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Kickl 

und die Zerstörung Europas

von Gernot Bauer, Robert Treichler

ISBN: 9783552075030
Verlag: Zsolnay, Paul
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 15.04.2024
Preis: € 25,70

Kurzbeschreibung des Verlags

Fast drei Jahrzehnte war Herbert Kickl der Mann im Schat­ten: der­jenige, der für Jörg Haider die Re­den schrieb; der­jenige, des­sen (heftig um­strit­tene) Slo­gans Heinz-Chris­tian Strache zum Vize­kanz­ler der Repu­blik Öster­reich mach­ten; der ein­zi­ge Minis­ter seit 1945, der aus sei­nem Amt ent­las­sen wurde. Einst stan­den Kickls rhe­to­ri­sche Radi­kali­tät, die schar­fe Ar­gu­men­ta­tion und Agi­ta­tion sei­ner Kar­riere im Weg, jetzt ent­spre­chen diese Eigen­schaf­ten einem Zeit­geist, der die libe­ra­le Demo­kra­tie nicht nur in Öster­reich, son­dern im Ver­bund mit Alice Weidel, Viktor Orbán, Marine Le Pen und an­de­ren Rechts­popu­lis­ten auch in ganz Euro­pa ab­schaf­fen will. Gernot Bauer und Robert Treich­ler ha­ben sich auf Spuren­suche be­ge­ben und lie­fern eine neue Sicht auf einen as­ke­ti­schen Ideo­lo­gen, einen wan­kel­mü­ti­gen Volks­tri­bun – und einen brand­ge­fährl­ichen Poli­tiker.


FALTER-Rezension

Wer ist FPÖ-Chef Herbert Kickl?

Nina Horaczek in FALTER 16/2024 vom 19.04.2024 (S. 26)

"Wenn es eine Eigenschaft gibt, die in Herbert Kickls Wesen be­son­ders aus­ge­prägt ist, dann ist es das Miss­trauen", schrei­ben die Profil-Jour­na­lis­ten Gernot Bauer und Robert Treichler in ihrer Bio­gra­fie über den FPÖ-Par­tei­chef. In ei­ner Art Psycho­gramm auf 251 Sei­ten ar­bei­ten sie he­raus, dass Kickl ein Poli­ti­ker ist, der nicht ge­liebt, son­dern ge­fürch­tet wer­den will, der stän­dig und über­all eine Ver­schwö­rung bö­ser Mächte wit­tert und der als Innen­minis­ter Dinge tat, die bis da­hin un­vor­stell­bar wa­ren. "Sein Kabi­nett führt ein Schreckens­regi­ment", steht da­rin über Kickls Zeit im Innen­minis­te­rium. "Selbst er­fah­rene Poli­zis­ten füh­len sich unter Druck ge­setzt." Es geht so weit, dass Be­su­cher ihre Mobil­tele­fone ab­ge­ben mussten und eine Spezial-Über­wachungs­kamera vor den Minis­ter­räum­lich­keiten in­stal­liert wurde, die "selbst SMS-Texte auf Handy­dis­plays ent­zif­fern" kann.
Bauer und Treich­ler be­schrei­ben akri­bisch die Sta­tio­nen von Kickls Le­ben, von sei­ner Kind­heit als Ar­bei­ter­kind in Kärn­ten bis zum An­führer des Wider­stands ge­gen die Corona-Maß­nah­men der Re­gie­rung, wo Kickl -und das ist doch ziem­lich ein­zig­artig in der Zwei­ten Repu­blik - als An­füh­rer einer Par­la­ments­par­tei die Straße mobi­li­siert. Es ist die Ge­schichte einer Ver­wand­lung, die in die­sem akri­bisch recher­chier­ten Buch nach­er­zählt wird. Die Ver­wand­lung eines jun­gen, be­lieb­ten und durch Hilfs­be­reit­schaft und Schmäh auf­fal­len­den jun­gen Man­nes zu ei­nem ver­bis­se­nen, von Miss­trauen und Recht­ha­be­rei ge­präg­ten Poli­ti­ker, der auf der Kla­via­tur des Rechts­ex­tre­mis­mus spielt. Zu­sätz­lich span­nen die Auto­ren einen Bo­gen zu ande­ren Par­teien der ex­tre­men Rech­ten in Euro­pa und da­zu, was der Auf­stieg die­ser Par­teien für den Kon­ti­nent be­deutet.

Der Fokus liegt aber auf Kickls Vita. So sagt etwa ein eins­ti­ger Schul­kol­lege, er würde den FPÖ-Chef gerne unter vier Augen tref­fen, würde ihn gerne fra­gen, wie er sich so ver­än­dern, so sehr radi­kali­sie­ren konnte. Eine Ant­wort da­rauf haben auch die bei­den Auto­ren nicht ge­funden. Die­se Frage kann wohl nur Kickl selbst be­ant­worten.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, April 17, 2024 5:55:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Die besten Tagespresse- Meldungen 2023 

Nur eine Aktivistin notwendig: Skigebiet in Tirol lahmgelegt

von Die Tagespresse

ISBN: 9783701736034
Verlag: Residenz
Umfang: 240 Seiten
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 13.11.2023
Preis: € 19,00
Kurzbeschreibung des Verlags

Im Jahr 2023 fanden wieder einige große und kleine Polit­beben statt, doch auch in an­de­ren Be­rei­chen steckte das Jahr vol­ler Über­ra­schun­gen. Kön­nen Sie sich noch da­ran er­in­nern, als eine Hofer-Kas­sie­re­rin aus Wien einen neuen Welt­re­kord auf­ge­stellt hat und mit ihrer Kas­sier­ge­schwin­dig­keit die Schall­mauer durch­bro­chen hat? Oder als die Sili­con Val­ley Bank Co­ro­na-Hil­fe in Öster­reich be­an­tragte und sich da­durch ret­tete? Die nieder­öster­reichi­sche Landes­haupt­frau Johan­na Mikl- Leit­ner hat in der Zwi­schen­zeit die ORF-„NÖ Heute“-Mode­ra­tion über­nom­men, da es eh schon wurscht war … Diese und viele an­dere Er­eig­nis­se aus dem Jahr 2023 ver­sam­melt der legen­däre Jahres­rück­blick der Tages­presse, den Sie un­be­dingt le­sen müssen.

Posted by Wilfried Allé Thursday, January 25, 2024 2:30:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Die chauvinistische Bedrohung 

Russlands Kriege und Europas Antworten | Putins Autokratie, Nationalismus und Sexismus zerstören die Ukraine und bedrohen liberale Demokratie und Freiheit weltweit

von Sabine Fischer

ISBN: 9783430210959
Verlag: Econ
Umfang: 288 Seiten
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 28.09.2023
Preis: € 25,70
Kurzbeschreibung des Verlags

Russlands aggressiver Ver­nich­tungs­krieg ge­gen die Ukra­ine lässt sich nicht be­grei­fen und stop­pen, ohne den russi­schen Chau­vi­nis­mus zu ver­stehen. Der speist sich aus natio­na­lis­tischen und miso­gynen Ideen und dient dem auto­kra­ti­schen Putin-Regime zur Selbst­legi­ti­ma­tion. Die chau­vi­nis­tische Poli­tik Russ­lands greift nicht nur die Ukra­ine an. Sie be­droht auch sig­ni­fi­kante Tei­le der russi­schen Ge­sell­schaft und will die auf Re­geln und Wer­ten ba­sie­ren­de euro­pä­ische Sicher­heits­ordn­ung zer­stö­ren. An ihre Stelle soll das Recht des Stär­ke­ren, Ag­gres­siv-Impe­rial­en treten.

