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Unbehagen 

Theorie der überforderten Gesellschaft

von Armin Nassehi

ISBN: 9783406774539
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 384 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 16.09.2021
Verlag: C.H.Beck
Preis: € 26,80

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

 

WARUM MODERNE GESELLSCHAFTEN MIT DER KRISENBEWÄLTIGUNG ÜBERFORDERT SIND

Der Ruf nach mehr Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt entspringt unserem sehnlichsten Wunsch, aus einem Guss und womöglich kollektiv handeln zu können. Aber die moderne Gesellschaf t kennt keinen Ort, an dem ihre unterschiedlichen Funktionslogiken nachhaltig aufeinander abgestimmt werden können. In Krisen wird diese systematische Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst besonders deutlich. Armin Nassehi zeigt, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgsellschaften zwangsläufig scheitern muss. Aus dieser notorischen Enttäuschung resultiert ein Unbehagen, das den Blick auf die Gesellschaft von ihrer grundlegenden Selbstüberforderung ablenkt.
Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern, sind träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Prak- tiken immer wieder als erstaunlich fragil und vulnerabel. In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander. Schon die Semantik der Krise suggeriert aber, dass es so etwas wie einen wohlgeordneten Status geben könnte, der sowohl modern als auch nicht-krisenhaft wäre. Doch dieser Vorstellung läuft bereits die innere Differenziertheit der Gesellschaft in ökonomische, politische, wissenschaftliche, rechtliche und familiale Logiken zuwider. Armin Nassehi vertritt in seinem Buch dagegen die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben, ohne je in eine Form prästabilierter Harmonie zurückzukehren. Er zeigt, wie sowohl die sozialwissenschaftliche Literatur als auch die öffentlichen Debatten der Gegenwart den Blick auf diesen Zusammenhang verstellen, indem sie Gesellschaft ausschließlich in der Sozialdimension, d. h. in illusionären Kollektivbegriffen beschreiben. Demgegenüber stellt Nassehi die Sachdimension gesellschaftlicher Strukturen ins Zentrum seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse. Dadurch gelingt ihm ein kontruktiver Blick auf eine überforderte Gesellschaft, die in ihrem Unbehagen ihre eigene Problemlösungskompetenz zu vergessen droht. Er deutet zugleich an, was man aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um uns für künftige Krisensituationen besser zu rüsten – ohne übersteigerte Erwartungen zu wecken.

Armin Nassehi über die überforderte Gesellschaft
Warum unsere Gesellschaft nicht aus einem Guss regiert werden kann
Das Unbehagen an der Gesellschaft - Armin Nassehis neue Theorie

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.10.2021

Rezensent Peter Unfried findet großes Interesse an der neuen Gesellschaftstheorie von Armin Nassehi. Der Münchener Soziologe schreibt darin vom "Unbehagen" in der Gesellschaft, das durch die Tatenlosigkeit trotz des Wissens über Probleme wie dem Klimawandel entsteht, erklärt Unfried. Zwar werde der Autor vor allem von "akademischen Classic-Linken" womöglich durch seine Praxisorientierung kritisch gelesen, der Rezensent erkennt in Nassehis Ansatz jedoch Fortschritt im Vergleich zu den üblichen politischen Zeitgeist-Analysen.  Schließliche lerne man auch noch, dass für Koalitionen und die Gesellschaft der Zukunft ein Perspektivenwechsel anstelle der normativen Sicherheit stehen sollte, schließt der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 22.09.2021

Sehr instruktiv findet Rezensentin Vera Linß die Analysen des Soziologen Armin Nassehi, der in diesem Buch aufzeigt, warum die Gesellschaft es nicht mehr schafft, Probleme zu lösen. Nassehis Ansicht nach werde irrigerweise immer noch an ein Kollektiv appelliert, wo es darum gehe müsse, die Logiken der verschiedenen "Einheiten des Sozialen" zu erkennen: Wirtschaft, Medien, Recht, Familien etc. Wie diese Logiken dann neu miteinander "verzahnt" werden können, führt der Autor der Rezensentin am Beispiel der Palliativmedizin anschaulich und plausibel vor Augen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 21.09.2021

Rezensentin Ina Rottscheidt empfiehlt das Buch des Soziologen Armin Nassehi. Das Versagen der Gesellschaft bei kollektiven Herausforderungen und Katastrophen erklärt ihr der Autor mit Blick auf die Pandemie verständlich und überzeugend mit der Unfähigkeit der Menschen, unterschiedliche Interessen, Werte und Erwartungen für ein gemeinsames Ziel zu bündeln. Dass wir nicht kollektiv handeln können, erkennt Rottscheidt mit Ernüchterung, zumal der Autor auch keine einfachen Lösungen parat hat, sondern vor allem die Logik gesellschaftlichen Handelns offenzulegen sucht, wie die Rezensentin weiß. Für Rottscheidt ein kluges Buch mit wertvollen Erkenntnissen für unsere unmittelbare Gegenwart.
Posted by Wilfried Allé Tuesday, January 18, 2022 10:56:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Nationalpark Donau-Auen 

Ein Führer durch die Natur zwischen Wien und Bratislava

von Christina Rademacher

ISBN: 9783854396123
Genre: Reiseführer, Naturführer, Wanderführer
Umfang: 176 Seiten
Region: Wiener Becken, Marchfeld, Österreichische Donau, Hundsheimer Berge, Westslowakei, Donauauen
Erscheinungsdatum: 27.06.2018
Verlag: Falter Verlag
Preis: € 19,90

Inhaltsverzeichnis

So nah an der Stadt und doch so ganz anders als Wien und Bratislava: der Nationalpark und die Naturschutzgebiete der Donau- und March-Auen. Im Großraum zwischen der Hauptstadt Österreichs und jener der Slowakei liegt ein arten- und abwechslungsreiches Erholungsgebiet für Mensch und Natur. In zehn Kapiteln werden dieses Gebiet und seine nähere Umgebung vorgestellt. Seltene Tiere und Pflanzen, interessante Menschen und der Sinn eines Nationalparks zwischen zwei großen Städten sind Themen des Führers, der auch ganz praktische Tipps gibt: Wanderrouten, kulinarische Besonderheiten, Veranstaltungen und Naturerlebnisse in unterschiedlichen Landschaften, von der Steppe über karge Berge bis zu prächtigen Aulandschaften an Flüssen und Altarmen. Mit dem Guide werden die Donau- und March-Auen zum nah gelegenen Freizeit- und Naturerlebnis.

FALTER-Rezension:

Niederösterreichs Amazonas

In der Region zwischen Wien und Bratislava tritt häufiger als anderswo Wasser über die Ufer von Donau und March. Schön für tausende Tiere und Pflanzen in den Auen. Könnte ruhig öfter passieren

Katarina Zlochová steht mindestens zweimal im Jahr im unteren Teil ihres Grundstücks knöcheltief im Wasser: im Frühling, wenn Hochwasser die March über ihre Ufer treten lässt und im Juni, wenn mit der Donau dasselbe geschieht. Dann drückt der zweitmächtigste Strom Europas das Wasser der March zurück und versenkt Wiesen und Wälder, bis nur noch die obersten Spitzen der blauen Schwertlilien zu sehen sind, die für das Land, in dem die March in die Donau mündet, typisch sind.

Ohne das überlaufende Wasser würden die blauen Blumen, die in Österreich vom Aussterben bedroht sind und als Heilpflanze gelten, hier nicht vorkommen. Ebensowenig wie die mehr als 800 Pflanzenarten, über 30 Säugetier- und 100 Brutvogelarten, acht Reptilien- und 13 Amphibienarten und rund 60 Fischarten, die im Nationalpark Donau-Auen leben, der sich zwischen Wien und Bratislava auf 9300 Hektar erstreckt.

Katarina Zlochová ist eine von neun Donau-Expertinnen und –experten, mit denen Autorin Christina Rademacher für ihr Buch „Nationalpark Donau-Auen. Ein Führer durch die Natur zwischen Wien und Bratislava“ gesprochen hat, das diese Woche im Falter Verlag erscheint. Seit 18 Jahren lebt die gebürtige Deutsche in Wien. Ihr sei es ein Anliegen, den Leuten zu zeigen, welche Schätze direkt vor ihrer Haustüre liegen. „Dass man nicht erst in ein Flugzeug steigen muss, um beeindruckende Natur zu erleben, sondern dass – wie hier in den Auen – ein Öffi-Ticket oft reicht.“

Der Nationalpark Donau-Auen schützt die letzte größere zusammenhängende Flussauenlandschaft in Mitteleuropa. Hier konnte die freie Fließstrecke der Donau erhalten werden – der flussbegleitende Auwald gilt als der ursprünglichste und ökologisch bedeutendste in unseren Breiten. Gefährdet wird das Artenreichtum, das – zählt man land- und wasserlebende Insekten sowie wirbellose Tiere dazu – rund 5000 Arten umfasst, durch Flussregulierungen und gebietsfremde Tiere und Pflanzen, die sich schnell ausbreiten und den heimischen Arten Luft, Licht und Nahrung entziehen.

