­ner­halb ihrer Her­kunfts­län­der, so wie in Bangla­desch: Im Korail-Slum in Dhaka trifft Vinke zwei jun­ge Frau­en, die aus dem Sü­den des Landes hier­her kamen, weil ihre alte Hei­mat im­mer wie­der über­flu­tet wur­de. Aber auch in ihren Hüt­ten sind sie nicht si­cher. „Bin­nen Minu­ten“, be­schreibt Vinke einen Stark­regen, „steigt das Was­ser ge­fähr­lich hoch und schwappt lang­sam in die Hüt­te.“ So sei es hier eben, „es gibt keine rich­ti­ge Kana­li­sation“, er­klärt eine Frau. Vinke watet durch Dreck und Fä­ka­lien. Die Men­schen in den Slums wer­den nicht alt.

Und was jetzt?

„3 Grad mehr“ setzt vor allem auf „natur­ba­sier­te Lö­sun­gen“: Auf­fors­tung, nach­hal­tige Holz­nutzung, Wieder­ver­näs­sung der Moore, re­gene­ra­ti­ve Land­wirt­schaft. Zum Wich­tigs­ten aber ge­höre der Schutz des Regen­wal­des. Ein ver­bind­li­ches Ab­kom­men zum Stopp der Ab­hol­zung der Regen­wäl­der in­ner­halb der nächs­ten Jah­re könnte ein glo­ba­les Auf­bruchs­sig­nal ein, schreibt Wie­gandt: Es wür­de die CO2-Emis­sio­nen so dras­tisch re­du­zie­ren, „als würde Europa bis spätes­tens 2026 klima­neu­tral“.

Doch all das braucht Investitionen, und dafür fordern alle drei Bücher eine Um­ver­tei­lung. Die müs­se so­wohl vom glo­ba­len Nor­den in den Süden statt­fin­den als auch in­ner­halb der ein­zel­nen Län­der. „3 Grad mehr“ geht da­von aus, dass zu­min­dest zwei Pro­zent des Welt­so­zial­pro­dukts nö­tig sein wer­den, „Earth for All“ schätzt zwei bis vier Pro­zent. Nichts, was nicht zu stem­men wäre, ar­gu­men­tie­ren sie.

Nun wird jenen, die den Kampf gegen die Klima­krise ein­for­dern, ja gern vor­ge­wor­fen, sie wollten rein ideo­lo­gisch moti­viert auch gleich den so­zia­len Um­sturz durch­drücken. Aller­dings nen­nen die For­scher nach­voll­zieh­ba­re Argu­men­te: Är­mere Län­der kön­nen sich sonst kei­nen Klima- oder Wald­schutz leis­ten. Und auch in den bes­ser­ge­stellten Län­dern wer­den jene, die un­ver­hältnis­mäßig un­ter den Kos­ten etwa der Ener­gie­wende lei­den, pro­tes­tie­ren und den Kurs­wech­sel nicht mit­tra­gen. Ob in Eu­ro­pa oder den USA, in Afri­ka oder Süd­ameri­ka: Eine zu große Ver­mögens­kluft führt über­all zu De­sta­bi­li­sie­rung und Auf­stän­den, das Ver­trauen in die Re­gie­run­gen sinkt, au­tori­täre Po­pu­lis­ten ge­lan­gen an die Macht.

Um das Geld für die nötigen Investitionen zu erhalten, schlagen Wiegandt & Co vor, sol­len die Re­gie­rungen die Sub­ven­tio­nen in fos­si­le Ener­gie­trä­ger strei­chen, Mili­tär­bud­gets re­du­zie­ren und Steu­er­schlupf­lö­cher schließen. Für Deutsch­land schwe­ben ihnen vor al­lem die Fi­nanz­trans­aktions- und Erb­schafts­steuer als Hebel vor. Un­ge­recht? Zwei Zahlen aus dem Buch: In Deutsch­land war 2015 das reichs­te Zehn­tel der Be­völ­ke­rung für mehr Emis­sio­nen ver­ant­wort­lich als die ge­sam­te är­mere Hälf­te. Und: Bei drei Grad mehr wer­den die ma­teriel­len Schä­den jähr­lich min­des­tens zehn Pro­zent des Welt­sozial­pro­dukts aus­ma­chen, eher viel mehr. Da geht es auch den Aller­reichs­ten nicht mehr gut.

In „Earth for All“ lautet die Lösung: „Giant Leap“, ein Riesen­sprung. Den reichs­ten zehn Pro­zent dürfe nicht mehr als 40 Pro­zent des je­wei­li­gen Natio­nal­ein­kom­mens zu­ste­hen. In­dus­trien müs­sen da für das Nutzen von Ge­mein­gü­tern zah­len, das Geld da­raus fließt auch hier in Bür­ger­fonds und Grund­ein­kom­men. Die For­scher se­hen fünf Haupt­stra­te­gien: ex­tre­me Ar­mut be­kämp­fen, Un­gleich­heit und Gender-Gaps ver­rin­gern, die Her­stel­lung von Nah­rungs­mit­teln und Ener­gie re­vo­lutio­nie­ren. Da­mit wür­den sich die Tempe­ra­turen um 2050 bei unter zwei Grad sta­bi­li­sie­ren.

Alle drei Bücher sind dicht, kein Spaziergang – jeder sollte aber ihre we­sent­lichs­ten In­hal­te ken­nen, be­son­ders Ent­schei­dungs­trä­ger. Reiz­voll an „Earth for All“ sind die Bio­gra­fien der Mäd­chen. Die­ses Buch und „3 Grad mehr“ bie­ten so­wohl ei­nen Ge­samt­über­blick als auch Spe­zial­wis­sen zum Bauen oder zur Ener­gie­wende. Die meis­ten Men­schen ler­nen wir bei Vinke kennen.

Und unsere Mädchen? Beim „Riesensprung“ können auch Samiha und Ayotola als Kin­der in neue Woh­nun­gen um­zie­hen. Alle vier er­hal­ten gu­te Aus­bil­dun­gen, keine lebt in einem Armen­vier­tel. Auch ein sta­bi­les Kli­ma kennt keine, ex­treme Wet­ter­er­eig­nis­se ge­hö­ren zum Le­ben. Doch viel Leid wird mit­tler­weile ge­lin­dert, und die Ge­fahr eines es­ka­lie­ren­den Klima­wan­dels ist nicht mehr so groß. Wel­ches Sze­na­rio ein­tritt, das wird die Mensch­heit vor al­lem in der al­ler­nächs­ten Zu­kunft ent­schei­den: noch vor 2030.