Der russische Chauvinismus betrachtet alles, was mit Libe­ra­lis­mus zu tun hat, als feind­lich – und auch in Euro­pa brei­tet sich diese Hal­tung aus. Sabine Fischer, Ost­eu­ro­pa-Ex­per­tin bei der re­nom­mierten Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik, lie­fert uns einen ganz neuen Blick auf die Macht- und Ex­pan­sions­poli­tik Russ­lands. Sie er­klärt, wie ag­gres­si­ver Natio­na­lis­mus, miso­gyner Chau­vi­nis­mus und Auto­kra­tie in Russ­land zu­sam­men­hän­gen, und wie Eu­ro­pa und die west­liche Welt sich auf­stel­len müs­sen, um dem russi­schen Chau­vi­nis­mus zu trotzen.

FALTER-Rezension

Putin ist, wie einen Schläger in der Familie zu haben

Tessa Szyszkowitz in FALTER 1-2/2024 vom 12.01.2024 (S. 20)

Nicolas Chauvin wäre wohl kein Fan dieses Buches. Der Le­gende nach war der mut­maß­liche Namens­geber des Chau­vi­nis­mus nicht nur ein "hyper­patrio­tischer Bauern­soldat", er war auch laut Sabine Fischer "ein pri­mi­ti­ver Macho". Die deut­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin hat selbst Jahre in Russ­land ge­lebt und ist heute als Senior Fellow der For­schungs­grup­pe Ost­eu­ropa und Eu­ra­sien der Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik in Berlin tä­tig. An­ge­sichts der Gewalt­ex­plo­sion, die Putins In­va­sion in der Ukra­ine aus­ge­löst hat, hat sie über jene Bau­steine ge­forscht, aus denen sich das rus­sische Sys­tem zu­sam­men­setzt: "Natio­na­lis­mus, Sexis­mus und Auto­kratie."
Schon knapp nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union waren im neuen Russ­land natio­na­lis­tische Par­teien er­folg­reich - im Falle der KP mit Sow­jet­nos­tal­gie ge­mischt, die LDPR unter Waldimir Schiri­now­ski und Leonid Sluzki zeigte bei­spiel­haft, wie sich "Natio­na­lis­mus, Sexis­mus und auto­ri­tä­res Ge­dan­keng­ut" ver­schmel­zen lassen.

Machismo im Kreml Es gab zwar nach der bolsche­wis­ti­schen Revo­lu­tion 1917 und auch nach dem Ende der Sow­jet­union je­weils kurze Pha­sen, in denen eman­zi­pa­tor­ische Poli­tik femi­nis­tischen Frauen kurz Hoff­nung auf Gleich­be­rech­ti­gung gab. Doch sie währ­ten nur kurz. Seit der Wahl von Wladi­mir Putin zum Prä­si­den­ten im Jahr 2000 ist der Machismo im Kreml ein­ge­zo­gen. Nicht nur dort. Er mach­te sich auch in Regie­rungs­kabi­net­ten, den Vor­stän­den von Fir­men und in den Wohn­zim­mern breit. Hetze gegen Mi­gran­ten und ge­gen Ame­rika sind seit 2014 eben­falls fes­ter Be­stand­teil des Polit­mixes. Seit der Anne­xion der Krim und dem Be­ginn des Krie­ges in der Ost­ukra­ine wird die Ukra­ine außer­dem ver­stärkt als Hure dif­fa­miert und vom russi­schen Prä­si­den­ten Wladimir Putin zum Ver­ge­wal­ti­gungs­opfer sti­li­siert.

Was dem Chauvinismus aber erst so richtig zum Durchbruch ver­holfen hat, sind Pu­tins Kriege. Tschet­sche­nien, Geor­gien, Syrien, Ukra­ine. Die Feld­züge bru­ta­li­sie­ren die Sol­da­ten, die oft nicht mehr aus dem Trau­ma der Ge­walt auf dem Schlacht­feld heraus­tre­ten kön­nen. In die­sem per­ma­nen­ten Gewalt­ex­zess ha­ben sich das Pri­vate und das Poli­ti­sche längst ver­mischt. Die weni­gen Frauen, die es unter Putin in die erste Rei­he schaff­ten, tra­gen seine Poli­tik mit: Walen­tina Ma­twi­jenko, die Vor­sit­zende des Föde­rations­rates, oder Elwira Nabi­ul­lina, Chefin der Zentral­bank. Die russ­ische Frau­en­recht­lerin Alyona Popova sagt: "Un­sere Staats­macht ver­hält sich wie ein Schlä­ger in seiner Familie."

Feminismus in der EU Die EU dagegen setze dem puti­nis­ti­schen Chau­vi­nis­mus zu wenig ent­ge­gen. Sie sei durch den Er­folg der haus­ei­ge­nen Rechts­popu­li­sten ge­schwächt, ana­ly­siert Fischer. Marine Le Pen, Gior­gia Meloni oder Alice Weidel ge­ben der neu­en Rech­ten ein "pseudo­eman­zi­pier­tes Ant­litz". Doch da­hin­ter steht die alte Fratze des ultranationalistischen Chauvinismus. In den Worten von Björn Höcke, dem rechtsextremen Spitzenkandidaten der AfD in Thüringen: "Wir müssen unsere Männ­lich­keit wie­der ent­decken! Nur wenn wir mann­haft wer­den, wer­den wir wehr­haft."

Gegen Ende schenkt Fischer der Leserschaft einen kleinen Lichtblick: Anna­lena Baer­bock habe Deutschland zumindest eine feministische Außenpolitik verpasst. Und das bedeute nicht etwa Pazifismus. Sondern die geschundene Ukraine mit Waffen zu ihrer Verteid­igung ge­gen Russ­land aus­zu­stat­ten.

Die Autorin Sabine Fischer spricht am 25. Jänner im Kreisky Forum über ihr Buch unter dem Titel: Machismo und Macht

Weitere Rezensionen

»Viele reden über Russland – Sabine Fischer kennt es von innen, bes­ser als kaum je­mand sonst in Deutsch­land. In luzi­der Ana­ly­se ent­hüllt sie den chau­vi­nis­tischen Charak­ter sei­ner ag­gres­si­ven Poli­tik und sei­nes Präsi­den­ten. Wer Wla­di­mir Putins zer­stö­reri­schen und selbst­zer­stö­re­ri­schen Krieg ver­ste­hen will, muss die­ses Buch lesen.« - Rüdiger von Fritsch

Russlands Aggression gegen die Ukraine ist kein Krieg in Euro­pa, son­dern gegen Europa. Wer daran Zwei­fel hat, lese Sabine Fischers starkes Buch über die Ursprünge und Folgen von Putins chauvinistischer und revisionistischer Politik.« - Ivan Krastev

»Eine präzise, wunderbar geschriebene Analyse, die dank Fischers femi­nis­ti­scher Per­spek­tive end­lich um­fas­send er­klärt, wa­rum der rus­si­sche An­griffs­krieg auf die Ukra­ine keine Über­raschung war und was wir für die Zu­kunft ler­nen kön­nen. Ein Buch über Russ­land, das wirk­lich heraussticht.« - Alice Bota

»Mit diesem Buch, das Analyse und persönliche Erinnerungen mit­ei­nan­der ver­bin­det, ver­mit­telt Russ­land­ex­per­tin Sabine Fischer einen tie­fen Ein­blick in das ge­gen­wär­tige poli­ti­sche Sys­tem Russ­lands und in die rus­si­sche Ge­sell­schaft. Kon­zep­tio­nell in­no­va­tiv und zu­gleich in­tui­tiv führt sie an­hand des Be­griffs ‚Chau­vi­nis­mus‘ durch die Trias aus Natio­na­lis­mus, Sexis­mus und Auto­kra­tie, die Russ­lands Posi­tio­nie­rung ge­gen­über west­li­chen Lebens­mo­del­len und den Weg in den Krieg ge­gen die Ukra­ine nach­zeich­net und ei­nen Blick in denk­bare Zu­künfte Russ­lands er­öffnet.« - Gwendolyn Sasse  