Für ihre Recherche schlüpfte Christina Rademacher über mehrere Monate hinweg in Gummistiefel, um die Auen zu erkunden. „Was mich dabei am meisten überrascht hat, ist, dass der Fluss so eine außerordentlich gestaltende Funktion einnimmt.“ Wäre die Donau unreguliert, lässt sich die Autorin von Experten vorrechnen, bliebe nach 100 Jahren nur ein Prozent der Auenlandschaft so, wie sie jetzt ist: „Wo heute Wasser ist, läge dann eine Kiesbank. Wo sich heute eine Kiesbank erstreckt, wüchsen dann Silberweiden.“ Der stetige Wechsel bildet die Lebensgrundlage für viele Tiere und Pflanzen. Man könne sich die Donau vorstellen wie ein Kind, erklärt Rademacher, das einen Sandkasten mit Kübeln voller Wasser in eine Gebirgslandschaft verwandelt, um sie am nächsten Tag wieder einzureißen und etwas völlig Neues zu bauen.

Für Katarina Zlochová gab es schon Jahre, in denen sie bis zu den Hüften nass war, wenn sie durch ihren Garten schritt. Dann rief sie nach ihrer Familie, die in die Badehosen schlüpfte, die Kartoffeln und Gurken aus dem Boden fischte und die Ernte einsammelte – in einer Babybadewanne, die zwischen den Kindern im Hochwasser schaukelte.

Seit 1974 lebt die tschechische Mikrobiologin in Devínska Nová Ves, einem Stadtteil im Nordwesten Bratislavas, unmittelbar an der Grenze zu Österreich. Die häufigen Überschwemmungen haben den Auwald ringsum „weich“ gemacht: Im sumpfigen Boden gedeihen schnell wachsende Pappeln und Weiden – und Menschen, die ein gewisses Maß an Pragmatismus ausmacht: „Wenn die March ansteigt, wird eben schnell alles in Sicherheit gebracht“, sagt Zlochová.

Für die Wissenschaftlerin, die in der Region Führungen anbietet, ist das Schutzgebiet vor ihrer Haustüre ein Glücksfall: Im Frühling beobachtet sie Smaragdeidechsen bei ihren Paarungskämpfen und Bienenfresser, wie sie fast zwei Meter tiefe Brutröhren in sandige Abhänge graben: Dass die bunt gefärbten Vögel, die in den 80ern bereits als ausgestorben galten, hier überhaupt zu finden sind, ist wohl dem Eisernen Vorhang zu verdanken, der mitten durch das Gebiet der Marchau verlief: „Die Tiere und Pflanzen profitierten von ihm“, meint die Mikrobiologin, „aber ich kann mich noch an die Schreie erinnern, die hier oft zu hören waren.“ Dass es heute einen direkten Weg nach Österreich gibt, ganz ohne Grenzkontrollen, ist für Zlochová „immer noch ein großes Wunder“, wie sie sagt. An den Tag der Grenzöffnung im Jahr 1989, an dem ihre Kinder den Stacheldrahtzaun mit großen Scheren durchgeschnitten haben, erinnert sie sich heute noch gern.

Durch die Begegnung mit Zlochová, erzählt Christina Rademacher, habe sie viel gelernt über die Geschichte der Region, die sich unmittelbar vor der Haustür der Wiener befindet. Und über die Donau selbst: Dass der Fluss nämlich etwa aussieht, wie er aussieht – also mit Ausnahme eines Stücks in der Wachau und im Nationalpark in Österreich streng reguliert –, sei das Ergebnis einer Erfindung, die ab 1830 die Flusslandschaften dieser Welt veränderte: die Dampfschifffahrt. Für die Schiffe, die einen wesentlich größeren Tiefgang und einen wesentlich höheren Wellengang hatten, als die Holzboote, mit denen die Donau davor jahrhundertelang befahren wurde, mussten das Flussbett vertieft und die Ufer stabilisiert werden. Der Hochwasserschutz, Kraftwerks- und Dammbauten taten ihr Übriges, um das Bild des insgesamt 2850 Kilometer langen Flusses zu verändern.

Wie die Flusslandschaft der Donau vor den zahlreichen Eingriffen ausgesehen hat, lässt sich heute nicht rekonstruieren. Dass aber Besucher des Nationalparks einen Eindruck davon bekommen, wie eine Aulandschaft funktioniert, ist im Grunde einem Schwarzstorch, einem Au-Hirsch und einer Rotbauchunke zu verdanken, die vor knapp 35 Jahren ihre, in die Annalen des Naturschutzes eingegangene „Pressekonferenz der Tiere“ abhielten: Autor Günther Nenning, Grünen-Ikone Freda Meissner-Blau, der damalige Chef der FPÖ-Jugend Hubert Gorbach, SPÖ-Urgestein Josef Cap und sein ÖVP-Urgesteins-Kollege Othmar Karas, Schriftsteller Peter Turrini sowie viele andere luden zum Presse-Event, der als Startschuss für den Widerstand gegen das geplante Donaukraftwerk in Hainburg galt und damit als Wegbereiter für den heutigen Nationalpark, der 1996 eröffnet wurde. So kam es, dass die Donau zwischen Wien und Bratislava heute fließen kann, wie sie will, nur: Fragt man die Ranger, die im Jahr tausende Touristen über die angelegten Wanderwege geleiten, so ist die einst wilde Donau heute viel zu zahm. Die vielen Regulierungen haben den Strom träge gemacht. Anstatt auszuufern, fließt er brav in seinem Korsett, in das er sich Jahr für Jahr tiefer gräbt, weil er in den begradigten Abschnitten links und rechts auf Grenzen stößt. In den Auen Seitenarme zu bewässern, geht sich für den Fluss dabei nicht mehr aus, was fatal ist für eine Landschaft, die davon lebt, regelmäßig unter Wasser gesetzt zu werden. Die Donauau lebt von konstanter Veränderung; lassen sich ihre Arme wegen des Wassermangels nicht mehr bewegen, mutiert die Landschaft zu Wald. „Damit Natur Natur sein kann, muss jemand regelmäßig Steine in die Donau werfen“, zitiert Christina Rademacher den Direktor des Nationalparks Carl Manzano in ihrem Buch. Deshalb wird einmal im Jahr Kies, der weiter unten zur Erhaltung der Schifffahrtsrinne aus der Donau gebaggert wird, auf Boote verladen und stromaufwärts ins Wasser gekippt, um die Sohle des Flussbettes aufzufüllen.

Zur Erhaltung der Artenvielfalt in der Au müssen die Nationalparkmitarbeiter nicht nur wie Sisyphus Kieselsteine transportieren, sie müssen auch konstant zupfen und mähen. Obwohl die Leitlinie des Parks verbietet, in die Naturzonen einzugreifen, ist das die einzige Option, um zu verhindern, dass ungeliebte Neulinge in den Auen das Kommando übernehmen:

Alleine in Niederösterreich gibt es mittlerweile weit über 170 eingeschleppte Pflanzenarten: den eschenblättrigen Ahorn, den Götterbaum, Akazien und das kleinblättrige Springkraut zum Beispiel. Entlang der March breiten sich die Rau- und Glattblatt-Astern aus: Werden die Wiesen nicht zweimal pro Jahr gemäht, nehmen die ursprünglich aus Nordamerika stammenden Astern ungebremst überhand und lassen zum Beispiel dem Adonisröschen, das in den 80ern als ausgestorben galt und seit der Antike als Heilmittel bei Herzleiden bekannt ist, keinen Platz.

Und auch im Tierreich breiten sich die Neophyten aus: Im seichten Wasser entlang des Donauufers zum Beispiel finden sich millionenfach kleine bräunliche Muscheln, die Körbchenmuscheln, die ursprünglich aus Asien stammen und mit Containerschiffen vom Yangtze-Fluss eingeschleppt wurden. Mittlerweile haben sie sich in den Auen so stark verbreitet, dass sie den heimischen Muscheln die Nahrung wegfiltern.

In den Auen ebenso millionenfach zu finden – auch ungut, aber definitiv heimisch: die Gelse, wichtige Nahrungsquelle für Fledermäuse, Vögel und andere. Welche Routen Besucher des Nationalparks bevorzugt begehen, während sie sich von Gelsen jagen lassen, steht in Rademachers Buch. Für das in den gelsenfreien Wintermonaten recherchiert wurde.

Verena Randolf in Falter 26/2018 vom 2018-06-29 (S. 52)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 12, 2022 10:27:00 PM Categories: Naturführer Reiseführer Wanderführer
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Moral als Bosheit 

Rechtsphilosophische Studien

von Alexander Somek

ISBN: 9783161608353
Genre: Recht/Allgemeines, Lexika
Umfang: 204 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 01.08.2021
Verlag: Mohr Siebeck
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Moralische Vorwürfe verletzen oder verärgern, vor allem wenn sie einen unvermutet und aus dem Hinterhalt treffen. Plötzlich gilt man als Rassist, Sexist oder gar als elitär. Die Daumen werden nach unten gekehrt und die Menge schreit "Buh". In den Chor einzustimmen verspricht den Teilnehmenden Statusgewinn, denn wer andere verurteilt, reiht sich damit sofort unter die Guten ein. Aber dieses Gutsein ist perfide. Die unbeirrbar auftretende Moral erweist sich bei näherer Betrachtung oftmals als boshaft. Sie macht Mehrdeutiges eindeutig und erzeugt so, was sie anprangert. Sie vermeidet Begründungen, belohnt das Ducken und vertraut auf die blanke Macht der Entrüsteten. Inhaltlich lässt sie sich nicht verallgemeinern, denn sie mutet Menschen zu, Verhaltensmaßstäben zu genügen, denen sie nicht genügen müssen. Die Bosheit dieser Moral gilt es zu begreifen und das Recht von ihrem Einfluss freizuhalten.