Gerlinde Pölsler in Falter 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 32)

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

Posted by Wilfried Allé Friday, January 20, 2023 2:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Außer Kontrolle 

Deutschland 1923

von Peter Longerich

ISBN: 9783222151026
Verlag: Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.11.2022
Preis: € 33,00

Kurzbeschreibung des Verlags:

Hyperinflation, Staatskrise, Hitler-Putsch: Ohn­mäch­tig wankt die junge deut­sche Re­pu­blik im Jahr 1923 Rich­tung Ab­grund. Der Ein­marsch fran­zö­si­scher Trup­pen ins Ruhr­ge­biet treibt Ex­tre­mis­ten von Rechts und Links auf die Bar­ri­ka­den, das Land steht vor Bür­ger­krieg und Dik­ta­tur. Es ist eine „Toll­haus­zeit“ (Stefan Zweig), in der sich Kri­sen­ge­winn­ler de­ka­den­ten Ver­gnü­gun­gen hin­ge­ben, wäh­rend die Be­völ­ke­rung ins Elend stürzt.
Kenntnisreich und gestützt auf reich­hal­ti­ge Quel­len er­zählt Zeit­his­to­ri­ker Peter Longe­rich die Chro­no­lo­gie eines Staats­ver­sa­gens. Da­bei se­ziert der Best­seller­au­tor nicht bloß Ur­sa­chen und Ab­läu­fe, son­dern auch die Fol­gen: das bis heute an­hal­ten­de In­fla­tions­trauma – und den Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lis­mus.

FALTER-Rezension:

"Es war ein verzweifeltes Abstrampeln"

Die Jahre 1923 und 2023 ähneln sich auf den ers­ten Blick. Zum Hun­dert­jahres­ge­den­ken sind gleich meh­rere Bü­cher zu die­sem schick­sals­haf­ten Jahr er­schie­nen. Den deut­schen His­to­ri­ker Peter Longe­rich in­ter­es­siert vor allem, wie Eli­ten in Kri­sen­zei­ten agie­ren - und er­schreck­end häu­fig auch ver­sagen.
Falter: Vertrauens-, Energie-, Flüchtlings-, Teuerungs­krise: Sie plä­die­ren in Ihrem neuen Buch "Außer Kon­trol­le" über das Jahr 1923 da­für, mit dem Be­griff "Krise" spar­sam um­zu­gehen. Warum?

Peter Longerich: Es ist ja ein geradezu ma­gi­scher Be­griff, der von Me­dien, aber auch von Wis­sen­schaft­lern sehr gerne ver­wen­det wird, der aber nicht sehr ana­ly­tisch ist. Er kommt dort zum Ein­satz, wo man mit dem Er­klä­ren nicht wei­ter­kommt. Als His­to­ri­ker inter­es­sie­ren mich Kri­sen eher als sich rasch ent­wickelnde Pro­zes­se, und ich fra­ge nach den po­li­ti­schen Hinter­grün­den und vor allem nach dem Han­deln und den Re­ak­tio­nen der Ak­teure, die Macht be­sitzen. Wenn die Krise erst ein­mal fort­ge­schrit­ten ist, kön­nen sie meist nur mehr rea­gie­ren und nicht mehr vor­aus­schau­end han­deln.

Wenn uns der Begriff überhaupt nicht weiter­hilft, ver­wen­den wir ihn dann nur als Aus­druck von Hilf­lo­sig­keit so oft?

Longerich: Eher als Aus­druck großer Zu­kunfts­ängste. Denn was heißt Krise wirk­lich? Wenn wir his­to­ri­sche Fäl­le be­mühen und ver­su­chen, sie in ihren Di­men­sio­nen auf heute zu über­tra­gen, dann wäre Krise, wenn wir tage­langen Strom­aus­fall hät­ten, große Men­schen­mas­sen plün­dernd und maro­die­rend durch die Straßen zie­hen oder mas­sen­haft ihre Woh­nung ver­lie­ren wür­den. All das pas­siert zum Glück ge­rade nicht. Im Grun­de geht es uns noch ganz gut. Wel­ches an­dere Wort wol­len wir ver­wen­den, wenn es wirk­lich so weit ist?

In Ihrem Buch zeigen Sie am Bei­spiel des Jahres 1923, dass eine Krise im­mer in vier Stu­fen ab­läuft. Be­vor wir ge­nau­er da­rü­ber spre­chen und da­rü­ber, was wir aus 1923 über 2023 lernen kön­nen, möchte ich Sie grund­sätz­lich fra­gen: Machen diese Jahres­zahlen­ver­glei­che über­haupt Sinn?

Longerich: Zu Jahresbeginn ist ja nicht nur meines, son­dern auch eine ganze Reihe an­de­rer Bü­cher zum Kri­sen­jahr 1923 er­schie­nen. Im Grun­de ge­nom­men ist es ein Ri­tu­al, an dem ich mich aber gerne be­tei­lige, durch­aus mit Ab­sicht, denn sol­che Er­in­ne­rungs­jahre füh­ren zu einer ge­wis­sen Fokus­sie­rung der De­bat­te über his­to­ri­sche Er­eig­nis­se. Ich hät­te die­ses Buch auch schon vor zwei Jah­ren ver­öf­fent­li­chen kön­nen, aber es wäre weni­ger wahr­ge­nom­men wor­den. Un­ab­hän­gig von sei­ner 100. Wieder­kehr ist das Jahr 1923 sehr inter­es­sant, vor al­lem für Deutsch­land, aber auch aus öster­reichi­scher Sicht, weil es zeigt, wie schnell ein Staat ins Kip­pen kommt.

In den 1920er-Jahren sind fast alle Strö­mun­gen und The­men der Mo­der­ne an­ge­legt: Femi­nis­mus, Sozi­a­lis­mus, Um­welt-und Lebens­re­form­be­we­gun­gen, Natio­na­lis­mus, In­dus­tri­a­li­sie­rung, Ur­bani­sie­rung. Sind sie des­halb so reiz­voll, selbst 100 Jahre spät­er?

Longerich: All das und die totale Wider­sprüch­lich­keit die­ser Ent­wick­lungen, die Un­be­rechen­bar­keit und Un­über­sicht­lich­keit sind da­mals schon vor­han­den, und wir kön­nen unser frü­heres ge­sell­schaft­li­ches Selbst wie in einem Spie­gel an­schauen. Das macht dieses Jahr­zehnt für uns so inter­es­sant. Wir sehen stark­e ge­sell­schaft­li­che Eman­zi­pations­be­we­gun­gen und eben­so starke Ge­gen­be­we­gun­gen, die dann in Deutsch­land 1933 tri­umphie­ren. Im Rück­blick sehen wir klar, wer die Guten und Bösen waren, wo­bei die Bösen na­tür­lich auch ge­glaubt ha­ben, dass sie die Guten sind.

Tauchen wir ein ins Jahr 1923. Eine Krise zeigt sich in ihrer ers­ten Stu­fe im­mer als struk­tu­rel­ler Kon­flikt. Wie war das da­mals?