Leseprobe ->

Posted by Wilfried Allé Tuesday, January 23, 2024 9:45:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Revanche 

Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat

von Michael Thumann

ISBN: 9783406799358
Verlag: C.H.Beck
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.03.2023
Preis: € 25,70
Kurzbeschreibung des Verlags:

ARCHIPEL PUTIN - INNENANSICHTEN AUS DEM BEDROHLICHSTEN REGIME DER WELT

Kaum einer kennt Russland besser als Michael Thumann, der seit über 25 Jahren aus Osteuropa für die ZEIT berichtet. Er legt nun ein atemberaubend geschriebenes Buch vor, das Russlands Absturz in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nach­zeich­net. Das Motiv des Dik­ta­tors und sei­ner Ge­treuen: Re­van­che zu neh­men für die demo­kra­ti­sche Öff­nung nach 1991 und die ver­meint­liche Demü­ti­gung durch den Wes­ten. Putins Herr­schaft radi­kali­siert sich wei­ter. Es ist das be­droh­li­chste Re­gime der Welt.

"Unter Wladimir Putin verabschiedet sich ­, das ei­gent­lich größte euro­pä­ische Land, aus Eu­ro­pa. Er­neut senkt sich ein Eiser­ner Vor­hang quer durch den Kon­ti­nent. Reise ich in die­ses Land, werde ich am Flug­ha­fen in al­ler Re­gel auf­ge­halten. Der Grenz­beamte hält mei­nen Pass fest und tele­fo­niert lange mit sei­nen Vor­ge­setz­ten. Ein Men­sch im dunk­len An­zug, wahr­schein­lich Ge­heim­dienst, holt mich ab und führt mich in einen Kel­ler­raum. Da­rin ein Schreib­tisch, eine alte Ma­trat­ze mit Sprung­fe­dern, ka­put­te Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fra­gen be­ant­wor­ten: Wo wohnen sie? Was den­ken sie über die Mili­tär­ope­ra­tion? Was haben sie vor in Russ­land? Ich ant­worte knapp und frage mich selbst: Kom­me ich über­­haupt noch in das Land? Und kom­me ich wie­der he­raus?"
Michael Thumann

Russlands Absturz in die Diktatur und der Weg in Putins im­peria­­li­s­ti­­schen Krieg – in ei­nem fes­­seln­­den Mix aus jour­­na­­lis­ti­scher Re­por­­tage und poli­­ti­sch-his­­to­ri­­scher Ana­­ly­­se
Michael Thumann ist einer der letz­ten deut­schen Kor­­respondenten, die noch in Moskau leben
Das Buch basiert auf zahl­reichen Be­geg­nun­gen und ex­klu­si­ven Ge­sprä­chen mit Pro­ta­go­nis­ten der rus­si­schen Poli­tik und Ge­sell­schaft

FALTER-Rezension

Reisebericht für echte Russlandversteher

Sebastian Kiefer in FALTER 13/2023 vom 31.03.2023 (S. 17)

Westeuropa wiegte sich lange in der süßen Illu­sion, die Welt werde, wenn man nur freund­lich ge­nug bliebe, bald wie Europa wer­den - Krieg würde dann kein Mit­tel der Poli­tik mehr sein, Kon­flik­te über­all per Di­plo­ma­tie und Ver­trag ge­re­gelt, der Se­gen des Freihandels die Men­sch­heit ver­söh­nen. Dass nur der ato­mare Schutz­schild der USA die im­peria­lis­tische Aggres­si­vi­tät der ­begrenzte, unterschlug man gern.
Michael Thumann, langjähriger Moskaukorrespondent der Zeit, ahnte früh, dass Wladimir Putin die europäischen Illusionen zerstören werde. Er traf Putin das erste Mal 1999, als der Krieg in Tschetschenien Putin die Präsidentschaft gesichert hatte. Heute sieht Thumann das tschetschenische Schreckensregime als "Versuchslabor", in dem die Umwandlung Russlands in einen revanchistischen, schrankenlos korrupten Terrorstaat erprobt wurde. .

Seit je bewunderte Putin wie so viele Rus­sen star­ke, ge­walt­be­rei­te Füh­rer, die nach Re­van­che für mehr ge­fühl­te denn reale Krän­kungen der ei­ge­nen Größe dür­sten. In den 2000er-Jah­ren gab sich Putin zu­nächst mit ei­ner "hy­bri­den" Ord­nung aus auto­kra­ti­schen Ele­men­ten, so­zia­len Wohl­ta­ten und re­prä­sen­ta­ti­ven Bau­pro­jek­ten zu­frie­den - die hohen Roh­stoff­pre­ise er­mög­lich­ten pater­na­lis­ti­sche Wohl­stands­illu­sio­nen, wäh­rend die öko­no­mi­sche und zi­vi­le Mo­derni­sie­rung aus­blieb.

Den Umschwung brachte für Thumann der Winter 2011/12: Landes­­weit pro­­tes­­tier­­ten hun­­dert­­tau­­sen­de Rus­­sen ge­­gen die dreist ge­­fälsch­­ten Wah­­len. Putin war fas­­sungs­los. Jetzt erst ent­­deck­te er das Ins­­tru­­ment des von Para­­noia und Krän­­kung dik­­tier­­ten, eth­­nisch ge­­grün­­de­­ten Natio­­na­­lis­mus, um den Zorn des Vol­­kes um­zu­­len­­ken auf ei­­nen Feind, dem man - wie­der ein­­mal - alle Schuld am rus­­si­schen De­­sas­ter zu­­schrieb: dem "Wes­ten", wahl­­weise als Libe­­ra­­li­s­mus, Säku­­lar­is­­mus, Par­la­­men­tarismus, als EU, USA oder Nato zu ver­stehen.
Zu Beginn seiner Amtszeit gab Putin zumindest im Westen vor, Russ­land so umzuwandeln, dass es einmal Teil der westlichen Bündnisse werden könne. Putin hatte nichts dagegen, als unter seinem Freund Kanzler Gerhard Schröder (der sich, zuvor Atheist, Putin zuliebe eigens in der Erlöserkathedrale bekehren ließ) sieben osteuropäische Länder der Nato beitraten, doch seit den Massenprotesten lancierte Putin die Mär von der Bedrohung Russlands durch die Nato -eine propagandistische Bedrohungshalluzination, die Kollektive zusammenschweißt und künftige Angriffskriege als Verteidigungsmaßnahmen rechtfertigen lässt.

Putin setzte bei der Lancierung dieser Legende auf Bündnisse mit Rechts-und Linkspopulisten Europas und allemal auf die Deutschen und ihr gebrochenes Verhältnis zur angelsächsischen Liberalität. Thumann erinnert daran, wie überraschend stark hier alte geostrategische und kulturelle Identitätskonstruktionen Deutschlands reproduziert wurden: Im Vertrag von Rapallo 1922 ging die junge Weimarer Republik, verführt vom hyperkonservativen Diplomaten Adolf Georg Otto "Ago" von Maltzan, ein antiwestliches Bündnis mit den Bolschewiki ein.

So durchbrachen sie ihre internationale Isolation. Das Ergebnis: "Deutsche Technik ging nach Russland, zurück floss russisches Öl": "deutsche Linke und Konservative [feierten] Rapallo als Triumph über den liberal-kapitalistischen Westen".