Philipp Blom:

In seinem Buch Moral als Bosheit befasst sich Alexander Somek, Rechtsphilosoph und kritischer Analytiker der Moralvorstellungen unserer Zeit, mit emotional aufgeladenen Debatten über Gendern, Sexismus, Rassismus oder Diskriminierung, mit dem Verhältnis von Recht und Moral; er stellt sich – und uns –die Frage, wie sich der Trend zur Aufspaltung in Gruppenidentitäten auf das Gemeinwohl auswirkt. Und er fragt, wie es in unserer moralisierenden, konsum- und wachstumsorientierten Gesellschaft um die soziale Frage, um das Streben nach sozialer Gerechtigkeit bestellt ist.
Posted by Wilfried Allé Monday, January 10, 2022 11:14:00 AM Categories: Lexika Recht/Allgemeines
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Dummheit 

Lieferbar ab Jänner 2022

von Heidi Kastner

ISBN: 9783218012881
Reihe: übermorgen
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 128 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 14.10.2021
Verlag: Kremayr & Scheriau
Preis: € 18,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Dummheit begegnet uns in vielerlei Form – doch woran kann man sie erkennen?“ Was haben so unterschiedliche Dinge wie „alternative Fakten“, menschenleere Begegnungszonen in Satellitensiedlungen und Schönheits-OPs als Maturageschenk gemeinsam? Heidi Kastner wagt sich an den aufgeladenen Begriff der Dummheit und betrachtet sowohl die sogenannte messbare Intelligenz (IQ) sowie die „heilige Einfalt“ und die emotionale Intelligenz, deren Fehlen immensen Schaden anrichten kann.  Was treibt Menschen, die an sich rational-kognitiv nachdenken könnten, dazu, sich und andere durch „dumme“ Entscheidungen ins Unglück zu stürzen? Wie ist kollektive Bereitschaft zu Ignoranz zu erklären und warum nimmt dieses Phänomen scheinbar so eklatant zu? Gibt es einen Konsens dafür, dass langfristig fatales, aber unmittelbar subjektiv vorteilhaftes Verhalten als „dumm“ anzusehen ist? Sind Abwägen und Nachdenken altmodisch? Und was um Himmels Willen ist so attraktiv am Konzept des Leithammels, der uns das Denken abnimmt, oder des Influencers, der uns den einzig wahren Weg zeigt? 

Falter-Rezension

„Querulanten sind unglückliche Menschen“

Was’ wiegt, des hat’s“, lautet eine bekannte Redewendung. Die in Linz geborene und ebendort als Chefärztin an der Landesnervenklinik tätige Heidi Kastner scheint sie zu ihrer Lebensmaxime erhoben zu haben. Die in der Öffentlichkeit recht präsente und medial nachgefragte Medizinerin nimmt sich kein Blatt vor den Mund und hält sich nicht an politisch korrekte Sprachimperative.

Auch nicht in ihrem soeben erschienenen Büchlein mit dem schlichten Titel „Dummheit“. Kurzweilig, unakademisch und uneitel versucht Kastner darin, einige konstitutive Merkmale der Dummheit zu bestimmen. Sie unterscheidet zwischen Intelligenzminderung und Dummheit, liefert einen kurzen historischen Abriss der Intelligenzforschung und kommentiert das aktuelle Geschehen um Pandemie und deren Begleitdebatten. Darüber hinaus erzählt sie teils ziemlich komische Fallbeispiele nach, die ihr in ihrer Tätigkeit als Gerichtsgutachterin untergekommen sind.

Dabei vermeidet es Kastner, in die Falle der Selbstüberhebung jener zu tappen, die die Dummheit immer nur bei den anderen konstatieren. Dumme Handlungen, so heißt es an einer Stelle, beruhten „auch auf unzureichendem Wissen, aber nur dann, wenn man den eigenen Wissensmangel nicht als problematisch erkennt“.

Falter: Naheliegende Einstiegsfrage: Wie dumm haben sich unsere Politiker während der Pandemie verhalten?

Heidi Kastner: (Lange Pause.) Ich weiß nicht, ob es Dummheit war. Für mich setzt Dummheit voraus, dass man für sich selbst einen Vorteil sucht und Kollateralschäden billigend in Kauf nimmt. Zu Beginn der Pandemie war die Informationsgrundlage gleich null. Man hat auf Bergamo geschaut und sich gefürchtet. Und wenn man zu diesem Zeitpunkt sagt: „Es wird bald jeder jemanden kennen, der an Corona verstorben ist“, dann ist das weder manipulativ noch blöd, sondern eine Prognose, die zwar falsch, in Hinblick auf den damaligen Informationsstand aber realistisch war.

Eineinhalb Jahre und vier Lock­downs später sieht es aber anders aus.

Kastner: Der vierte Lockdown war ein kommunikativer Super-GAU. Es gehört zum politischen Geschäft, zu wissen, dass Krisenkommunikation verständlich, eindeutig und einstimmig sein muss. Das war tatsächlich dumm.

Und die Entscheidung, ihn so lange hinauszuzögern …

Kastner: … war auch nicht klug. Man hätte bereits im Sommer für den Fall einer dramatischen Verschlechterung eine Impfpflicht in den Raum stellen, die rechtlichen Abklärungen vornehmen und den Gesetzesentwurf in Begutachtung schicken können. Wir hätten dann die Demonstrationen schon im August gehabt, was nicht so dramatisch gewesen wäre. Jetzt rennen relativ viele Infizierte maskenlos und brüllend durch die Gegend. Das ist ein ideales Ansteckungsszenario.

Mit Überzeugungsarbeit richtet man bei solchen Leuten wohl nichts mehr aus?

Kastner: Wer nach einem Jahr der Debatten über Impfeffizienz und über die bekannten und neu akquirierten Fakten nichts davon wissen will, den wird man nicht mehr erreichen.

Dafür kennen solche Leute „alternative Fakten“. Nur, wenn ich einen Mikrochip in meine Oberarmmuskulatur injiziert bekomme – was genau richtet der an?

Kastner: Keine Ahnung. Der wird halt irgendwo „andocken“ und verheerende Dinge anrichten. Solche Ansichten kenne ich ansonsten nur von psychotischen Patienten. Die fahren sich dann mit dem Schraubenzieher ins Ohr oder bohren sich mit der Bohrmaschine den Zahn auf, um den Chip zu entfernen. Es ist einfach bloß ein Blödsinn, den man aber nicht mehr als solchen bezeichnen soll. Denn natürlich muss man mit allen­ reden, alle verstehen und sich bemühen, „die Abgehängten“ zu überzeugen. Es gibt freilich Studien, denen zufolge gebildete Frauen mittleren Alters das Gros der Impfgegner ausmachen. Von „abgehängt“­ kann da keine Rede sein.

Apropos. Wer sich die Auftritte von Dagmar Belakowitsch anschaut, dem wird klar, dass die ihre sieben Zwetschken nicht beieinander hat. Wie kann so jemand „Gesundheitssprecherin“ werden?

Kastner: Na ja, da muss man sich fragen: von welcher Partei? Und das ist auch schon die Antwort. Der Herr Haimbuchner (Manfred Haimbuchner, FPÖ-Landesparteiobmann und Landeshauptmannstellvertreter Oberösterreichs sowie genesener Corona-Intensivpatient, Red.) ist nicht so gut beieinander gewesen. Gar nicht gut. Also überhaupt nicht gut. Aber selbst der hat seine Position nicht wirklich revidiert, weil das in der FPÖ ohne vollkommenen Gesichtsverlust nicht geht. Ich habe in diesem Zusammenhang sehr oft an das denken müssen, was Hannah Arendt über die Stimmung im Nationalsozialismus geschrieben hat: Die Menschen haben alles für möglich und nichts für wahr gehalten. In einer solche Situation hat man dann absolut freie Wahl und kann sich auch entscheiden, den abstrusesten Blödsinn zu glauben.

Als Erklärung für die Konjunktur von Verschwörungsnarrativen wird oft auf die große Verunsicherung verwiesen.

Kastner: Es ist unüberschaubar geworden, was sich gegenseitig bedingt. Das sprichwörtliche Fahrradl, das in China umfällt, kann tatsächlich Folgen für mich haben. Warum, bitte, krieg ich keine Dachziegeln mehr, wenn ein Schiff im Suezkanal feststeckt? Das ist auch für mich nicht mehr nachvollziehbar.

Hat es nicht damit zu tun, ob man über ein gewisses Weltvertrauen verfügt oder nicht?

Kastner: Ich habe mit 23 promoviert und bin jetzt 59. Ich überblicke also mehrere Jahrzehnte ärztlicher Tätigkeit. Früher sind die Leute gekommen, man hat sie durchuntersucht, eine Diagnose erstellt, und die haben gesagt: „Aha, was kann man da machen?“ Vor 25, 30 Jahren ging es los mit: „Ich hol mir eine zweite Meinung ein.“ – „Okay, machen Sie das.“ Und danach kam: „Ich muss mich erst erkundigen.“ Da wusste man schon, was folgt: „Ich habe im Internet nachgesehen und weiß jetzt, was ich habe und brauche.“

Mit den exponentiell steigenden Möglichkeiten, an Informationen zu kommen, steigt auch das Misstrauen?

Kastner: Ja. Das hat aber schon Anfang der 80er-Jahre begonnen, als die erste Ausgabe von „Bittere Pillen“ erschienen ist. Da hieß es dann: „Ja, diesen Firmen geht’s nur um den Gewinn.“ Ja, no na. Die Pharmaindustrie ist nicht die Caritas. Es kommt aber noch eines hinzu: Man erfährt vor allem davon, wenn etwas schiefläuft. „Das Antibiotikum hat Herrn Huber von der Pneumonie geheilt“ ist halt keine Schlagzeile.