Longerich: Die Deutschen fanden sich nach dem Ersten Welt­krieg - wie die Öster­reicher übri­gens auch -in einer neuen Staats­form wie­der, mit der große Teile der Be­völ­ke­rung nichts an­fan­gen konnten. Die Wei­ma­rer Repu­blik war bei vie­len un­be­liebt. So wie die Erste Re­pu­blik in Öster­reich. Die Ge­sell­schaft war ge­spal­ten, pola­ri­siert zwi­schen stark rech­ten und lin­ken Ex­tre­men, die sich auch in be­waff­ne­ten Ein­heiten zu­sam­men­schlos­sen, jeder­zeit putsch­be­reit. Wir haben die un­be­wäl­tig­ten öko­no­mi­schen Fol­gen des Krie­ges, mit hohen Re­pa­ra­tions­zah­lungen und der großen of­fenen Frage: Wer be­zahlt eigent­lich die Kriegs­kosten? Und wir haben tiefe Trau­ma­ta, auf per­sön­li­cher Ebene durch die Grauen des Krie­ges. Auf natio­na­ler Ebene gab es das Ge­fühl, un­ver­dien­ter­weise in einem Rumpf­staat zu leben, als Volk ge­de­mü­tigt wor­den zu sein. Deutsch­land war ein Land mit Mil­lio­nen von Wit­wen, Kriegs­opfern und Kriegs­ver­sehr­ten. Dass unter sol­chen Be­din­gun­gen eine Über­tra­gung von Ge­walt in die In­nen­poli­tik pas­siert, ist nicht über­ra­schend.

Auch heute ist immer wieder von einer ge­spal­tenen Ge­sell­schaft die Rede, die sich in ihren "Medien-Bub­bles" noch wei­ter radi­ka­li­siert. Ist das gen­au­so über­trie­ben wie das Kri­sen­ge­rede?

Longerich: Ich bin da vorsichtig, denn im Grunde ge­nom­men sind Ge­sell­schaf­ten im­mer irgend­wie ge­spalten. In den USA gibt es seit Jahr­zehnten starke rechts­kon­ser­va­tive und popu­lis­ti­sche Kräfte, Rechts­radi­kale und Rechts­ex­tre­misten, das be­gann nicht mit Donald Trump. Auch in Deutsch­land fin­den wir in den 1970er-und 1980er-Jahren star­ke Grup­pen­bil­dungen. Die CDU ist bei den Wah­len 1976 zum Bei­spiel mit dem Slogan "Frei­heit statt So­zi­a­lis­mus" an­ge­tre­ten, und na­tür­lich hat es auch eine linke Lager­bil­dung ge­ge­ben. So ge­sehen ist das also nichts Un­ge­wöhn­liches.

Was ist dann der Unterschied zu damals?

Longerich: Was damals noch gravierender war, war die Un­ver­söhn­lich­keit in den so­zial-mora­li­schen Milieus: Sozia­listen, Reak­tio­näre, Katho­liken, bür­ger­liche Libe­rale. Einer der schwers­ten poli­ti­schen Kon­flikte ent­zün­dete sich zum Bei­spiel an der Fra­ge der Auf­he­bung des Acht-Stun­den-Ar­beits­tages, für Ge­werk­schaf­ten wie Ar­beit­ge­ber eine Pres­tige­fra­ge mit ho­hem sym­bo­li­schem Wert. Dass zum Bei­spiel ein Katho­lik eine Nicht­katho­li­kin hei­ra­tete oder um­ge­kehrt, konnte einen Skan­dal aus­lösen. Die Ab­gren­zung zeigte sich nicht nur in der unter­schied­lichen "Welt­an­schauung", son­dern all­täg­lich in der Sprache, im Auf­tre­ten, bis zur Klei­dung. Das ging also viel tie­fer als heute.

Zu all diesen strukturellen Konflikten kommt 1923 dann die In­fla­tion. Noch eine Par­al­lele zur Ge­gen­wart?

Longerich: Ja, wobei wir auch da auf­pass­en müs­sen. In­fla­tion hieß da­mals Hyper­in­fla­tion. Das Geld ve­lor so viel an Wert, dass es als Zahlungs­mit­tel über­haupt nicht mehr funk­tio­nier­te, es wurde in Scheib­tru­hen herum­ge­fahren. Da­durch ver­lo­ren Men­schen jeg­liche Orien­tierung bei der Or­gani­sation ihres Lebens. Über Gene­ratio­nen Er­spar­tes war weg. Da­von sind wir heute noch weit ent­fernt. Wir sehen in An­sätzen, dass Men­schen Lebens­mit­tel auf Vor­rat kau­fen, viele machen sich Sor­gen, wie sie die Ener­gie­rech­nungen be­zahlen sollen. Aber da be­we­gen wir uns heute eher im Ver­gleich mit den 1970er-Jah­ren und der da­ma­li­gen In­fla­tion, die man poli­tisch als klei­ne­res Übel zu ver­kau­fen suchte, etwa mit­hilfe des be­kannten Aus­spruchs des da­ma­ligen sozial­demo­kra­tischen Bun­des­kanz­lers Helmut Schmidt: "Fünf Pro­zent In­fla­tion sind mir lie­ber als fünf Pro­zent Ar­beits­losig­keit."

Oder Bruno Kreiskys "Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als 100.000 Arbeitslose". In den 1920er-Jahren spitzte der Ausbruch eines territorialen Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich die Lage dann aber dramatisch zu. Damit tritt die zweite Krisenstufe ein, die aber immer noch keine echte Krise ist. Sie nennen sie den Vorraum zur Krise.

Longerich: Ja, diese Unterscheidung ist wichtig. In den Vor­raum der Krise tre­ten wir ein, wenn struk­tu­relle Kon­flikte kul­mi­nieren. In Deutsch­land pas­siert das 1923 mit dem so­ge­nannten "Ruhr-Kampf". Weil Frank­reich der Mei­nung war, dass Deutsch­land seine Repa­rations­zah­lungen nicht or­dent­lich leis­tete, be­setzte es 1923 einen Teil des deut­schen Staats­ge­bietes.

Lässt sich das mit der Invasion Russlands in der Ukraine ver­gleichen?

Longerich: Insofern, als damit das Moment einer äußeren Be­dro­hung hinzu­kam, denn die Be­setzung des Ruhr­ge­biets löste in Deutsch­land große Kriegs­ängste aus. Man fürch­tete, dass das zu einem neuen Krieg mit Frank­reich aus­arten könnte; während die poli­tische Rechte in einer sol­chen Es­ka­la­tion zum Teil den Schlüs­sel zur Lö­sung der Krise sah. Ak­tu­ell be­findet sich Eu­ro­pa damit also im Vor­raum einer Krise, denn es gibt doch eine weit­ver­brei­tete Angst, in diesen Krieg hinein­ge­zogen oder doch zu­min­dest von Kriegs­folgen gra­vie­rend ge­trof­fen zu werden. Da­mals war Kohle der Grund­stock der ge­samten Volks­wirt­schaft, von der Stahl­er­zeu­gung über die Eisen­bahn bis zum Haus­brand. Durch die Ab­sper­rung des Ruhr­ge­biets gab es keine Kohle mehr.

Eine weitere Parallele zur Gasversorgung aus Russ­land, die durch Putins An­griff auf die Ukra­ine ab­ge­schnit­ten wurde.