Putins nationalistische Wende ist für Thumann Teil des globalen Phänomens des "Neuen Nationalismus", dem er 2020 ein eigenes, lesenswertes Buch widmete: Viktor Orbán, Erdoğan, sogar Donald Trump waren ursprünglich liberale Geister und wurden nicht aus gewachsener Überzeugung, sondern aus zynischem Machtkalkül zu Nationalisten. Sie bedienen sich alter, antiliberaler Rhetoriken, um kollektive Energien zur Verteidigung verlorener nationaler Größe zu mobilisieren und zu kanalisieren - doch letztlich glauben sie nur an eine einzige Sache: an ihr zwischen Größenwahn, Kränkung und Aggressivität schwankendes Ego. Über die Kontrolle der Massenmedien implantieren sie ihre hoch emotionalisierten, von rohem Freund-Feind-Denken strukturierten Ersatzrealitäten in die Gehirne ihrer Anhänger.

In eingestreuten Reportageminiaturen führt Thumann vor, wie bestürzend distanzlos sogar gebildete Russen die propagandistisch erzeugten, massenmedial verbreiteten Ersatzrealitäten internalisierten. Thumann führt uns auch ins Jelzin-Museum in Jekaterinenburg. Jelzin ist für Thumann der tragische Antiheld und als solcher ein Symbol Russlands schlechthin: Groß an Mut und Herz, schwach in Organisation und Zukunftsgestaltung stieß er das Tor zur Freiheit und Moderne auf, dann kollabierte er, in Korruption und Alkohol versinkend, und gab Russland erschöpft in die Hände des (Ex-)Geheimdienstlers und Autokratenanbeters.

Thumann lehrt, was es für einen rationalen Weltbürger heißt, ein wahrer "Russlandversteher" zu sein: Ein solcher verfällt weder in Opfer-Täter-Ideologien noch in pauschale Dämonisierungen. Er macht im Wechsel von einfühlender Teilnahme und historisch reflektierender Außensicht verständlich, was so schwer zu begreifen ist: weshalb alle unter Jelzin gehegten Hoffnungen auf eine friedliche Demokratisierung und Modernisierung Russlands implodierten und aus Russland neuerlich ein imperialistischer Führer-und Terrorstaat werden konnte.

Es wäre nicht möglich gewesen, wenn die Westeuropäer nicht im Wachtraum von einer globalen Handels-und Friedensordnung ohne Despoten und Revanchisten gefangen gewesen wären.

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 30, 2023 9:53:00 PM Categories: Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Klassenkampf von oben 

Angriffspunkte, Hintergründe und rhetorische Tricks

von Natascha Strobl , Michael Mazohl

Reihe: Varia
ISBN: 9783990464649
Verlag: ÖGB Verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 268 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.11.2022
Preis: € 29,90
Kurzbeschreibung des Verlags:

Klassenkampf findet statt. Während der Klassenkampf von unten mit Streiks und lauten Protestformen ausgetragen wird, findet der Klassenkampf von oben leise im Verborgenen statt. Den Klassenkampf von oben führen die wirtschaftlich Mächtigen, die aufgrund ihrer Vermögen und Einflussbereiche dazu in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen zu ihren Gunsten zu ändern – gegen die Interessen und auf Kosten der Vielen. Anhand der Themen Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit, Armut, Bildung, Einkommen, Gesundheit, Klima, Wohnen, Pensionen und Reichtum zeigt das Buch auf, an welchen Angriffspunkten sich die Verteilungskämpfe zwischen oben und unten entscheiden. Das Autor:innenteam stellt wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Zielen, Zusammenhängen und Hintergründen des Klassenkampfs die rhetorischen Tricks und kommunikativen Strategien von oben gegenüber.

Kommentar von Isolde Charim, Philosophin und Publizistin

Klassenkampf von oben, Wiener Zeitung ->

Posted by Wilfried Allé Monday, February 20, 2023 11:40:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Weckruf Corona 

Gesellschaftliche Diagnosen für unser Leben nach der Pandemie

von Günther Sidl

ISBN: 9 783200 086012
Verlag: Urban Future
Format: Taschenbuch
Genre: Klimawandel, Nachhaltigkeit, Wirtschaft/Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 17.11.2022
Preis: € 22,00 (zzgl. Versandkosten)

 

Das Buchprojekt von SPÖ-EU-Abgeordneten Günther Sidl soll einen breit ge­fächer­ten Dis­kussions­pro­zess an­stoßen – Bei­träge von Ex­pert­Innen aus unter­schied­lichsten Be­reichen zei­gen auf, was Corona alles ver­ändert hat und wie es jetzt weiter­gehen kann.

„Die Corona-Pandemie hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Nicht nur die wirt­schaft­lichen und so­zi­alen Fol­gen habe viele zu spüren be­kom­men, son­dern na­tür­lich auch den Um­gang mit un­se­ren Grund- und Frei­heits­rechten und die Ver­lage­rung des so­zia­len Lebens in den vir­tuel­len Raum. Und ge­nau da­rüber müs­sen wir reden“, be­tont SPÖ-EU-Ab­ge­ord­ne­ter Günther Sidl, der vor die­sem Hinter­grund das Buch­projekt „Weckruf Corona – Ge­sell­schaft­liche Diag­nosen für unser Leben nach der Ge­sund­heits­krise“ ge­star­tet hat. Mit Bei­trägen von zahl­rei­chen Ex­pertInnen aus den ver­schie­dens­ten Dis­zi­pli­nen, soll das Buch eine Dis­kus­sion da­rüber an­stoßen, wie es jetzt weiter­gehen soll.

Von Augmented Reality bis zum Vor­sorge­denken. Die Themen der Bei­trä­ge sind breit ge­fächert und ge­hen von neues­ten techno­lo­gi­schen Ent­wick­lungen, wie der Aug­mented Rea­li­ty, über den Klima­schutz und das neu er­wachte Inter­esse an der Natur bis hin zu demo­kratie­poli­ti­schen Fra­gen und dem in­zwi­schen viel­fach aus der Mode ge­kom­menen Vor­sorge­denken. „Als über­zeug­ter Ver­fechter des Vor­sorge­den­kens, möchte ich mit diesem Buch auch einen Bei­trag da­zu leis­ten, dass wir diese vor­aus­schau­ende Hal­tung wie­der ins Rampen­licht stel­len“, so Sidl, dem es da­bei nicht nur um die best­mög­li­che Vor­be­rei­tung unse­rer Ge­sund­heits­sys­teme auf die nächs­te Pan­de­mie geht: „Es geht auch da­rum eine neue Sicht­wei­se da­rauf zu ent­wickeln, was uns in unse­rer Ge­sell­schaft wirk­lich etwas wert ist und wo­rauf wir be­son­ders ach­ten müssen.“

„Wir müssen darüber nach­denken, welche Ent­wick­lungen wir bei­be­hal­ten wol­len und wo wir wie­der zu­rück zum Sta­tus Quo vor der Pan­de­mie wol­len“, um­reißt Sidl die Idee für das Buch „Weck­ruf Coro­na“, mit dem aber auch ein lang­fris­ti­ger Blick in die Zu­kunft mög­lich wer­den soll: „Wir müs­sen uns auch über­legen, wo wir ganz neue An­sätze brau­chen, um Wirt­schaft, Ar­beit und unser Zu­sam­men­le­ben zu or­ga­ni­sie­ren. Kurz ge­sagt geht es um die Frage, wie sich un­sere Ge­sell­schaft weiter­ent­wickeln soll.“