Die Schulmedizin ist generell in Misskredit geraten?

Kastner: Ja, nicht zuletzt durch die ganze Esoterik. Wozu die Ärztekammer allerdings auch ein Scherflein beigetragen hat, indem sie zum Beispiel ein Fortbildungscurriculum Homöopathie angeboten hat. Da hätte man auch gleich noch „Handauflegen und Gesundbeten“ dazunehmen können. Der Hausarzt, der alles über seine Patienten gewusst hat, ist auch verschwunden. Aber klar, wenn der alleine dasitzt und ihm die Leute die Ordi einrennen, kann er sich nicht für jeden eine Stunde Zeit nehmen.

Der Arzt als Autorität hat abgedankt?

Kastner: Nicht nur der Arzt. Die gewiss auch fragwürdige Autoritätshörigkeit von seinerzeit ist ins Gegenteil umgeschlagen: Den obergscheiten Eliten glaubt man von vornherein einmal gar nichts. Unlängst habe ich mit einem Kollegen gesprochen, der eine Corona-Informationsveranstaltung für Lehrlinge gemacht hat. Er hat die allerdings nach einer Viertelstunde abgebrochen, weil er ansatzlos mit „Oida, schleich di, red kan Schas!“ empfangen wurde. Der Mann ist 35.

In Ihrem Buch zitieren Sie den deutschen Psychiater Eduard Hitzig, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem „Querulantenwahnsinn“ befasst hat. Gibt es dieses Krankheitsbild noch?

Kastner: Ja. Und er hat das damals schon korrekt beschrieben: Was auch immer die Regierung tun wird, diese Wahnsinnigen wird sie nicht überzeugen können. Die Wissenschaft ist einfach nicht imstande, die Menschen von ihren „gefühlten Wahrheiten“ abzubringen.

Was macht das Wesen eines Querulanten aus?

Kastner: Das ist im Kern jemand, der aus seiner gefühlten Zu-kurz-Gekommenheit die Überzeugung entwickelt, dass die Welt ein grauenhafter Ort ist, in der er stets auf der Hut sein muss, weil er sonst immer und überall übervorteilt und über den Tisch gezogen wird. Alles, was ihm begegnet, nimmt er durch diesen Filter wahr. Meine Großtante Wilhelmine war die Gattin eines Rittmeisters und hat in Hietzing gewohnt. Das Beste war für sie gerade gut genug. Also haben ihre beiden Schwestern in der Nachkriegszeit, in der man ohnedies nichts gekriegt hat, ihr unter unglaublichen Mühen ein Kaschmir-Twinset besorgt. Als sie das Packerl aufmacht, bricht sie in Tränen aus: „Ihr wollt mir damit nur sagen, dass ich immer schlecht angezogen bin!“

Das ist ja wie ein Musterbeispiel aus Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“!

Kastner: Querulanten sind auch total unglückliche Menschen, weil alle Welt gegen sie ist. Und wenn sie dagegen ankämpfen, entwickeln sie sich zu einem Michael Kohlhaas …

… den Kleist als einen der „rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen“ beschreibt.

Kastner: Ja, natürlich gibt es Anlässe, wo wirklich etwas falsch gelaufen ist. Das passiert allen. Nur wissen wir, weise wie wir sind: „Shit happens“ – und gehen weiter. Wohingegen sich der Querulant hineinsteigert und völlig verrennt.

Und ignoriert, dass er vielleicht nicht ganz so gerecht und edel ist, wie er gerne wäre.

Kastner: Ja, weil das ein Mindestmaß an Selbstreflexion und -kritik voraussetzt. Das ist aber grad nicht sehr angesagt. Lieber geht man in Therapie, vorzugsweise zu jemandem, der einem die eigene Meinung bestätigt. Und wenn man nicht gleich „verstanden“ wird, kann man den Therapeuten ja wechseln, bis man endlich einen findet, der „passt“.

Im Zusammenhang mit der Pandemie ist viel vom Versagen der Politik die Rede. Das Wort „Eigenverantwortung“ kommt eher selten vor.

Kastner: So wie im Schulkontext seit längster Zeit auch immer nur die Lehrer oder Schulpsychologen schuld sind, wenn irgendetwas nicht hinhaut beim Kind. Aber niemand nimmt die Eltern als Erziehungsberechtigte in die Pflicht. Jetzt ist eben die Politik dafür verantwortlich, wenn sich die Menschen nicht informieren oder sich nicht mehr als Teil eines größeren Ganzen verstehen, für das sie auch mitverantwortlich sind.

Sie spielen auf die Situation in den Spitälern und den Intensivstationen an?

Kastner: Ja. Es ist kein Einzelfall, dass jemand eine dringend nötige Operation nicht bekommt und auch nie mehr bekommen wird, weil er oder sie inzwischen gestorben ist. Die Leute auf den Wartelisten sterben weg. Und dann meint eine Passantin im „ZiB“-Interview: „Ja, die Leute sterben halt. Das kommt vor.“ Ob sie das auch sagen würde, wenn sie selbst dringend ein Intensivbett bräuchte? Das Recht auf Leben ist das fundamentalste Menschenrecht. Wenn ich meine Freiheit, nicht geimpft zu werden, beanspruche, spreche ich anderen indirekt das Recht auf zeitnahe Behandlung und damit das auf körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben ab. Das ist brutal, egoistisch und wirklich nicht klug.

Apropos brutal: Was in letzter Zeit leider für Aufmerksamkeit gesorgt hat, sind die hierzulande sehr hohen Raten von Morden an Frauen. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen dafür?

Kastner: Wir haben hierzulande mehr Morde an Frauen als an Männern bei einer insgesamt sehr geringen Mordrate. Männer sterben eher bei eskalierenden Raufereien oder im Kontext von Banden- beziehungsweise organisierter Kriminalität, und davon gibt es in Österreich nicht sehr viel. Wir haben allerdings den gleichen Anteil an getöteten Frauen aus den überall üblichen Gründen. Wobei man auch sagen muss, dass die importierte Gewalt recht hoch ist: Der Ausländeranteil bei Femiziden liegt bei 30 Prozent. Die sind bei Morddelikten also deutlich überrepräsentiert. Aber natürlich bleibt immer noch ein gerüttelt Maß an Frauenmorden, die von „gestandenen Österreichern“ begangen werden.

Wobei man zu dem nunmehr sehr häufig verwendeten Begriff „Femizid“ vielleicht sagen sollte, dass das hierzulande keine legitime Praxis und etwas anderes ist als eine Steinigung in der Scharia?

Kastner: Es ist etwas anderes, aber das Endergebnis ist das Gleiche: Die Frauen sind tot. Und die Medien berichten über solche Fälle dann als „Familientragödien“ und sprechen davon, dass der Mann „die Trennung nicht verkraftet“ und „aus Verzweiflung“ seine Frau umgebracht hat … Hallo?! Ich kann das Gerede von der Verletzlichkeit der Männer nicht mehr hören. Er hat sich selbst ermächtigt, ihr das Leben zu nehmen. Das ist ein brutaler, meistens ein geplanter Mord. Und den soll man dann auch als solchen bezeichnen und nicht als „Familientragödie“ oder „Beziehungsdrama“.

Ich frage mich allerdings, an wen es sich richtet und was es bringt, sich einen „Stop Femicide“-Button an die Jacke zu pinnen?

Kastner: Gar nichts. Das ist ja nicht wie bei einem Karussell, wo man auf einen Knopf drücken kann und es hört auf, sich zu drehen. Man wird auch nie alle Frauenmorde verhindern können, weil ein Teil der Täter völlig unauffällig ist. Der Kitzbühler Fünffachmörder hat seine Freundin nie geschlagen, er hat sie nicht kontrolliert, war nicht einmal eifersüchtig. Er war bloß deutlich älter als sie und halt fad. Als sie etwas unternehmen wollte, ist er mit ihr in den Alpenzoo gegangen. Das ist vielleicht patschert, aber nicht böse. Solche Typen, die auf eine Trennung mit einer völlig radikalen Verwerfung reagieren, wird man nie rausfiltern können.

Es gibt aber genug andere, die davor schon auffällig geworden sind?

Kastner: Ja, klar. Das ist dasselbe wie bei der Brunnenmarkt-Geschichte (2017 erschlug ein psychisch kranker Kenianer eine Frau mit einer Eisenstange, Red.): Da hat es zig Hinweise gegeben, die von unterschiedlichen Polizeidienststellen bearbeitet wurden, aber keiner hat die gesammelt und sich angesehen. Diese unterlassene Vernetzung von Informationen und ausbleibende Auswertung ist zuweilen schlicht tödlich. Beim BKA gibt es eine total gute Gruppe, die nennt sich VHR, Victims at Highest Risk, die ganz sorgfältige und fundierte Risikoeinschätzungen durchführt. Die können allerdings auch nur die Fälle prüfen, die man an sie heranträgt.

Das Männerbild ist hierzulande jedenfalls noch ein recht archaisches?

Kastner: Mir scheint, dass es in letzter Zeit sogar Aufwind bekommen hat. Eine Partei wie die FPÖ ist zwar gegen Migranten, müsste aber eigentlich froh sein über die Zuwanderung, denn was das Frauenbild anbelangt, sind sie sich eigentlich einig: Die Frau soll zuhause bleiben und den Mund halten.

Und die tradierten Rollenbilder werden in der Familie weitergegeben?