Longerich: Genau. Deutschland musste britische Kohle impor­tie­ren, mit ent­spre­chen­der Preis­steige­rung. Und na­tür­lich war da­mals auch das Kal­kül der rechts­ex­tre­men Mili­eus, dass sich die Un­zu­frie­denen zu­sam­men­rot­ten und die Lage es­ka­lie­ren las­sen, bis zum Staats­streich.

Es muss also mehr als ein Faktor zusammenkommen, damit eine Krise ent­steht und die drit­te Stufe ein­tritt: die Krise, die wirk­lich die Exis­tenz des Landes be­droht. Was kann die Poli­tik in so einer Phase tun?

Longerich: Wenig. Die Ereignisse des Jahres 1923 lehren uns, dass es in dieser Phase sehr schwer ist ge­gen­zu­steuern. Der eigent­liche Höhe­punkt der Krise von 1923 war ein ver­such­ter Um­sturz von Teilen der al­ten Eli­ten ge­mein­sam mit den Rechts­ex­tre­mis­ten, also der NSDAP unter ihren An­führern Adolf Hitler und Erich Luden­dorff. Das Mili­tär spielte eine un­durch­sich­tige Rolle. Aber dieser Ver­such schei­ter­te. Nach­dem Hitlers Putsch nieder­ge­schla­gen worden war, er­schienen auch alle ande­ren Staats­strei­che und Putsch­pläne obsolet.

Was aber, wie wir heute wissen, seine Machtübernahme dann doch nur um zehn Jahre ver­zögerte.

Longerich: Wir sehen zu Beginn des Herbstes 1923 zunächst Putsch­vor­be­rei­tungen rund um Berlin, sehr wahr­schein­lich mit Wis­sen der Reichs­wehr. Gleich­zei­tig zet­telt Hitler in Mün­chen Un­ruhen an. Die baye­rische Re­gie­rung ver­hängt den Aus­nahme­zu­stand, die Reichs­re­gie­rung rea­giert eben­falls mit einem Aus­nahme­zu­stand, der wie­derum den Ber­li­ner Putsch­ver­such ver­eitelt. Alles treibt nun auf die vier­te Phase der Krise zu, die eigent­liche Ent­schei­dung: Krieg, Bürger­krieg, Kampf aller gegen alle? Doch tat­säch­lich be­endet der miss­lun­gene Hitler-Putsch alle Um­sturz­be­stre­bun­gen, und es tritt eine wirt­schaft­liche und poli­ti­sche Stabi­li­sie­rung ein.

Was zeigt sich hier?

Longerich: Im Rückblick ist klar: Die Regie­rung in Berlin hat die Krise nur glück­lich über­standen. Sie und vor allem schon ihre Vor­gän­gerin hät­ten von vorn­herein scharf han­deln müs­sen, also etwa nicht dulden dür­fen, dass sich die Rechts­ex­tre­mis­ten unter dem Vor­wand des "Ruhr-Kampfes" be­waffnen und mobil­machen. Doch die Re­gie­rungen han­del­ten nicht vor­aus­schau­end, und Reichs­kanz­ler Gustav Strese­mann war schließ­lich völ­lig über­for­dert von der Situa­tion.

Als Sie dazu forschten, dachten Sie wohl nicht an den Sturm aufs Kapitol durch rechts­ex­tre­me Trump-An­hän­ger am 6. Jänner 2021.

Longerich: Soweit es seine Anhänger betrifft, war es ja eigent­lich ein of­fener Auf­stand, um einen ver­fassungs­mäßigen Wahl­vor­gang zu ver­hind­ern. Und es spricht ei­ni­ges da­für, Trumps An­sprache kurz davor als ver­suchten Staats­streich ein­zu­stufen. Noch sind die Unter­suchun­gen hie­rü­ber ja nicht ab­ge­schlos­sen. Doch wie auch immer, es gab keine Unter­stützung bei Poli­zei oder Mili­tär. Das ist ja ein ganz wesent­licher Unter­schied zu 1923.

Ein Hauptproblem in Krisen sind also Politiker, die überfordert bis hand­lungs­un­fähig sind. Genau­so wie Eu­ro­pa nach dem 24. Februar 2022?

Longerich: Und Politiker, die viel Zeit ver­lieren. Im Grunde ge­nom­men hät­te sich die Euro­pä­ische Union schon ein paar Wochen nach der rus­si­schen In­va­sion in der Ukra­ine auf die neuen Ver­hält­nis­se um­stel­len müs­sen. Es hat aber dann mo­na­te­lang ge­dauert, bis ent­schieden wurde, ob und wel­che Waf­fen ge­lie­fert wer­den oder wie man die ei­gene Be­völ­ke­rung vor den Preis­stei­ge­rungen schützt.

Hätte Europa nicht schon 2014, als Putin die Krim angriff, reagieren müssen?

Longerich: Das scheint mir aus heutiger Sicht genauso wenig ver­ständ­lich zu sein wie das Kri­sen­manag­ement im Jahr 1923. Wa­rum blieb man weiter­hin in der Ener­gie­ab­hän­gig­keit von Russ­land? Wie konnte man eini­ger­maßen freund­liche Be­zie­hungen zu Putin unter­hal­ten? Wa­rum haben wir prak­tisch jede mili­tä­ri­sche Rüs­tung ver­nach­lässigt? Gleich­zeitig stel­len Sie sich vor, je­mand hätte 2015 ge­for­dert, an­ge­sichts einer rus­si­schen Be­dro­hung auf­zu­rüs­ten. Er oder sie wäre wahr­schein­lich als der letzte Idiot da­ge­standen.

Und nicht als Hellseher. In Ihrem Buch beschreiben Sie das Ver­sagen der Poli­tik 1923 sehr ge­nau, es fehlt ein Macht­zen­trum, und am Ende herrscht mehr oder weni­ger Chaos. Um­ge­legt auf 2023: Ist die EU krisen­fest?

Longerich: Die Strukturen innerhalb der EU sind ja nicht auf rasche Ent­schluss­bil­dung, in der dann der Mehr­heits­stand­punkt kon­se­quent durch­ge­setzt würde, an­ge­legt. Das sieht man ja heute schon an den vie­len natio­na­len Allein­gän­gen. In einer viru­len­ten Kri­se wür­den die­se gan­zen euro­pä­ischen Mecha­nis­men ver­mut­lich außer Kraft ge­setzt und je­des Land wie­der für sich agie­ren. In Hoch­krisen hin­ken Gre­mien immer hinter­her, Ent­schei­dungs­trä­ger und ihr per­sön­li­ches Wol­len tre­ten in den Vor­der­grund. Das zeigt sich 1923 arche­ty­pisch. Doch auch diese Art von be­schleu­nig­ter, fast schon dik­ta­to­ri­scher Ent­schei­dungs­fin­dung führt nicht zu den ge­wünsch­ten Er­geb­nis­sen. Es wird eher nur noch schlim­mer. Im Nach­hi­nein hat man den Ein­druck eines ver­zwei­fel­ten Ab­stram­pelns. Denn mit oder ohne Gre­mien ist der Pro­zess nicht mehr steuer­bar.