Corona darf unsere Demokratie nicht krank machen

Entscheidend ist laut Sidl auch, dass die Corona-Pan­de­mie nicht un­sere Demo­kra­tie krank machen darf. „Wir dür­fen die Grund­lagen un­serer Demo­kra­tie, wie die Be­reit­schaft zum Dia­og und zur Zu­sam­men­ar­beit nicht aus den Au­gen ver­lie­ren“, er­klärt Sidl, der vor den mög­li­chen Spät­fol­gen warnt: „Was pas­siert, wenn wir auf­hören miteinander zu reden und alle in die Entscheidungen einzubinden, sehen wir an derwachsenden Skepsis vieler Menschen ge­gen­über der Politik, staatlichen Ins­tan­zen, Me­di­en und der Wis­sen­schaft. Das wurde in der Pan­de­mie sehr deut­lich sicht­bar. Diese Ent­wicklung kann und darf uns nicht egal sein, wenn wir die lang­fris­tige Sta­bi­li­tät un­serer demo­kra­ti­schen Struk­turen nicht ge­fährden wollen.“

„Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Ex­per­tin­nen und Ex­per­ten aus den unter­schied­lichs­ten Be­rei­chen von Poli­tik, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Zi­vil­ge­sell­schaft da­zu be­reit er­klärt ha­ben, die­ses Buch­pro­jekt zu unter­stützen“, freut sich Sidl, dass es ge­lun­gen ist so viele span­nen­de Bei­träge zu sam­meln: „Mir war es be­son­ders wich­tig, die Per­spek­ti­ven von Frau­en und Män­nern, die sich in ihrem Be­rufs­leben mit unter­schied­lichs­ten The­men be­fas­sen und da­bei Zu­sammen­hänge für un­sere ge­samte Ge­sell­schaft er­ken­nen, ab­zu­bil­den. Durch ihre viel­fäl­tigen Ein­blicke und Er­fah­rungen kön­nen wir wich­tige Lehren aus der Pan­de­mie zie­hen und neue An­sätze fin­en, um un­sere ge­mein­same Zu­kunft bes­ser zu ge­stalten.“
 


Urban Future Edition

Im Jahr 2018 wurde die Urban Future Edition gegründet, um Publikationen zu stadt­forschungs­rele­vanten und kom­munal­wis­sen­schaft­lichen Themen sowie zum Bereich Public Manage­ment stra­te­gisch und ge­zielt ver­öffent­lichen zu können. Dabei sollen auch wis­sen­schaft­lich noch wenig be­leuch­tete As­pekte von Urba­ni­tät und Stadt­ent­wick­lung be­wusst auf­ge­grif­fen werden. Inter­natio­na­li­tät und ein Denken in Re­gio­nen stel­len für Urban Forum und damit auch für die Urban Future Edi­tion einen we­sent­lichen Eck­pfeiler des Han­delns dar. Der Ver­lag möchte aber auch seinem selbst ge­stell­ten Kul­tur­auf­trag nach­kommen und an­lass­be­zogen Bücher ab­seits der vor­ste­hend an­ge­führ­ten Themen­felder heraus­bringen. Denn: „Urba­ni­tät meint immer auch ein Bild vom rich­tigen Leben. Sie be­misst sich auch an den öko­no­mi­schen, so­zia­len und poli­ti­schen Chancen für ein hu­ma­nes Leben, die eine Stadt jedem ihrer Bür­ger er­öffnet.“ (Hartmut Häußer­mann, Walter Siebel).
Bestellungen an office@urbanforum.at

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Die dunkle Seite der Christdemokratie 

Geschichte einer autoritären Versuchung

von Fabio Wolkenstein

Verlag: C.H.Beck
ISBN: 9783406782381
Umfang: 222 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 12.05.2022
Format Taschenbuch
Preis: € 17,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags

SÖDER, KURZ ODER ORBÁN - WOHIN STEUERT DIE EUROPÄISCHE CHRISTDEMOKRATIE?

In Ungarn wickelt Viktor Orbáns Fidesz-Partei gerade die Demo­kra­tie ab und be­ruft sich da­bei be­son­ders empha­tisch auf die christ­demo­kra­tische Tra­di­tion. Ein un­ge­höri­ger Affront, könnte man mei­nen. Aber wie ernst war es christ­demo­kra­ti­schen Par­teien in der Ver­gan­gen­heit eigent­lich mit der libe­ra­len Demo­kra­tie?
Nach Ende des Zweiten Welt­kriegs fei­er­te die Christ­demo­kra­tie in Eu­ro­pa ihren Sieges­zug. Da­bei setz­ten sich be­son­nene Staats­män­ner wie Kon­rad Ade­nauer, Alcide de Gas­peri oder Robert Schuman auf einem vor­mals von Krieg und Gewalt ge­präg­ten Kon­ti­nent nach­drück­lich für Frie­den, Wie­der­auf­bau und Sta­bi­li­tät ein. Dennoch hatte die Christ­demo­kra­tie im Nach­kriegs­eu­ro­pa auch eine dunkle Seite: Der auto­ri­täre Geist des reak­tio­nären poli­ti­schen Katho­li­zis­mus wirkte in ihr wei­ter, was sich etwa an der un­ver­hoh­le­nen Be­wun­de­rung vie­ler Christ­demo­kra­ten für Dik­ta­to­ren wie Franco und Salazar oder einem an­ge­spannten Ver­hält­nis zur frei­en Pres­se und den Ins­ti­tutio­nen der libe­ra­len Demo­kra­tie offen­barte. Durch die schritt­weise Ab­kehr von kon­ser­va­ti­ven Posi­tio­nen – in Deutsch­land vor al­lem in der Ära Kohl voll­zogen – er­fuhr die Christ­demo­kra­tie schließ­lich einen nach­hal­ti­gen Demo­kra­ti­sierungs­schub. Aller­dings war der Preis da­für eine ideo­lo­gi­sche Ent­ker­nung. Fabio Wolken­stein blickt in seinem Buch auf die lange und wechsel­volle Ge­schich­te der Christ­demo­kra­tie in Eu­ro­pa zu­rück und fragt, wel­chen autori­tä­ren Ver­suchungen sie wider­stan­den, aber auch wel­chen sie nach­ge­ge­ben hat. Da­bei spannt er einen wei­ten Bo­gen bis zur Gegen­wart: Wel­che Stra­te­gien des Macht­er­halts wäh­len christ­demo­kra­tische Par­teien heute?

Lupenreine Demokraten? Das ambi­va­lente Ver­hält­nis der euro­päi­schen Christ­demo­kratie zum rech­ten Rand

Welche Strategie wird sich in den kommenden Jahren in der Union durch­setzen?
 