Kastner: So ist es. Ich weiß persönlich von einem Fall, der sich vor drei, vier Jahren zugetragen und unter „gestandenen Österreichern“ abgespielt hat. Der Sohn einer Familie, von der man wusste, dass der Mann die Frau drischt, kam in die Volksschule, und da steht eine Frau Lehrerin. Was macht der Bub? Er geht zu ihr und sagt: „Du bist a Weib und schaffst mir gar nix an.“ Das, was er halt zuhause hört und vorgelebt bekommt.

Was ist dann passiert?

Kastner: Man würde annehmen, dass die Schule die Erziehungsberechtigten herbestellt und ihnen erklärt, dass das so nicht geht. Weit gefehlt. Man hat den Buben in eine Klasse mit einem Lehrer versetzt. Und solange solche Konflikte so geregelt werden, braucht man sich nicht groß zu wundern. Das mag in Wien-Neubau etwas anders sein, aber in weiten Teilen des ländlichen Raums ist Frauenverachtung immer noch alltäglich gelebte Realität.

Sie haben jahrzehntelange Erfahrung als Gerichtsgutachterin. Wie haben sich die Motivationslagen und die Art der Verbrechen im Laufe der Zeit verändert?

Kastner: Wie überall gibt es auch in der Kriminalität Modeerscheinungen beziehungsweise ist das Strafrecht auch immer Ausdruck der aktuellen gesellschaftspolitischen Verfasstheit. Der Tatbestand der beharrlichen Verfolgung, des Stalking, ist noch relativ jung. Das hat man früher halt einfach aushalten müssen. Es hat nicht einmal einen Namen gehabt.

Was meinten Sie mit „Modeerscheinungen“?

Kastner: Na, zum Beispiel, dass heute kaum jemand entführt wird. Man kann noch so wichtig und vermögend sein, aber man wird nicht mehr entführt. Das ist ja fast schon kränkend. Außerdem schreibt heute kein Mensch mehr anonyme Drohbriefe.

Mediziner und Wissenschaftler, die sich öffentlich für die Impfung aussprechen, müssen aber damit rechnen, Morddrohungen zu erhalten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Kastner: Wenn, dann kriegt man Mails und keine Briefe. Es ist sicher schon zehn Jahre her, dass ich ein ziemlich grausliches Mail erhalten habe, in dem man mir angekündigt hat, wie man mich gerne umbringen würde. Die Spur dazu hat sich bei einem Server in der Ukraine verlaufen. Aktuell erhalte ich keine Drohungen, sondern nur Beschimpfungen.

Auch nicht schön.

Kastner: Nein, aber if you can’t stand the heat, get out of the kitchen.

Klaus Nüchtern in Falter 49/2021 vom 10.12.2021 (S. 26)

Heidi Kastner im Standard-Interview mit Anna Giulia Fink ->

Posted by Wilfried Allé Friday, December 31, 2021 3:24:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Bin ich das? 

Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft

von Valentin Groebner

ISBN: 9783103970999
Ausgabe: 1. Auflage
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 192 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 24.11.2021
Verlag: S. FISCHER
Preis: € 22,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was steckt eigentlich hinter dem neuen Zwang, sich zu zeigen? Mit viel Humor, Selbstironie und klugen Beobachtungen erzählt Valentin Groebner – »eine(r) der coolsten Geschichtswissenschaftler momentan überhaupt« (litera.taz) – seine kurze Geschichte der Selbstauskunft. Denn ob im Bewerbungsgespräch oder per Instagram-Account, bei der Teambildung oder im Dating-Profil: Ohne Selbstauskunft geht heute nichts. Sie ist sowohl Lockstoff als auch Pflicht, steht für Reklame in eigener Sache und das Versprechen auf Intensität und Erlösung, in den Tretmühlen der digitalen Kanäle ebenso wie in politischen Debatten um kollektive Zugehörigkeit.Doch wie viel davon ist eigentlich Zwang, und wie viel Lust? Was haben wir, was haben andere vom inflationären Ich-Sagen und Wir-Sagen? Diesen Fragen geht Valentin Groebner auf der Suche nach dem Alltäglichen nach. Er zeigt, was historische Beschwörungen der Heimat mit offenherzigen Tattoos gemeinsam haben, und was den Umgang mit alten Familienfotos und demonstrative Rituale des Paar-Glücks (Stichwort Liebesschlösser an Brückengeländern) verbindet. Doch ist öffentliche Intimität wirklich die Währung für Erfolg – oder eine Falle? 
 

Falter-Rezension

Muss ich alles über mich preisgeben?

Geheimnisse sind out, Offenheit ist Pflicht -als Bürger, Liebende und natürlich Teilnehmende an der schönen neuen Medienwelt. Wie kam das und tut uns das überhaupt gut?, fragt Valentin Groebner in "Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft". Groebner lehrt als Professor für Allgemeine Schweizer Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern und legte populäre Bücher über Geschichtstourismus, die Geschichte des Gesichts oder über Wissenschaftssprache vor.

"Bin ich das?" widmet sich in acht kurzweiligen Kapiteln der Crux, die darin liegt, sich individuell zu geben und doch nicht unangenehm aufzufallen. Ich zu sagen, meint Groebner, sei weder unmittelbar noch persönlich, sondern bestimmt von "rhetorischen Kunststücken, Zwangssystemen und Projekten radikaler Selbstverbesserung". Die Ich-Auskünfte kämen zwar locker und spontan daher, würden aber genauen Spielregeln folgen. Da ihnen niemand entkommen könne, ohne sich verdächtig zu machen, fielen sie in die Kategorie "freiwillige Unfreiwilligkeit".

Zu den stärksten Passagen des Buches gehören die Reflexionen über seine eigene Biografie. Aufgewachsen in einem Döblinger Gemeindebau, fühlt Groebner sich, obwohl seine Eltern Akademiker sind, in den Villen der höheren Töchter und Söhne kaum geduldet. Auch im Schweizer Bürgertum lernt er diesen Distinktionswillen kennen und begreift: Das Ich definiert sich nicht selbst - es wird von den anderen etikettiert.

Die letzten Kapitel dieses launig geschriebenen und gut zu lesenden Buches handeln von Fotos als Erinnerungsmaschinen und von Tattoos als den verzweifelten Versuchen, sich selbst mit Zeichen der Vergangenheit zu versehen.

Am Schluss bezieht Groebner auch die aktuelle Covid-19-Pandemie mit ein. An der moralischen Erregungs- und Befürchtungsgemeinschaft, die Angst in Rechthabenwollen umwandelt, möchte er lieber nicht teilnehmen. Stattdessen empfiehlt er, Unklarheiten ertragen zu lernen. Auch darüber, wer man selbst ist.

Kirstin Breitenfellner in Falter 51-52/2021 vom 24.12.2021 (S. 49)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, December 29, 2021 5:34:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Salonfähig 

Roman

von Elias Hirschl

ISBN: 9783552072480
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 23.08.2021
Verlag: Zsolnay, Paul
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was, wenn man sich ein perfektes Leben wie eine zweite Haut über­ziehen könnte? Will­kommen bei Austrian Psycho
Stundenlang übt er vor dem Spie­gel seinen Gang, sein Lächeln, seine Art zu sprechen. Julius Varga, der Partei­chef, ist das ganz große Idol des namen­losen Er­zäh­lers. „Ich gebe mich für dich auf, Julius. Ich liebe dich.“ In seiner Ab­wesen­heit gießt er seine Zimmer­pflan­zen, als ob dies ein Staats­akt wäre. Auf einer unteren Ebene dient der Er­zähler der Par­tei und eifert seinem Vor­bild nach. Er ist be­ses­sen von Mar­ken und Äußer­lich­keiten und der Äs­the­tik von Ter­ror­an­schlä­gen. Elias Hirschls neuer Ro­man ist ein großer Wurf und ein Ver­gnü­gen. Das wahn­wit­zige Por­trät der Gene­ra­tion Slim Fit: jung, schön, in­tel­li­gent, reich, ober­fläch­lich und brand­ge­fähr­lich.

3 Fragen von Bettina Wörgötter an Elias Hirschl

Herr Hirschl, was fasziniert Sie an der Generation Slim Fit, die Sie in Ihrem Roman "Salonfähig" porträtieren?

Die Generation der Slim-Fit-Politiker drückt für mich eine Art Zu­spit­zung und Per­fek­tio­nie­rung der po­li­ti­schen Rhe­to­rik aus. Ich stell mir das gern wie beim Ski­sprin­gen vor, wo zu Be­ginn noch ver­schie­den­ste Sprung­tech­ni­ken aus­pro­biert wor­den sind, da wurde mit den Armen ge­ru­dert, an­ge­legt, ab­ge­spreizt, bis sich schließlich eine einzige Sprungtechnik durchgesetzt hat, die dann nur noch verfeinert und perfektioniert wurde. Wie beim Skispringen werden die politischen Pro­ta­go­nis­ten im­mer jün­ger, ihre Kampf­an­züge werden im­mer aero­dy­nami­scher und ihre Aus­drucks­weise ver­engt sich auf einen sehr spezi­fi­schen, schma­len Rhe­to­rik­stil der völ­lig ent­leerten Phrasen­dre­sche­rei, durch den jedes echte Ge­spräch schon im An­satz ver­hin­dert wird. Und die Tat­sache, dass letzt­end­lich keine poli­tisch inter­es­sier­ten Men­schen an der Spitze lan­den, son­dern nur noch die­je­ni­gen, die die­sen spezi­fi­schen Stil der leeren Rede am besten be­herr­schen, die keine ein­zige inter­essante Idee her­vor­brin­gen, aber die Kunst der Be­we­gung per­fek­tion­iert ha­ben, fas­zi­niert mich und macht mir auch ziem­liche Angst. Da fehlen im Grunde nur noch die Spon­soren­logos auf der Kra­watte.