Das heißt, solange alle zu ihren Ministerräten nach Brüssel fliegen, ist das ein gutes Zeichen?

Longerich: Ja, dieses gemeinsame Ringen zeigt uns, dass wir noch immer im Vor­feld der Krise sind. Wenn die echte Krise be­ginnt, dürfte ein anderer Mo­dus herr­schen. In An­sätzen haben wir das ganz zu Be­ginn der Pan­de­mie er­lebt. Die Ber­liner Re­gie­rung hat sich da­mals mit den Minis­ter­prä­si­den­ten kurz­ge­schlos­sen und die Par­la­mente völ­lig über­gangen. Aber wie man ge­se­hen hat, war das nicht un­be­dingt effek­tiver.

Wenn wir zusammenfassen: Was können wir, wenn überhaupt, aus dem Jahr 1923 für 2023 lernen?

Longerich: Die Konsequenzen sind so offen­sichtl­ich, dass sie sich fast schon banal an­hören. Wir sind, wenn man das his­to­risch ver­gleicht, noch nicht in einer schwer­wie­gen­den Krise, son­dern ver­suchen, die Aus­wir­kun­gen einer sol­chen großen Krise zu anti­zi­pieren. Man muss jetzt gegen­steu­ern, so früh wie mög­lich und auch, wenn es un­po­pu­lär ist. Man muss den Men­schen da­bei klar­machen, dass man das alles macht, um künf­tige große Krisen ab­zu­wenden. Die Pläne zur Ener­gie­wende lie­gen ja seit lan­gem auf dem Tisch, sind aber in der Ver­gan­gen­heit ver­nach­läs­sigt worden. Dann muss man na­tür­lich alles tun, damit die Men­schen durch die­se Phase kom­men, ohne zu ver­armen, was un­wei­ger­lich zu schwe­ren innen­po­li­ti­schen Kon­flik­ten füh­ren müsste. Und man muss sich kon­se­quent ge­gen die­jenigen ab­gren­zen, die die Krise für ihre Zwecke aus­nut­zen wol­len.

Sie klingen gar nicht so pessimistisch?

Longerich: Ich bin jetzt sogar wieder optimistisch. Wir sind mitten im Winter, und es läuft doch irgend­wie. Ein­mal mehr: Von einer Krise, in der die Exis­tenz un­se­res ge­sell­schaft­lichen und poli­ti­schen Sys­tems auf dem Spiel steht, sind wir noch weit ent­fernt. Aber das kann nicht heißen, dass wir die Hände in den Schoß legen.

Barbaba Tóth in Falter 1-2/2023 vom 13.01.2023 (S. 27)

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 11, 2023 9:48:00 PM Categories: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
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Das Tor Europas 

Die Geschichte der Ukraine

von Serhii Plokhy
Lieferbar ab März 2023

ISBN: 9783455015263
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 560 Seiten
Erscheinungsdatum: 03.09.2022
Übersetzung: Thomas Wollermann, Bernhard Jendricke, Stephan Pauli, Stephan Kleiner, Anselm Bühling
Preis: € 30,90

Kurzbeschreibung des Verlags:

Das Hauptwerk des Harvard-Historikers Serhii Plokhy endlich auf Deutsch.

Die Ukraine ein Land ohne eigene Ge­schichte? Der ukra­ini­sche His­to­ri­ker von Welt­rang Serhii Plokhy zeigt, wie mannig­fal­tig und dra­ma­tisch die His­to­rie die­ses Landes zwi­schen Eu­ro­pa und dem Osten ist. Nichts könnte der­zeit ak­tu­el­ler sein.
Mit dem Ukraine-Krieg hat eine neue Zeit­rech­nung in Eu­ro­pa be­gon­nen. Im Kern geht es in dem Kon­flikt um die Ge­schichts­deu­tung ei­nes rie­si­gen Lan­des, das jahr­hun­derte­lang Zank­apfel der Groß­mächte war: Es gilt als Wie­ge der Rus­sen und war my­thi­scher Ort für die al­ten Grie­chen, Wi­kin­ger und Mon­go­len. Sie be­herrsch­ten das heu­tige Staats­ge­biet eben­so wie Öster­reich-Ungarn, Polen und die Sow­jets, die erst mit dem „Holodomor“, dem grau­sa­men Aus­hun­gern der Be­völ­ke­rung, den ukra­i­ni­schen Wider­stand bre­chen konnten. Dass die Ukra­i­ner ein Volk mit ei­ge­ner Spra­che, Tra­di­tion und Ge­schichte sind, zeigt der Har­vard-Pro­fes­sor Serhii Plokhy so deut­lich wie fun­diert und elo­quent. Das Tor Euro­pas ist das viel­leicht wich­tig­ste Buch zum Ver­ständ­nis der Hinter­gründe des ak­tu­el­len Kon­flikts. Es zeigt, wie die Ukra­i­ne zum Spiel­ball zwi­schen Ost und West wurde und den­noch stets seine ei­gene Iden­ti­tät be­wahrte.

Das Buch wird bis zur Druck­legung in stän­di­gem Aus­tausch mit dem Au­tor ak­tu­ell ge­halten.

Rezensionen:

„Ohne Frage das Standardwerk zur Geschichte der Ukraine.“ – Wall Street Journal
„Das traurige Schicksal der Ukraine in all seiner Komplexität wird mit Serhii Plokhy endlich verständlich.“ – Foreign Affairs
„Unverzichtbar, um Russland und die Ukraine zu verstehen.“ – Simon Sebag Montefiore

Posted by Wilfried Allé Monday, January 9, 2023 8:54:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Zeitgeschichte(n) aus 50 Jahren 

Berichte, Interviews, Vorträge

von Eugen Freund

ISBN: 9783990295571
Verlag: Wieser Verlag
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
Umfang: 250 Seiten
Erscheinungsdatum: 31.10.2022
Preis: € 24,90

Kurzbeschreibung des Verlags:

Epochenjahr 1923: Wirren und Wende­punkte in Deutsch­land und der Welt
Vom Ortstafelkonflikt in Kärnten 1972 bis zum Ukraine-Krieg 2022, von den „dunklen Wol­ken über der US-Auto­in­dus­t­rie“ 1980 bis zum Im­peach­ment ge­gen Donald Trump im De­zem­ber 2019, vom ers­ten Por­trät des da­mals noch fast un­be­kannten Au­tors Peter Tur­rini im „Pro­fil“ 1973 bis zu Thea­ter-Mati­neen im Stadt­thea­ter Klagen­furt 2006. Eugen Freund hat im Rah­men sei­ner jour­na­lis­ti­schen Tätig­keit ein viel­fäl­tiges Œuvre ver­fasst: Vor­träge über das „Trans­at­lan­ti­sche Ver­hält­nis“ oder der Be­richt über einen Mör­der, der sich bis zum Ge­fängnis­di­rek­tor so­zi­a­li­siert hat – die „Zeit­ge­schichte(n)“ füh­ren uns zu­rück zum schreck­li­chen Erd­be­ben im be­nach­bar­ten Friaul (1976) oder zum Ende des „Aus­tro-Por­sche“, der in Öster­reich die Auto­mo­bil­in­dus­trie neu be­le­ben sollte. In New York be­sucht er Hedy Kempny, eine Freun­din des Schrift­stel­lers Arthur Schnitz­ler, er schil­dert die Aus­wir­kun­gen der Öl­katas­tro­phe der „Exxon Valdez“ in Alas­ka und den Ab­sturz einer „Panam 747“ über Locker­bie in Schott­land. Er­gänzt wer­den die Bei­trä­ge durch aus­führ­liche Inter­views: Der Medien­mogul Ted Turner kommt eben­so zu Wort wie etwa der Frie­dens­nobel­preis­trä­ger Elie Wiesel, UNO-General­sekre­tär Ban Ki-Moon, der ehe­mali­ge Kärnt­ner Landes­haupt­mann Hans Sima, Han­nes An­drosch am Tag sei­nes Aus­schei­dens aus der Credit­an­stalt, oder die ehe­mali­ge US-Außen­mi­nis­terin Madeleine Albright. Die Be­richte und Re­por­tagen er­schie­nen ur­sprüng­lich in der „Kärnt­ner Tages­zei­tung“, der „Presse“, der „Welt­woche“, im „Profi l“, der „ZEIT“, der „Vogue“, im „Kurier“, im „Stan­dard“, in der „Ber­liner Zei­tung“ und in „Woman“. Aber auch ei­ni­ge Bei­träge, die Freund für das ORF-Ra­dio oder das Fern­se­hen ver­fasst hat, fin­den sich hier wie­der. Ein kurz­wei­li­ger Rück­blick auf ein hal­bes Jahr­hun­dert Zeit­ge­schehen.

FALTER-Rezension:

Journalistische Zeit­ge­schich­ten

Der Autor Eugen Freund war Europa­ab­ge­ordne­ter, Mode­ra­tor der "Zeit im Bild" und ORF-Aus­lands­korres­pon­dent. Was viele über­ra­schen wird: Freund war als an­ge­hen­der Jour­na­list auch Zeu­ge des so­ge­nann­ten Orts­tafel­sturms in Kärn­ten 1972. Die Kra­walle ge­gen die zwei­spra­chige Orts­ta­feln ver­hin­der­ten, dass ein der slowenischen Minderheit im Staatsvertrag gegebenes Versprechen umgesetzt wurde. 39 Jahre (!) später kam es zu einem Kompromiss.

Der Ortstafelstreit hielt länger an, als die Ber­li­ner Mauer be­stand, rech­net Freund bei sei­ner Buch­prä­sen­ta­tion im Wie­ner Funk­haus vor. Ty­pisch für Freund, für den in sei­ner lan­gen Kar­ri­e­re die Ver­bin­dun­gen zwi­schen der wei­ten Welt und Öster­reich stets im Zen­trum ge­stan­den sind. Er hat den Fall der Ber­li­ner Mauer er­lebt, Donald Trump als Plei­tier in frü­hen Jah­ren wahr­ge­nom­men und sehr rasch die Be­deu­tung Barack Obamas er­kannt. Eugen Freund war im­mer ein ex­trem viel­sei­ti­ger Jour­na­list, was sich in sei­nem Buch nie­der­schlägt, das die letz­ten 50 Jahre lebendig werden lässt.

Raimund Löw in Falter 51-52/2022 vom 23.12.2022 (S. 27)

Posted by Wilfried Allé Tuesday, December 27, 2022 9:55:00 PM Categories: Belletristik/Essays Feuilleton Interviews Literaturkritik
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Krise! 

Wie 1923 die Welt erschütterte

von Nicolai Hannig , Detlev Mares

ISBN: 9783534275212
Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg)
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 240 Seiten
Erscheinungsdatum: 15.12.2022
Preis: € 41,20

Kurzbeschreibung des Verlags:

Epochenjahr 1923: Wirren und Wendepunkte in Deutschland und der Welt
Hitler-Putsch, Ruhr­kampf, Auf­stieg des euro­päi­schen Fa­schis­mus – 1923 war ein Jahr, das so­wohl Deutsch­land als auch die Welt er­schüt­terte und viele bis­herige Sicher­heiten in­frage stellte: Kemal Ata­türk greift nach der Macht, im ja­pa­ni­schen Kanto ster­ben über 140 000 Men­schen beim großen Erd­be­ben, und 1923 schei­ter­te zum ersten Mal der ukrai­ni­sche Traum von einem ei­ge­nen Natio­nal­staat. Das span­nungs­volle Pano­ra­ma eines be­son­deren Epo­chen­jah­res bie­tet an­ge­sichts aktu­el­ler Kri­sen­er­schei­nun­gen einen neuen, einen spiegel­bild­li­chen his­to­ri­schen Blick auf das kri­sen­hafte Jahr 1923 und schlägt be­wusst auch einen Bo­gen in die Gegen­wart.

Mit Beiträgen u. a. von Eckart Conze, Christoph Cornelißen, Franziska Davies, Christof Dipper, Gerrit Schenk und Jens Ivo Engels

Posted by Wilfried Allé Sunday, December 11, 2022 5:51:00 PM Categories: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
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Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu! 

Eine Streitschrift

von Alexia Weiss

ISBN: 9783218013536
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: Hardcover
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.09.2021
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Preis: € 22,00
Kurzbeschreibung des Verlags:

„Die Notwendigkeit zur Veränderung an Schulen könnte man nutzen, um nicht nur wieder ein kleines Reförmchen anzugehen, sondern das Bildungswesen neu zu konzipieren.“

Die Unzufriedenheit mit dem Schulsystem ist groß: Kinder sind unter- oder überfordert, Eltern beklagen zu großen Druck und ein zu hohes Lernpensum. Lehrer*innen wollen unterrichten, sehen aber, dass sie manche Schüler*innen nicht erreichen und am Ende der Notenschnitt alle Bemühungen überlagert. Direktor*innen sind frustriert vom ständig steigenden Administrationsaufwand. Also wie weiter?

Alexia Weiss wagt Großes: Sie plädiert für ein Schulsystem, das unseren Bildungsbegriff hinterfragt. Zentral ist deshalb nicht die Kritik an Bestehendem, sondern die Idee eines inklusiven Modells, das allen Kindern mehr Entwicklungspotenzial bietet und Eltern sowie Pädagog*innen unterstützt, statt sie zu überlasten. Ganzheitliche Bildung, frühe Förderung individueller Talente, psychosoziale Betreuung, die Neukonzeption des Lehramtsstudiums und faire Bezahlung sind die unabdingbaren Bausteine einer zukunftsweisenden Idee, die echte Chancengleichheit und damit ein tragfähiges Fundament für unsere Gesellschaft zum Ziel hat.