FALTER-Rezension

Die autoritäre Versuchung der Christ­demo­kratien

Religion, die Dominanz des katholischen Christen­tums und die macht­volle Ver­bin­dung von staat­licher und reli­gi­öser Herr­schaft, war in Euro­pa ein zen­tra­ler Fak­tor bei der Heraus­bil­dung der po­li­ti­schen Par­teien­sys­teme. Die Gegen­spieler der Christ­demo­kra­tien, die sozial­demo­kra­ti­schen Par­teien, ver­lang­ten Säku­lari­sierung und insti­tutio­nelle Tren­nung von Kirche und Staat. Die Christ­demo­kra­tie ver­stand sich nicht als Vor­rei­terin in Sachen indi­vi­duel­ler Frei­heit und Emanzi­pa­tion, sie stand viel­mehr für un­glei­che Ge­sell­schafts­vor­stel­lungen, für hierar­chi­sche Fami­lien-und Ge­schlechter­be­ziehungen. Um sym­bo­lisch mit dem poli­ti­schen Katho­li­zis­mus der Christ­lich-So­zia­len Par­tei der Zwi­schen­kriegs­zeit zu brechen, mied in Öster­reich im Jahre 1945 die ÖVP zwar das C im Par­tei­namen, die ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Posi­tio­nen blie­ben aber über Jahr­zehnte dem reak­tio­nä­ren Welt­bild ver­haf­tet. Den­noch, schreibt Fabio Wolken­stein in sei­nem neuen Buch, feier­ten nach 1945 die christ­demo­kra­ti­schen Par­teien an den Wahl­ur­nen und in den Macht­zen­tra­len zahl­rei­che Sieges­züge.
Wolkenstein widmet sich den christ­demo­kra­ti­schen Par­teien und ihrem Ver­hält­nis zur libe­ra­len Demo­kra­tie. Genauer gesagt: Das Buch be­schäf­tigt sich mit einem Partei­en­typus, der sich als christ­demo­kra­tisch ver­steht bzw. so ver­stan­den wer­den will, ohne je­doch not­wen­di­ger­weise auch die christ­liche Sozial­lehre zu ver­inner­lichen. Die funk­tio­nale Di­men­sion des Chris­ten­tums über­la­gert bei zahl­rei­chen Par­teien die sub­stan­zielle.

Der Buchtitel "Die dunkle Seite der Christ­demo­kratie" legt eine Art Ab­rech­nung mit den demo­­kra­tie­­poli­­tisch heikl­en Sei­ten nahe. Diese Er­war­tung wird nicht ganz er­füllt. Wolken­stein setzt seine Ana­lyse zwar in den Rah­men der Ge­schichte einer auto­ri­tä­ren Ver­su­chung. Kon­kret wer­den so­wohl ver­gan­gene als auch aktu­elle Ent­wick­lungen in euro­pä­ischen Län­dern in den Blick ge­nom­men, die nicht zu­letzt mit Re­ferenz auf christ­li­che Wer­te und Tradi­tion­en da­bei sind, wesent­liche Ele­men­te der libe­ralen Demo­kra­tie zum Ein­sturz zu brin­gen. Ungarn ist das illustrative Beispiel. Die Erkenntniskraft des Buches liegt aber in der Wechselhaftigkeit einer Longue durée. Die europäische Christ­demo­kra­tie ent­wickelte und prak­ti­zierte ihre dunk­len Sei­ten, sie er­fuhr und er­mög­lichte aber auch Re­form und Demo­­kra­­ti­­sierungs­­schübe. Das euro­pä­ische Pro­jekt gilt als das visio­näre Pro­jekt der "Väter" der Christ­demo­kratie.

Das Buch wählt den Zugang auf die demo­kra­ti­schen und auto­ri­tären Ver­su­chungen über die "großen" männ­li­chen Re­prä­sen­tan­ten der euro­pä­ischen Christ­demo­kratie -und tat­säch­lich spiel­ten, ab­ge­sehen von Angela Merkel, Frauen an vor­ders­ter Front kaum eine Rol­le. Die nicht sel­ten be­wun­dern­den Posi­tio­nen und Par­teinahmen für auto­ri­tä­re Re­gime und deren Dik­ta­toren (z.B. Franco) unter­mauern die demo­kra­tie­poli­tisch problema­tische Aus­rich­tung.
Die sozial-und politik­wissen­schaft­liche For­schung zeigte bis­lang wenig Inter­esse an der Christ­demo­kra­tie. Die Bücher­regale sind viel mehr ge­füllt mit Lite­ra­tur zu Popu­lis­mus, kon­ser­va­tive Par­teien kom­men da­bei als ver­stär­kende und nor­ma­li­sie­rende Kräfte in den Blick. Das an­ge­spannte Ver­hält­nis zu Demo­kra­tie, Plu­ra­lis­mus und indi­vi­duel­len Rechten wurde bis­lang kaum sys­te­ma­tisch unter­sucht. Das vor­lie­gende Buch füllt die­ses Vaku­um. Elo­quent ge­schrie­ben, be­leuch­tet es die Span­nungs­li­nien zwi­schen Demo­kratie­ent­wicklung und Demo­kratie­ge­fähr­dung - wo­bei Letz­teres hier und heute die be­son­dere Auf­merk­sam­keit ver­dient.

Sieglinde Rosenberger in Falter 25/2022 vom 24.06.2022 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Tuesday, June 28, 2022 12:07:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Wenn das in die Hose geht, sind wir hin 

Chats, Macht und Korruption. Eine Spurensuche

von Florian Scheuba

ISBN: 9783552073166
Erscheinungsdatum: 11.04.2022
Umfang: 160 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Format: Taschenbuch
Verlag: Zsolnay, Paul
Preis: € 18,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Noch komischer als in der österreichischen Polit-Realität von Bussi-Chats und Liebesschwüren wird es nur, wenn Florian Scheuba sich einmischt. Lesen, lachen, lernen!“ Bastian Obermayer, Frederik Obermaier (Süddeutsche Zeitung)
Hunderttausende Chat-Nachrichten auf einem Mobiltelefon aus dem nächsten Umfeld des mittlerweile zurückgetretenen österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz erschütterten im Herbst 2021 die Republik. Sie lösten ein politisches Erdbeben aus, das noch stärker nachwirkt als das berüchtigte „Ibiza“-Video. Gekaufte Medien, perfide Intrigen, schamloser Postenschacher und Korruption verschiedener Ausprägung treten darin zutage. Es ist ein Lügengebäude, das seinen zuvor stets auf Message Control bedachten Erbauern nun um die Ohren fliegt.
Der investigative Kabarettist Florian Scheuba hat sich auf eine so spannende wie satirische Spurensuche begeben. Was er dabei fand, ist ein von Nebelgranaten verdunkeltes Trümmerfeld, das so manche Überraschung aus dem Innenleben der türkisen Parteifamilie bereithält.
 

FALTER-Rezension:

Anekdoten zum U-Ausschuss

Es sei für die Arbeit eines Kabarettisten nicht zwingend notwendig, dass man auch beim Lesen laut lache, aber ein Qualitätskriterium sei es allemal: Das schreibt der Schriftsteller Daniel Kehlmann ins Vorwort von Florian Scheubas neuem Buch. Scheuba liefert mehr als das. Seine Sammlung an Betrachtungen über die meist türkise und noch ein bisschen bläuliche Welt und ihre Gepflogenheiten (man will ja nicht Machenschaften sagen) liefert den anekdotischen Bass für den derzeit laufenden U-Ausschuss, salopp ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss genannt. Scheuba trifft auf Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, dient als "unbotmäßiger österreichischer Innenpolitikbeobachter", seziert, erzählt die ungeheuerlichsten Geschichten, entführt in die Märchenwelt, und alles stellt sich als wahr heraus. Zur Ehrenrettung der Sozialdemokratie kommt der Dosko irgendwann auch noch vor. Schönste Analogie: als Scheuba das Zeitschinden der ÖVP im vorherigen U-Ausschuss (mit ähnlichem Thema) mit der Fußballschande von Gijón von 1982 vergleicht. Einziger Unterschied: Damals gewannen alle Beteiligten.

Eva Konzett in Falter 20/2022 vom 20.05.2022 (S. 23)


Die größte Freude, die man TATSÄCHLICHEN GAUNERN machen kann, ist zu sagen, dass eh alle Gauner sind

Die Intellektuellen, die Künstler, sie haben einen Vorteil: Sie sind keiner Partei Rechenschaft schuldig, über sie wachen keine Institutionen oder Lobbyistenverbände. Das macht ihre Aussagen mächtig. Wie mächtig, das haben zwei offene Briefe bewiesen, die vergangene Woche deutsche Feuilletons veröffentlicht haben. Ihr Adressat: der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD). Ihr Ziel: Waffenlieferungen an die Ukraine zu verhindern beziehungsweise anzutreiben. Das Ergebnis: eine breite, kontrovers geführte, manchmal untergriffige, mitunter faktenwidrige, aber notwendige Debatte des "Wie stehst du zu diesem Krieg?".