Was fasziniert Sie an Maskulinität?

Im Buch wird toxische Männlichkeit auf ver­schie­dene Ar­ten ge­schil­dert. Vor allem die hie­rar­chi­schen Struk­turen in der Jungen Mitte und der Mut­ter­par­tei Mitte Öster­reichs sind stark pa­tri­ar­chal ge­prägt. Mich fas­zi­niert hier vor allem die­ses in­trin­sische Leis­tungs­den­ken, das je­den As­pekt der neo­libe­ra­len Po­li­tik durch­zieht. Der Mensch ist nur dann etwas wert, wenn er etwas aus ei­ge­nem An­trieb schaf­fen kann. Jeder Mensch de­fi­niert sich nur durch die ihm zu­ge­wie­sene Rolle, je­der be­misst seinen ei­ge­nen Selbst­wert an dem, was er leis­tet. Da­durch ent­frem­den sich alle Fi­gu­ren von­ei­nan­der, weil es nicht mehr um den Men­schen geht, son­dern nur noch da­rum, was man von einem Men­schen be­kom­men kann, wel­che Po­si­tio­nen, Kon­takte oder fi­nan­ziel­len Mit­tel man von je­man­dem be­kom­men kann. Damit ein­her geht auch die fal­sche Prä­mis­se, alle Men­schen hät­ten die­sel­ben Start­be­din­gun­gen und seien für ihr Schick­sal selbst ver­ant­wort­lich, wo­durch sich als Macht­haber an­ge­nehm jede Ver­ant­wor­tung von sich wei­sen lässt. Mich fas­zi­niert vor allem auch, wie die­ser Leis­tungs­wahn, der ja dem an­geb­lichen christ­lich-so­zi­alen Leit­ge­dan­ken der Par­tei völ­lig zu­wider­läuft, schließ­lich in einer Art para­reli­gi­ösen, ri­tuel­len Ver­ehrung die­ses omi­nö­sen Kon­strukts der „Leis­tung“ mündet, als wäre sie eine Art Gott­heit, zu deren Zweck alles ge­schieht.

Was fasziniert Sie an Satire?

Satire widersetzt sich der For­de­rung, eine Auf­gabe er­fül­len zu müs­sen, denn Kunst und Sa­ti­re sind ja, wie wir dank Coro­na wis­sen, nicht system­re­le­vant. Aber das Gute da­ran, nicht sys­tem­re­le­vant zu sein, ist, dass man auch nicht an spezi­fi­sche Er­war­tungen ge­bun­den ist. Sa­tire kann daher alles Mög­liche tun. Und was Sa­tire her­vor­ragend tun kann, ist, ver­steckte Struk­turen, vor allem Macht­struk­turen sicht­bar zu machen, und diese auf eine Art zu ent­lar­ven, dass sie et­was von ihrem Schrecken ein­büßen, dass man zu­min­dest da­rüber lachen kann. Salonfähig ist auch der Versuch zu zeigen, was vom politischen Menschen übrig bleibt, wenn man den Menschen heraus­schält und nichts als die rhe­to­ri­sche Struk­tur zu­rück­bleibt, und was vom Leis­tungs­den­ken zu­rück­bleibt, wenn man diese Idee auf die Spitze treibt und den Wert ei­nes Men­schen tat­säch­lich nur noch an sei­ner Pro­duk­ti­vi­tät be­misst. In bei­den Fäl­len bleibt letzten Endes nichts zu­rück als eine rei­ne Pro­jek­tions­fläche, los­ge­löst von je­der Emo­tion und je­der Mensch­lich­keit, un­fähig zu Mit­ge­fühl, Inter­es­se oder ech­ter An­teil­nahme.

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 8:26:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Macht in weltweiten Lieferketten 

Eine Flugschrift

von Christoph Scherrer

ISBN: 9783964881243
Genre: Wirtschaft/Internationale Wirtschaft
Umfang: 96 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 17.12.2021
Verlag: VSA
Preis: € 10,30

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Lieferketten ist der wohl promi­nen­teste Be­griff, um die Struk­tur des Glo­bal Sour­cing, der welt­wei­ten Be­schaf­fung von Waren, zu be­schrei­ben. Er wird auch von der Bun­des­re­gie­rung für das An­fang Juni ver­ab­schie­dete Lie­fer­ket­ten­ge­setz ge­nutzt, das die Ein­hal­tung von Men­schen­rech­ten bes­ser re­geln soll. Der Au­tor kri­ti­siert, dass der Be­griff der Kom­plexi­tät von Macht­un­gleich­hei­ten und struk­tu­rel­ler Aus­beu­tung nicht ge­recht wird. Das spie­geln auch die un­ter­­schied­li­chen Theo­rie­kon­zepte wider, die, so Chris­toph Scher­rer, meis­tens spezi­fi­sche Macht­­as­pek­te fo­kus­sieren, ohne die Wechsel­be­zie­hungen zu be­rück­sich­tigen.
Der Autor ergänzt daher all­ge­mein­gül­tige Macht­ana­ly­sen durch Über­le­gun­gen für spezi­fi­sche Kon­texte. Am Bei­spiel klein­bäuer­licher Be­triebe zeigt er, wer am we­nigs­ten von der Ar­beits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer daran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.
Er liefert damit zugleich eine theo­re­ti­sche Grund­lage, mit der Leser:in­nen die Macht­be­zie­hungen welt­wei­ter Lie­fer­ket­ten bes­ser ver­ste­hen und auch die Wirk­mäch­tig­keit des im Juni 2021 ver­ab­schie­deten Lieferket­ten­ge­setzes bes­ser ein­ord­nen können.
Die Flugschrift soll dazu bei­tragen, die täg­lichen und sys­te­mi­schen Men­schen­rechts­ver­let­zungen bei ­denen, die in glo­ba­len Pro­duk­tions­netz­wer­ken ­ar­bei­ten müssen, zu über­winden.

Zusammenfassung

Die Fragilität globaler Liefer­ketten ist wäh­rend der Pan­de­mie und durch die Blockade des Suez­ka­nals be­son­ders deut­lich ge­worden. Zu­gleich sind sie »Aus­beutungs­ket­ten«, in denen Macht­be­zie­hungen ab­ge­bil­det sind. Christoph Scherrer zeigt, wie Macht in Pro­duk­tions­netz­wer­ken durch­ge­setzt wird, wer am we­nigs­ten von der Arbeits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer da­ran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.

Tipps für Verbraucherinnen und Verbraucher

Einkaufskorb mit Fairtrade-Produkten

Jede und jeder kann dazu bei­tragen, dass unsere Welt ge­rech­ter wird. Fair und nach­hal­tig zu leben be­deu­tet, sich die Fol­gen seiner Lebens- und Kon­sum­ge­wohn­heiten be­wusst zu machen und ver­ant­wor­tungs­voll zu han­deln.

Nachhaltigkeit ist dabei nicht nur auf öko­lo­gische As­pekte be­schränkt – sie hat eben­so wich­tige wirt­schaft­liche, sozi­ale und poli­ti­sche Dimen­si­onen. Hel­fen Sie mit, dem Ideal einer ge­rech­ten und nach­hal­ti­gen Welt ein Stück näher­zu­kom­men! Zum Bei­spiel indem Sie fair ein­kau­fen, fair reisen oder ihr Geld fair an­legen.

Nähere Informationen dazu finden Sie hier  ->

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 4:33:00 PM Categories: Wirtschaft Wirtschaft/Internationale
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Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom 

von A. E. Hotchner

ISBN: 9783836960731
Genre: Kinder- und Jugendbücher/Kinderbücher bis 11 Jahre
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 28.06.2021
Verlag: Gerstenberg Verlag
Empf. Lesealter: ab 10 Jahre
Übersetzung: Anja Malich
Illustrationen: Tim Köhler
Preis: € 16,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

St. Louis inmitten der Weltwirtschaftskrise. Der zwölfjährige Aaron Broom muss mit ansehen, wie nach einem Überfall auf ein Juweliergeschäft sein Vater in Handschellen abgeführt wird. Dabei wollte sein Pop, ein Uhrenvertreter, dort doch bloß seine neueste Kollektion vorführen! Aus seinen Lieblingsbüchern weiß Aaron genau, dass er den wahren Täter nun auf eigene Faust „detektivieren“ muss, wenn er will, dass sein Pop wieder freikommt. Von unverhoffter Seite bekommt er Hilfe: von Ex-Boxer und Hauswart Vernon, von Augie, dem Zeitungsjungen an der Ecke, von einem freundlich gesinnten Anwalt für Seerecht – aber er hat auch gefährliche Widersacher …

FALTER-Rezension

Vor 100 Jahren war die Welt nicht in Ordnung

Ein Kinderkrimi über die Weltwirtschaftskrise in den USA

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war gestern. Der amerikanische Autor und Journalist A.E. Hotchner starb im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren. Kurz zuvor hatte er mit 100 noch eine Detektivgeschichte verfasst, die in der Zeit der Großen Depression angesiedelt ist. Hotchner war während der Weltwirtschaftskrise selbst Kind und hat seine eigene Story bereits früher niedergeschrieben, Steven Soderbergh verfilmte sie als „Der König der Murmelspieler“. Auch „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ lebt von der unglaublich lebendigen Erinnerung des Autors an diese so schwierige wie turbulente Zeit. Atmosphäre und Ton stimmen einfach, Straßenslang inklusive.