FALTER-Rezension

Der Traum vom perfekten Klassenzimmer

Seit mehr als zwei Jahrzehnten, seit Österreich an internationalen Bildungsvergleichsstudien teilnimmt, wissen wir um die vielen Schwächen unseres Bildungssystems. Da wären etwa die frühe Selektion, die ausufernde Bürokratie, Mängel in der Elementarpädagogik, die große Bildungsungerechtigkeit, der nicht zeitgemäße Umgang mit Mehrsprachigkeit und Diversität, Aufholbedarf in der Digitalisierung, um nur einige Schwachstellen zu nennen. All das ist seit Jahren bekannt, es wurde viel darüber geschrieben, und vor zehn Jahren hat ein Bildungsvolksbegehren grundlegende Änderungen gefordert.
Geschehen ist wenig. In den letzten zwei Jahren hat die Pandemie einer breiten Öffentlichkeit sichtbar gemacht, wie es um unser Bildungssystem steht.

Wer sich vom reißerischen Titel des Buches von Alexia Weiss eine weitere Abrechnung erwartet, wird enttäuscht sein. Das ist nicht die Intention der Autorin. Vielmehr möchte sie eine breite Debatte über eine Reform des Schulsystems in Gang bringen und stellt die Vision von einer Schule ins Zentrum, die jedem Kind gleiche Chancen bietet, ungeachtet seiner Herkunft.

Das Schulsystem, das sie beschreibt, stellt, wie sie betont, ein Idealbild dar, das angestrebt werden soll. In 30 Kapiteln werden alle relevanten Themenbereiche behandelt, die eine grundlegende Schulreform in Angriff nehmen müsste, und zwar in Österreich. Denn gute Modelle aus verschiedensten Ländern lassen sich nicht ohne weiteres auf jedes andere Land übertragen.

Wie sieht also die ideale Schule der Zukunft in Österreich aus? Die Autorin hat sich gründlich umgesehen. Zwar gibt es kein Land, das in seinem jeweiligen Schulsystem all die von ihr beschriebenen Charakteristika aufweist, doch alles, was sie anführt, ist State of the Art.

Fairerweise muss gesagt werden, dass sich auch an österreichischen Schulen so manches findet, was in dieser zukünftigen Schule vorkommen soll, wie etwa jahrgangsübergreifende Klassen im Volksschulbereich oder individualisierter Unterricht auf Basis von regelmäßigen Lernstandserhebungen. Da Ziffernnoten in der Volksschule wieder verpflichtend eingeführt wurden, sind diese Ansätze jetzt allerdings gefährdet.

Der ersten Bildungseinrichtung, dem Kindergarten, wird viel Raum gewidmet. Hier besteht bekanntlich besonders großer Reformbedarf. In altersübergreifenden Gruppen von maximal 15 Kindern sollen künftig bei den Drei-bis Sechsjährigen zwei Pädagogen oder Pädagoginnen arbeiten, bei den Kleineren sind die Gruppengrößen entsprechend kleiner.

Von ganz klein auf wird Konfliktkultur gelernt. Die Schule beginnt im Alter von sechs Jahren, und in dieser ganztägigen gemeinsamen Schule ohne frühe Trennung kommt dem Coach eine zentrale Bedeutung zu. Für jede Schülerin/jeden Schüler gibt es ab dem ersten Schuljahr eine Person, die sie/ihn durch die ganze Schullaufbahn begleitet. Diese Coaches sollten eine Ausbildung in klinischer Psychologie sowie ein Psychologiestudium absolviert haben, dazu eine Ausbildung im Bereich Bildungsberatung. Sie betreuen jeweils 30 Schülerinnen und Schüler quer durch alle Altersgruppen.

Der Coach kommt in vielen Kapiteln vor. Aus der Vielfalt der behandelten Themen können nur einige wenige herausgegriffen werden: Kurssystem von klein auf, Ganztagsschule, Nachhilfe an der Schule, multiprofessionelle Schulteams, Religionsunterricht, Schulärztin und Schulnurse, Elternkommunikation und Elternschule. Demokratieerziehung, Inklusion und Geschlechtergerechtigkeit stehen als Querschnittsmaterie ganz oben.

Das Buch ist sowohl für interessierte Laien als auch für Insider interessant und verdient eine spannende Diskussion. Politikern und Politikerinnen empfehle ich es als Pflichtlektüre.

Heidi Schrodt in Falter 36/2022 vom 09.09.2022 (S. 15)

Posted by Wilfried Allé Friday, November 25, 2022 9:39:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Verlockende Oasen 

Parks, Grünräume und malerische Gärten in Wien

von Viola Rosa Semper, Charlotte Schwarz

Reihe: Kultur für Genießer
EAN: 9783854396970
Verlag: Falter Verlag
Format: Gebundene Ausgabe
Umfang: 272 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.09.2021
Preis: € 29,90

Die Entdeckungsreise von Geheime Pfade und Faszinierende Wege geht weiter. Dieses Mal werden die schönsten öffent­lich zu­gäng­liche Grün­an­lagen der Stadt vor­ge­stellt. Diese be­zau­bernd, stil­len Orten sind grüne Wohl­fühl­oasen, wo man die Seele bau­meln las­sen, ein Buch ge­nießen, spa­zieren gehen oder auch Ge­schichte er­leben kann. Anek­do­ten von „Stamm­gästen“, Ge­schich­ten aus dem Grätzl so­wie hand­feste In­for­ma­ti­onen zu Archi­tek­tur, Ge­schichte und Ge­stal­tung er­gän­zen die um­wer­fen­den Fo­tos und la­den zum Fla­nie­ren durch die grünen In­seln Wiens.

Die Kapitel sind nach unter­schied­li­chen Park-/Grün­raum­ty­pen ge­glie­dert:

  • Englische Landschaftsgärten
  • Schlossgärten
  • Schwerpunktparks und Themenräume
  • Gartenvielfalt: Schul- und Schaugärten
  • Grätzelparks, Quar­tier­parks und städ­ti­sche Park­an­lagen
  • Naturbelassene Parkanlagen, Wälder und Schutz­ge­biete

Rezension von Michael Mueller aus Wien am 01.08.2022

Das ist ein wundervolles Buch über die Grün­räume in Wien. Es liefert viele inter­es­sante Infos, die wahr­schein­lich auch den meis­ten Wie­ner­Innen nicht be­kannt sind. Man be­kommt rich­tig Lust, all die Parks und Gär­ten zu er­kun­den. Es eig­net sich aber auch für Be­sucher­Innen der Stadt, die nicht nur je­ne Plätze se­hen wol­len, die sich alle an­de­ren auch an­sehen.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, November 16, 2022 10:40:00 AM Categories: Kultur für Genießer
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Weckruf Corona 

Gesellschaftliche Diagnosen für unser Leben nach der Pandemie

von Günther Sidl

ISBN: 9 783200 086012
Verlag: Urban Future
Format: Taschenbuch
Genre: Klimawandel, Nachhaltigkeit, Wirtschaft/Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 17.11.2022
Preis: € 22,00 (zzgl. Versandkosten)

 

Das Buchprojekt von SPÖ-EU-Abgeordneten Günther Sidl soll einen breit ge­fächer­ten Dis­kussions­pro­zess an­stoßen – Bei­träge von Ex­pert­Innen aus unter­schied­lichsten Be­reichen zei­gen auf, was Corona alles ver­ändert hat und wie es jetzt weiter­gehen kann.