Zu den Mitunterzeichnern des zweiten offenen Briefes zählen der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann und der österreichische Kabarettist und Publizist Florian Scheuba.

Die beiden hat der Falter zum Gespräch geladen. Über die Pflicht des Künstlers und Humor als Sicherheitsnetz. Zu viert trifft man sich über Zoom. Kurze technische Probleme. Schwarze Kacheln. Dann endlich erscheinen Scheubas Umrisse: "Grüß' Sie!", tönt es einem entgegen. "Ich freue mich auch", erwidert Kehlmann.

Falter: Herr Kehlmann, in Deutschland richten sich Intellektuelle über offene Briefe ihre Haltung zum Ukraine-Krieg, besonders zu deutschen Waffenlieferungen, aus. Sie haben den Brief unterzeichnet, der sich für Waffenlieferungen ausspricht. Warum?

Daniel Kehlmann: Der offene Brief, den Alice Schwarzer in der Zeitung Emma initiiert hat und der die Ukraine zur Kapitulation auffordert, hat viele meiner osteuropäischen Freunde wirklich entsetzt und getroffen. Dann ist der Journalist Deniz Yücel auf mich zugekommen und hat gefragt, ob ich nicht den Antwortbrief unterzeichnen möchte. Meine erste Reaktion war: "Um Gottes willen, ein zweiter offener Brief, das hat doch etwas Albernes." Ich glaube, den meisten, die da unterschrieben haben, ist nicht entgangen, dass das etwas unfreiwillig Komisches hat: "The Battle of Open Letters." Aber ich habe nun einmal das Entsetzen vieler Menschen aus Osteuropa über den ersten Brief gesehen und gedacht, dass es in diesem Fall wohl wirklich wichtig ist zu zeigen, dass es auch die andere Meinung gibt, nämlich die, dass wir der Ukraine auf jede Weise helfen müssen. Natürlich ohne selbst Kriegspartei zu werden.

Österreich als neutraler Staat darf keine Waffen liefern. Ist deshalb die Diskussion hier leiser, Herr Scheuba?

Florian Scheuba: Ich glaube, die Diskussion wird noch bei uns ankommen. Seit vergangener Woche ist auch eine neue Qualität der Verblödung aufgetaucht, in Form des Interviews, das Peter Weibel (österreichischer Konzeptkünstler, Anm.) im Standard gegeben hat. Weibel ist einer der Initiatoren des Emma-Briefes. Er hat erklärt, dass die Menschen aus der Ukraine auch vor der Korruption flüchten würden. Fragt sich, warum sie damit gewartet haben, bis sie von Putin überfallen wurden. Dann hat er noch gesagt, Russland habe das Recht, sich bedroht zu fühlen. Diese völlige Faktenbefreitheit kann man nicht hinnehmen. Da muss man aufstehen und sagen: Freunde, jetzt wird's lächerlich! Und so habe ich den Brief auch unterschrieben. Den zweiten natürlich.

Was können diese Briefe bewirken?

Scheuba: Der Sinn der Übung ist, dass die Leute darüber zu reden beginnen. Vielleicht bin ich Peter Weibel später dafür dankbar, dass er auch breitere Bevölkerungsschichten wie mich mit in die Diskussion hineingezogen hat, weil es offensichtlich notwendig war, ein paar primitiv-selbstverständliche Sachen zu formulieren. Bei einer Opfer-Täter-Umkehr mitzumachen ist einfach so was von daneben!

Kehlmann: Die Sache wird noch ein wenig absurder dadurch, dass ja in dem Moment, als die offenen Briefe geschrieben wurden, eigentlich alles schon entschieden war. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hatte die Waffenlieferungen an die Ukraine wenige Tage zuvor beschlossen. Es ging also eigentlich nur noch um die Meinung in der Öffentlichkeit. Wobei: Öffentlichkeit klingt gleich so großspurig. Mir ging es wirklich darum, den Polen und Ukrainern, die ich kenne, zu zeigen, dass es den anderen Standpunkt auch gibt.

Der deutsche Historiker und Osteuropaexperte Karl Schlögel kritisiert, Westeuropa habe die Ukraine nie auf der "Mental Map" gehabt. Erst das Schlachtfeld habe uns die Ukraine ins Bewusstsein gerufen. Haben wir wirklich den Krieg gebraucht, um zu verstehen, dass es da ein sehr großes Land an der EU-Außengrenze gibt, das nicht Russland heißt?

Kehlmann: Die Deutschen blenden Osteuropa gerne aus. Besonders ältere Intellektuelle haben oft das Bild von Deutschland auf der einen Seite, gleich daneben Russland, und über den chaotischen Flickenteppich von Osteuropa hinweg kommuniziert man miteinander. Die vitale Präsenz von Osteuropa fehlt in ihrem Weltbild. Das ist in Österreich zum Glück anders, in Österreich war aus historischen Gründen die Ukraine auch immer viel präsenter. Aber ich will mich da gar nicht ausnehmen. Mein Großvater wurde in Sawallja in der Westukraine geboren, ein jüdischer Deutschösterreicher, wie das damals hieß, noch zu Zeiten der Monarchie. Und trotzdem lese ich Karl Schlögels Buch über die Ukraine erst jetzt. Ich hätte es lesen können, als es herauskam, vor inzwischen auch schon ein paar Jahren. Habe ich leider nicht gemacht.

Auf beiden Briefen finden sich Namen von Personen, die sich durchaus vernünftig in diese Debatte eingebracht haben. Beide Positionen sind sehr klar und wirken unverrückbar. Ist das nicht auch Ausdruck einer großen Ratlosigkeit?

Kehlmann: So unverrückbar ist es gar nicht. Man muss nicht aus allem tiefste Spaltungen konstruieren. Die Schriftstellerin Juli Zeh, die den ersten Brief unterschrieben hat, hat mir gestern gesagt, wie gut formuliert, abgewogen und wichtig sie den zweiten fand und wie wichtig sie findet, dass alle Standpunkte zur Diskussion kommen. Und vielleicht haben einige den ersten Brief auch nur unterschrieben, weil sie die militärischen Entwicklungen nicht so genau mitverfolgt haben. Die Idee, dass die Ukraine nur verlieren könne und deswegen besser gleich kapitulieren sollte, hätte ich unter Umständen am zweiten Kriegstag auch für richtig gehalten. Aber jetzt, nach all diesen militärischen Erfolgen der Ukraine, sieht es doch etwas anders aus.

Scheuba: Die Diskussion mit Peter Weibel kann man vielleicht Nina Proll oder Roland Düringer überlassen. Aber für alle, die sich mit lauteren Motiven an dieser Debatte beteiligen, könnte man es ja auch so zuspitzen, dass es letztlich um zwei positive Begriffe geht und um die Frage, wie man sie gegeneinander abwägt und welchem man in welcher Situation den Vorrang gibt. Der eine ist der Begriff Pazifismus und der andere ist der Begriff Antifaschismus.