Held der Geschichte ist der nicht ganz 13-jährige Aaron Broom. Nach einem Raub in einem Juwelierladen wird durch ein Missverständnis sein Vater inhaftiert, wo der doch nur harmloser Vertreter für Uhren ist. Aaron ergreift gleich die Initiative. Zum einen hat er genug einschlägige Bücher verschlungen, um zu wissen, wie er „detektivieren“ muss, damit der wahre Schuldige gefasst wird. Unterstützung erhält er außerdem von einem Zeitungsjungen, einem Hausmeister und einem ehemaligen Boxer. Die kann er auch gebrauchen, bekommt er es doch mit üblen Zeitgenossen zu tun. Eine packende und zugleich berührende Geschichte, die nebenbei historisches Wissen vermittelt.

Sebastian Fasthuber in Falter 42/2021 vom 22.10.2021 (S. 29)

Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2021

Der Junge, der detektiviert
Ein Krimi aus der großen Depression in Amerika
Dass manch Hundertjähriger ungewöhnliche Eskapaden unternimmt, weiß man seit Jonas Jonassons Romanen. Dass jemand mit 99 Jahren eine Detektivgeschichte wie „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ schreibt, bei deren Lektüre Emil Tischbein bleich geworden wäre, das ist allerdings besonders.
Der Krimi spielt Anfang der Dreißigerjahre in St. Louis, mitten in der Zeit der Großen Depression. Der Autor dieser Geschichte, der offensichtlich mit großer Empathie und Kenntnis in die Rolle seines jugendlichen Helden Aaron („fast dreizehn“) schlüpft, ist der US-amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor A.E. Hotchner, der im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren starb. Seine Geschichte beruht auf dem Roman seiner Kindheit, „King of the Hill“ (Der König der Murmelspieler), den Steven Soderbergh 1993 verfilmte. Hotchner wurde unter anderem durch Biografien von Ernest Hemingway und Paul Newman bekannt.
Aaron ist ein aufgewecktes, wissbegieriges Bürschchen, ein guter Schüler und Sportler, und er blickt stets optimistisch in die Zukunft. Und das, obwohl seine Mutter in einem Sanatorium liegt und sein Vater, ein polnisch-jüdischer Emigrant, in der Krise sein Geschäft verlor und sich nun erfolglos als Handelsvertreter abmüht. Aaron ist mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen, um zu überleben. Alles wird noch schlimmer, als der Junge Zeuge eines Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft wird und sein Vater in Untersuchungshaft gerät. Der Sohn versucht sich über Wasser zu halten und gleichzeitig die Hintergründe des Verbrechens aufzuklären. Er, der Icherzähler, „detektiviert“ – wie er es in der stilsicheren Übersetzung von Anja Malich nennt. Das erinnert ans Berliner Milieu von Emil Tischbein und seinen Freunden um Gustav mit der Hupe. In Hotchners Roman unterstützt ein flinker Zeitungsjunge den Teilzeitdetektiv. Um die beiden herum gruppiert sich eine kleine Gruppe von Helfern. Hotchners wichtigste, in die Handlung verwobene moralische Botschaft: Wenn sich eine solch katastrophale Situation überhaupt überwinden lässt, dann nur mit der Solidarität anderer Menschen und einem Grundgefühl von Geborgenheit und Vertrauen. Allerdings ist das vom Autor gewählte Großstadtmilieu brutaler als das in Kästners Kinderkrimi. Da fallen Schüsse, da kippen Bösewichter um, bevor sich die Verhältnisse klären.
Hotchners Geschichte ist im sympathischen Sinn altmodisch erzählt, mit viel Liebe zu kleinen Details und nicht nur im Schwung von einer Aktion zur nächsten. Gerade dadurch gewinnt das Milieu fassbare Konturen, in dem sich redliche arme Menschen, Glücksritter und Kriminelle begegnen. Die realistischen Schwarzweiß-Illustrationen von Tim Köhler unterstreichen diesen Eindruck noch. (ab 12 Jahre)
SIGGI SEUSS
A. E. Hotchner: Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom. Mit Illustrationen von Tim Köhler. Aus dem Englischen von Anja Malich. Gerstenberg 2021.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

Posted by Wilfried Allé Friday, December 17, 2021 8:42:00 PM Categories: Kinder- und Jugendbücher
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aprés lift 

49 Skitouren auf EX-Bahn-Berge der Schweiz

von Daniel Anker

ISBN: 9783039130290
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Natur, Gesellschaft
Umfang: 220 Seiten
Format: Buch
Erscheinungsdatum: 01.01.2022
Verlag: AS Verlag
Preis: € 40,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Neu-alte Skitourenberge bekommt das Land. Wenn der (Kunst-)Schnee ausbleibt oder das Geld für die Renovation, dann stehen Liftanlagen plötzlich still. Und Hügel und Berge in der Schweiz werden wieder Ziele für Skifahrer und Snowboarderinnen, die aus eigener Kraft in die Höhe kommen. Auf 55 Gipfel in den Schweizer Bergen führten einst – manchmal bis ganz zuoberst – Ski- und Sessellifte, aber auch Gondel- und Seilbahnen. Die Vergangenheitsform ist richtig: Die Anlagen waren mehrheitlich nur in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Betrieb. Nun laufen sie nimmer, und die Schneesportler, die mit Fellen an den Brettern hochsteigen, haben die weissen Hänge wieder für sich allein. Die meisten Lifte wurden mangels Nachfrage und Schneefall sowie wegen anderen Gründen stillgelegt. Und dann rückgebaut, teilweise wenigstens. Manchmal ist alles noch da, die Bügel und die Kabinen, die Masten und die Stationen, nur die Leute in Pistenskischuhen fehlen. Manchmal sieht man aber kaum noch was im Gelände. Vielleicht noch ein kleines Holzhäuschen, hier der Betonsockel eines Masten, drüben eine Ausbesserung im Gelände, da ein Schild.
Genau: Die Lifte sind weg (oder fahren wenigstens nicht mehr), die Erinnerungen blieben. Und neue Möglichkeiten im Tourenskilauf kommen hinzu bzw. werden wieder wahr. Oft waren diese besonderen Gipfel, bevor sie mit Liften erschlossen wurden, ja schon Ziele von Tourengängern. Denn eines ist sicher: Anhöhen, auf die Aufstiegshilfen gebaut wurden, eignen sich grundsätzlich gut zum Abfahren.
Bereits werden nicht mehr laufende, verlassene und verlorene Skigebiete wissenschaftlich untersucht. Die Forscher haben auch schon einen Begriff kreiert: Lost Ski Area Projects – LSAP. Mehr noch: Das Buch dazu ist ebenfalls schon auf der Piste bzw. im Programm des AS Verlages: „Letzte Bergfahrt. Aufgegebene Skigebiete und ihre touristische Neuausrichtung“ von Matthias Heise und Christoph Schuck. Der Skitourenführer zu 48 Ex-Bahn-Bergen ist sozusagen der Praxisteil zur letzten Bergfahrt. Sicher wie grüne Weihnachten im Mittelland wird die Zahl der LSAP zunehmen. Die einen freut‘s, die andern reut‘s. Und umgekehrt.
Anders gesagt: Aus dem Après Ski ist Après Lift geworden.

Posted by Wilfried Allé Thursday, December 16, 2021 11:07:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Natur Technik/Natur
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Dunkelblum 

Roman

von Eva Menasse

ISBN: 9783462047905
Ausgabe: 8. Auflage
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 528 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 19.08.2021
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Preis: € 25,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Jeder schweigt von etwas anderem.
Auf den ersten Blick ist Dunkelblum eine Klein­stadt wie jede andere. Doch hin­ter der Fas­sade der öster­reichi­schen Ge­mein­de ver­birgt sich die Ge­schich­te eines furch­tba­ren Ver­bre­chens. Ihr Wis­sen um das Er­eig­nis ver­bin­det die äl­teren Dunkel­blumer seit Jahr­zehn­ten – ge­nau­so wie ihr Schwei­gen über Tat und Täter. In den Spät­som­mer­ta­gen des Jah­res 1989, wäh­rend hin­ter der nahe­ge­le­genen Gren­ze zu Un­garn be­reits Hun­der­te DDR-Flücht­lin­ge war­ten, trifft ein rät­sel­haf­ter Be­su­cher in der Stadt ein. Da ge­ra­ten die Din­ge plötz­lich in Be­we­gung: Auf einer Wiese am Stadt­rand wird ein Ske­lett aus­ge­gra­ben und eine jun­ge Frau ver­schwin­det. Wie in einem Spuk tau­chen Spu­ren des al­ten Ver­bre­chens auf – und kon­fron­tie­ren die Dunkel­blumer mit einer Ver­gan­gen­heit, die sie längst für er­le­digt hiel­ten. In ihrem neuen Ro­man ent­wirft Eva Menasse ein großes Ge­schichts­pa­no­ra­ma am Bei­spiel einer klei­nen Stadt, die im­mer wie­der zum Schau­platz der Welt­po­li­tik wird, und er­zählt vom Um­gang der Be­woh­ner mit einer his­to­ri­schen Schuld. »Dunkel­blum« ist ein schau­rig-ko­mi­sches Epos über die Wun­den in der Land­schaft und den Seelen der Men­schen, die, anders als die Er­inne­rung, nicht ver­gehen.
»Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Be­tei­lig­ten ge­mein­sam ge­wusst. Des­halb kriegt man sie nach­her nie mehr rich­tig zu­sam­men. Denn von je­nen, die ein Stück von ihr be­ses­sen ha­ben, sind dann im­mer gleich ein paar schon tot. Oder sie lü­gen, oder sie ha­ben ein schlech­tes Ge­dächt­nis.«

FALTER-Rezension

Durch die Grauzonen einer braunen Kleinstadt

Es gibt dieses Bonmot von Öster­reich als Punsch­krapfen­land. Es sei außen süß und rosa, in­nen drin feucht­braun und alko­hol­ge­tränkt. Es steht für Öster­reichs Um­gang mit sei­ner Nazi-Ver­gan­gen­heit, die man bis in die spä­ten 1980er-Jahre mit Alpen­kitsch ver­deckte. Man war doch das erste Opfer Hitler-Deutsch­lands und sonst un­schul­dig.