„Die Corona-Pandemie hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Nicht nur die wirt­schaft­lichen und so­zi­alen Fol­gen habe viele zu spüren be­kom­men, son­dern na­tür­lich auch den Um­gang mit un­se­ren Grund- und Frei­heits­rechten und die Ver­lage­rung des so­zia­len Lebens in den vir­tuel­len Raum. Und ge­nau da­rüber müs­sen wir reden“, be­tont SPÖ-EU-Ab­ge­ord­ne­ter Günther Sidl, der vor die­sem Hinter­grund das Buch­projekt „Weckruf Corona – Ge­sell­schaft­liche Diag­nosen für unser Leben nach der Ge­sund­heits­krise“ ge­star­tet hat. Mit Bei­trägen von zahl­rei­chen Ex­pertInnen aus den ver­schie­dens­ten Dis­zi­pli­nen, soll das Buch eine Dis­kus­sion da­rüber an­stoßen, wie es jetzt weiter­gehen soll.

Von Augmented Reality bis zum Vor­sorge­denken. Die Themen der Bei­trä­ge sind breit ge­fächert und ge­hen von neues­ten techno­lo­gi­schen Ent­wick­lungen, wie der Aug­mented Rea­li­ty, über den Klima­schutz und das neu er­wachte Inter­esse an der Natur bis hin zu demo­kratie­poli­ti­schen Fra­gen und dem in­zwi­schen viel­fach aus der Mode ge­kom­menen Vor­sorge­denken. „Als über­zeug­ter Ver­fechter des Vor­sorge­den­kens, möchte ich mit diesem Buch auch einen Bei­trag da­zu leis­ten, dass wir diese vor­aus­schau­ende Hal­tung wie­der ins Rampen­licht stel­len“, so Sidl, dem es da­bei nicht nur um die best­mög­li­che Vor­be­rei­tung unse­rer Ge­sund­heits­sys­teme auf die nächs­te Pan­de­mie geht: „Es geht auch da­rum eine neue Sicht­wei­se da­rauf zu ent­wickeln, was uns in unse­rer Ge­sell­schaft wirk­lich etwas wert ist und wo­rauf wir be­son­ders ach­ten müssen.“

„Wir müssen darüber nach­denken, welche Ent­wick­lungen wir bei­be­hal­ten wol­len und wo wir wie­der zu­rück zum Sta­tus Quo vor der Pan­de­mie wol­len“, um­reißt Sidl die Idee für das Buch „Weck­ruf Coro­na“, mit dem aber auch ein lang­fris­ti­ger Blick in die Zu­kunft mög­lich wer­den soll: „Wir müs­sen uns auch über­legen, wo wir ganz neue An­sätze brau­chen, um Wirt­schaft, Ar­beit und unser Zu­sam­men­le­ben zu or­ga­ni­sie­ren. Kurz ge­sagt geht es um die Frage, wie sich un­sere Ge­sell­schaft weiter­ent­wickeln soll.“

Corona darf unsere Demokratie nicht krank machen

Entscheidend ist laut Sidl auch, dass die Corona-Pan­de­mie nicht un­sere Demo­kra­tie krank machen darf. „Wir dür­fen die Grund­lagen un­serer Demo­kra­tie, wie die Be­reit­schaft zum Dia­og und zur Zu­sam­men­ar­beit nicht aus den Au­gen ver­lie­ren“, er­klärt Sidl, der vor den mög­li­chen Spät­fol­gen warnt: „Was pas­siert, wenn wir auf­hören miteinander zu reden und alle in die Entscheidungen einzubinden, sehen wir an derwachsenden Skepsis vieler Menschen ge­gen­über der Politik, staatlichen Ins­tan­zen, Me­di­en und der Wis­sen­schaft. Das wurde in der Pan­de­mie sehr deut­lich sicht­bar. Diese Ent­wicklung kann und darf uns nicht egal sein, wenn wir die lang­fris­tige Sta­bi­li­tät un­serer demo­kra­ti­schen Struk­turen nicht ge­fährden wollen.“

„Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Ex­per­tin­nen und Ex­per­ten aus den unter­schied­lichs­ten Be­rei­chen von Poli­tik, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Zi­vil­ge­sell­schaft da­zu be­reit er­klärt ha­ben, die­ses Buch­pro­jekt zu unter­stützen“, freut sich Sidl, dass es ge­lun­gen ist so viele span­nen­de Bei­träge zu sam­meln: „Mir war es be­son­ders wich­tig, die Per­spek­ti­ven von Frau­en und Män­nern, die sich in ihrem Be­rufs­leben mit unter­schied­lichs­ten The­men be­fas­sen und da­bei Zu­sammen­hänge für un­sere ge­samte Ge­sell­schaft er­ken­nen, ab­zu­bil­den. Durch ihre viel­fäl­tigen Ein­blicke und Er­fah­rungen kön­nen wir wich­tige Lehren aus der Pan­de­mie zie­hen und neue An­sätze fin­en, um un­sere ge­mein­same Zu­kunft bes­ser zu ge­stalten.“
 


Urban Future Edition

Im Jahr 2018 wurde die Urban Future Edition gegründet, um Publikationen zu stadt­forschungs­rele­vanten und kom­munal­wis­sen­schaft­lichen Themen sowie zum Bereich Public Manage­ment stra­te­gisch und ge­zielt ver­öffent­lichen zu können. Dabei sollen auch wis­sen­schaft­lich noch wenig be­leuch­tete As­pekte von Urba­ni­tät und Stadt­ent­wick­lung be­wusst auf­ge­grif­fen werden. Inter­natio­na­li­tät und ein Denken in Re­gio­nen stel­len für Urban Forum und damit auch für die Urban Future Edi­tion einen we­sent­lichen Eck­pfeiler des Han­delns dar. Der Ver­lag möchte aber auch seinem selbst ge­stell­ten Kul­tur­auf­trag nach­kommen und an­lass­be­zogen Bücher ab­seits der vor­ste­hend an­ge­führ­ten Themen­felder heraus­bringen. Denn: „Urba­ni­tät meint immer auch ein Bild vom rich­tigen Leben. Sie be­misst sich auch an den öko­no­mi­schen, so­zia­len und poli­ti­schen Chancen für ein hu­ma­nes Leben, die eine Stadt jedem ihrer Bür­ger er­öffnet.“ (Hartmut Häußer­mann, Walter Siebel).
Bestellungen an office@urbanforum.at

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