Das funktionierte, bis ein Bundes­prä­si­dent­schafts­kan­di­dat na­mens Kurt Wald­heim (ÖVP) in sei­nem Wahl­kampf über seine NS-Ver­gan­gen­heit stol­per­te, bes­ser ge­sagt: über sei­nen Um­gang damit. Er wollte sich nicht so recht er­in­nern, wie die meis­ten Kriegs­ve­te­ra­nen sei­ner Gene­ra­tion, und wur­de ge­nau des­wegen ge­wählt. Das Bild von der ge­schichts­ver­ges­senen Alpen­re­pu­blik lebt bis heute fort, vor allem in anglo­ameri­ka­nischen Medien.

Eva Menasses neuer, dritter und bislang um­fang­reichster Roman, „Dunkel­blum“, spielt in so einer Punsch­krapfen­stadt. Sie heißt, wie ihr Werk, „Dunkel­blum“ und liegt im Bur­gen­land. Es ist ein fik­ti­ver Schau­platz, zu­sam­men­ge­setzt aus vie­len Orten die­ser Ge­gend, in denen sich in den letz­ten Mo­na­ten des Zwei­ten Welt­kriegs so ge­nannte End­phasen­ver­bre­chen an Juden und Zwangs­ar­bei­tern er­eig­neten. Die Na­zis trie­ben sie auf ihrem Rück­zug vor der Roten Armee aus Un­garn Rich­tung Wes­ten. Wer noch ar­bei­ten konnte, musste Hit­lers Süd­ost­wall bauen. An­dere wurden mas­sa­kriert und er­mor­det.

Das bekannteste Verbrechen geschah in Rechnitz. Im März 1945 feier­ten Nazi-Bon­zen ein Fest im Schloss der Gra­fen­fa­mi­lie Batthyány, das in einem Mas­saker an 180 Men­schen en­de­te. Das Massen­grab wurde bis heute nicht ge­fun­den, ein Volks­ge­richts­ver­fahren in den Nach­kriegs­jahren blieb ohne Er­geb­nis. Das Mas­sa­ker von Rech­nitz wurde von His­to­ri­kern be­forscht sowie von Künst­lern fil­misch und li­te­ra­risch ver­ar­bei­tet, etwa in El­friede Jeli­neks Drama „Rechnitz (Der Würge­engel)“.

Ich wollte keinen Rechnitz-Roman schreiben“, sagt Eva Menasse. Aber na­tür­lich ist „Dunkel­blum“ eine Art Rech­nitz-Ro­man ge­wor­den. Me­nasse de­kli­niert nicht nur die klas­si­schen Anti-Hei­mat-Roman-The­men wie Ver­drän­gung, Schwei­gen, Schuld und Sühne an­hand ihrer fik­ti­ven Modell­stadt durch. Sie er­zählt auch die Um­brüche des Jahres 1989 mit: den Fall des Ei­ser­nen Vor­hangs, die Flucht der ers­ten DDR-Bür­ger über die grüne Grenze.

Dazu kommen auch noch das Motiv des zi­vi­len Auf­be­geh­rens und die Um­welt­be­we­gung. Die Dunkel­blumer wehren sich im Jahr 1989, in dem der Roman spielt, ge­gen eine neue Was­ser­ver­sor­gungs­an­lage. Fehlt bloß noch der Auf­stieg des da­ma­ligen FPÖ-Chefs Jörg Haider, denkt man sich kurz, aber die­se zeit­ge­schicht­liche Tan­gen­te er­spart sich Menasse.

Auch für die Autorin, Jahrgang 1970, war 1989 ein Schlüs­sel­jahr. Sie er­lebte als junge Jour­na­lis­tin im Pro­fil den Fall des Eiser­nen Vor­hanges mit. Mit Öster­reichs Ge­schichts­ver­ges­sen­heit wuchs sie ohne­hin auf. Über den Lon­do­ner Pro­zess ge­gen den Holo­caust­leug­ner David Irving schrieb sie einen viel­be­ach­teten Re­por­tage­band. Und wie schon in „Quasi­kri­stalle“, ihrem letz­ten Ro­man, nimmt Me­nas­se ver­schie­dene Er­zähl­per­spek­tiven ein, um eine These zu de­mons­trie­ren: Die eine Ge­schich­te gibt es nicht, es sind im­mer vie­le Er­zäh­lun­gen neben­ei­nan­der, die sich wider­spre­chen und in Kon­kur­renz zu­ei­nander ste­hen.

Wer sich im Lesefluss gerne an einer Pro­ta­go­nis­tin oder einem Pro­ta­go­nisten fest­hält, wird ent­täuscht. Wer gern tief in die Psyche und in das Be­ziehungs­ge­flecht von fik­ti­ven Cha­rak­teren ein­taucht, wer gerne in Ro­ma­nen ver­sinkt, die Zeit­ge­schichte bloß en pas­sant mit­er­zählen, wie sie bei­spiels­weise die ita­lienische Au­to­rin Fran­ces­ca Me­lan­dri schreibt, auch.

Menasse schafft eher ein literarisches Wimmel­bild mit einer Viel­zahl an possier­lich über­zeich­neten Fi­guren. So will sie Dunkel­blums kollek­ti­ves Ge­dächt­nis und Ge­wis­sen skiz­zie­ren, die Leer­stel­len die­ser in Ab­hän­gig­keiten und Ge­heim­nis­sen ver­schwo­re­nen Ge­mein­schaft. Dunkel­blums Be­woh­ner spie­len nicht die Haupt­rolle, sie sind nur Funk­tionen.

Wir lernen eine rebellierende Tochter aus besserem Haus kennen, die ge­mein­sam mit Stu­den­ten aus Wien den jü­di­schen Fried­hof Dunkel­blums res­tau­riert. Sie steht für die kri­ti­sche, junge Ge­ne­ra­tion, die will, dass sich die Vor­fahren mit den Ver­bre­chen der NS-Zeit kon­fron­tie­ren. Es gibt den alten Dorf-Nazi, der res­pek­tiert wird, weil er sei­ne alten Kon­takte stets für die Dorf­ge­mein­schaft ein­ge­setzt hat. Die re­so­lute Hotel­wir­tin, die als Zim­mer­mäd­chen unter den alten Ho­te­li­ers, Ju­den, an­fing und dann das Haus über­nahm. Dazu den Dorf­arzt, der sein Wis­sen über das da­ma­lige Mas­sa­ker mit in die Pen­sion nimmt. Einen jü­di­schen Greißler, der in seiner alten Heimat­stadt nach dem Krieg trotz allem neu an­ge­fangen hat.

Und einen geheimnisvollen Gast aus Übersee, der viele un­an­ge­nehme Fra­gen stellt und sich der Suche nach den Grä­bern der einst Er­mor­de­ten ver­schrie­ben hat. Ein Lage­plan des Ortes er­leich­tert die Orien­tie­rung. Es wird auf den über 500 Sei­ten mit­unter näm­lich ganz schön un­über­sicht­lich.

Zwischendurch nimmt Menasse die Haltung einer alt­klugen, sar­kas­ti­schen Stadt­schrei­berin ein. Sie spart nicht mit Dia­lekt­aus­drücken. Topfen­neger, Kri­spin­deln, Zniach­terln, Tschick, Tschop­perl, Tuchent: ein Glos­sar am Ende des Romans hilft Le­sen­den jen­seits des bay­erischen Sprach­raums beim De­chif­frie­ren der groß­zügig ein­ge­streu­ten Ösi-Folk­lore. Das deut­sche Feuil­le­ton lobte Me­nasses Kunst-Dunkel­blume­risch, man bekäme regel­recht „Dialekt­neid“, schrieb Die Zeit. Vor Ort liest es sich strecken­weise manie­riert.

Was bleibt? „Das ist nicht das Ende der Ge­schich­te“, lautet Menasses letz­ter Satz. Dunkel­blums Ge­heim­nis – was ge­schah in der Nacht des Mas­sa­kers an den jü­di­schen Zwangs­ar­bei­tern und wo liegt ihr Grab – bleibt ver­bor­gen. Unter den Schich­tungen des Er­in­nerns und dem Zucker­guss des Ver­drän­gens. Das ist durch­aus stim­mig. Eva Me­nasse hat Öster­reichs Ver­gan­gen­heits­po­li­tik ein wür­diges litera­ri­sches Denk­mal ge­setzt.

Barbaba Tóth in Falter 34/2021 vom 27.08.2021 (S. 28)

Posted by Wilfried Allé Sunday, December 5, 2021 1:05:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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