Kehlmann: Man kommt dann unvermeidlich doch wieder zu dem Philosophen Isaiah Berlin zurück und seiner Ansicht, dass die Demokratie sich dadurch auszeichne, dass in ihr die Werte kollidierten. Dieses Aufeinanderprallen kann man nicht sauber aus der Welt schaffen, sondern immer nur in Form von Kompromissen wegarbeiten, mit denen dann natürlich alle Beteiligten unzufrieden sind. Und das ist das Problem unserer Diskussionen, wie sie besonders in den sozialen Medien heute stattfinden: Niemand duldet unordentliche Kompromisse, überall herrschen radikale Reinheitsfantasien. Da scheint dann nur eine Meinung akzeptabel, und wer davon abweicht, den schreit man an. Ich erinnere mich, wie ich als Kind im österreichischen Fernsehen den "Club 2" gesehen habe. All diese kettenrauchenden Menschen, die miteinander diskutierten. Auch wenn viele sicher Blödsinn geredet haben, die unendliche Diskussion selbst hatte etwas Herrliches.

Scheuba: Die haben auch noch Alkohol trinken dürfen dort. Das hat das Niveau der Diskussion durchaus gesteigert.

Kehlmann: Sehr.

Inwiefern muss denn der Künstler, die Intellektuelle Position beziehen?

Scheuba: Ein Künstler muss grundsätzlich überhaupt nichts zu irgendetwas sagen, er hat keine prinzipielle Verpflichtung. Ich finde es dennoch legitim, eine Künstlerin wie Anna Netrebko zu fragen, wie sie die ganze Sache jetzt sieht. Es ist legitim, das zu fragen, weil sie vorher aktiv Propaganda für Wladimir Putin und die Abspaltung des Donbass gemacht hat. Es ist ebenso legitim, Herrn Waleri Gergijew (russischer Stardirigent, Anm.) rauszuhauen, weil er Teil des kriminellen Systems Putin ist. Das hat eine andere Qualität.

Kehlmann: Als Romanautor sollte ich eigentlich versuchen, nicht zu viele Meinungen zu haben. Nehmen wir "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust: Da spielt der Dreyfus-Prozess eine entscheidende Rolle. Proust hielt den Prozess, in dem ein jüdischer Offizier 1894 ohne ausreichende Beweise der Spionage angeklagt wurde, für eine antisemitische Katastrophe. Aber wenn man nur das Buch liest, würde man nicht draufkommen, welche Haltung Proust hat. Ich sehe das als eine Stärke, weil Proust so zeigen kann, wie dieser Konflikt in alle Verästelungen der Gesellschaft hineinwirkte. Oder denken Sie an Kafka, der auf faszinierende Weise unfähig war, eine abstrakte politische Meinung zu haben. Es liegt eine literarische Stärke in dieser Abstinenz von Meinungen. Das sage ich als jemand, der gerade einen offenen Brief unterschrieben hat (lacht). Das erste Mal zur Politik habe ich mich damals zur Zeit der Kurz-Strache-Regierung geäußert. Für mich war das eine Bedrohung der Demokratie. Dass Putins Feldzug nun ebenfalls eine Bedrohung der Demokratie ist, muss man nicht weiter erklären. Aber unterhalb solcher Bedrohungen ist es für einen Romanautor wohl doch besser, sich zurückzuhalten. Und zwar besser für die künstlerische Arbeit, für den unbeteiligten Blick, den sie braucht.

Bleiben wir bei Österreich. Herr Kehlmann, Sie schreiben im Vorwort zum neuen Buch von Florian Scheuba (siehe Seite 17), dass "Länder, in denen es mit rechten Dingen zugeht, zwar eine hohe Lebensqualität haben, aber ein schwaches Kabarett". Jetzt haben wir in Österreich ein sehr tolles Kabarett, was sagt das über das Land aus?

Kehlmann: Na genau das! Kabarettisten stellt man ja gern die Frage, ob sie überhaupt noch Kabarett machen können, wenn die Wirklichkeit ohnehin schon so absurd ist. Meiner Meinung nach ist das eine dumme Frage, ein reines Klischee. Natürlich kann man besseres Kabarett machen, wenn die Wirklichkeit aberwitzig ist, als wenn man Satire über die Straßenplanung in Oslo macht, die ich mir jetzt sehr vernünftig vorstelle. Natürlich war in Amerika politische Comedy in der Trump-Zeit besser als in der Obama-Zeit. Dort, wo Absurdität, Korruption, Gemeinheit und Dummheit herrschen, sind Kabarettisten am meisten gefragt.

Scheuba: Es gibt einen Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Komik. Die Politiker wollen ja nicht Satire machen. Die sitzen nicht da und überlegen sich besonders Lustiges, damit das Volk etwas zum Lachen hat, auch wenn es manchmal so wirken könnte. Sie meinen das ernst.

Warum lassen sich die Österreicherinnen und Österreicher das eigentlich gefallen?

Scheuba: Ich erkenne einen gewissen Spin à la "Das machen eh alle so","Es sind ja alle Gauner". Das ist grundfalsch. Die größte Freude, die man tatsächlichen Gaunern machen kann, ist zu sagen, dass eh alle Gauner sind. Diese Verallgemeinerung greift leider in Österreich. Aber es ist nicht aussichtslos, wenn selbst Heinz-Christian Strache in der Lage ist zu differenzieren. Das wissen wir seit dem Ibiza-Video, wo er am Anfang sagt, dass die Novomatic alle zahle. Und später sagt er: Sie zahlt alle drei. Er meint damit die Sozialdemokraten, die Volkspartei und die Freiheitlichen. Wenn also sogar Strache in der Lage ist, bei politischer Verantwortung zu differenzieren, kann man es auch der österreichischen Bevölkerung zumuten und erst recht unseren Politikern.

Als die Justiz das Handy von Strache konfiszierte, meinte dessen Parteikollege Andreas Mölzer, das Gerät würde Stoff für die kommenden zehn Jahre liefern. Dann kam das Handy von Thomas Schmid. Haben Sie angesichts von 340.000 sichergestellten Chatnachrichten jemals gedacht: Florian, jetzt hast du ausgesorgt?

Scheuba: Letztlich hängt alles zusammen. Es hätte ohne Ibiza weder ein Schmid-noch ein Strache-Handy gegeben. Die aktuelle Diskussion um die Inseratenkorruption durch Wirtschaftsbund, durch Vereine, die Parteizeitungen herausgeben, etc. liegt auch im Ibiza-Video angelegt, wo Strache erklärt, dass verdeckte Spenden an die Parteien über die Vereine am besten funktionieren. Deshalb hat eine Korruptionsstaatsanwaltschaft angefangen, sich das genauer anzuschauen, und langsam kommen die Ergebnisse daher. Sie sind derart einschneidend, dass ich nur hoffen kann, dass sie tatsächlich etwas bewirken. Momentan schaut es danach aus, als würde ein System, das über viele, viele Jahre völlig unbeachtet gelaufen ist, zumindest einmal einen Rechtfertigungsdruck bekommen. Das sehe ich als eine sehr positive Entwicklung.

Kehlmann: Und vergessen wir nicht, der Mann, der das Ibiza-Video gemacht und all das ins Rollen gebracht hat, sitzt aufgrund eines -ich würde sagen -lächerlichen Beweises im Gefängnis. Für mich ist das einer der größten Justizskandale der Zweiten Republik, und ich kann nicht verstehen, wie die Öffentlichkeit einfach achselzuckend darüber hinweggeht.

Sie sprechen den Prozess gegen Julian Hessenthaler an, der wegen des Handels mit 1,25 Kilo Kokain (nicht rechtskräftig) verurteilt worden ist. Das Urteil beruht vor allem auf sich widersprechenden Aussagen zweier suchtkranker Zeugen. Einer bekam vor der Aussage massive Geldzahlungen vom Novomatic-Lobbyisten Gert Schmidt. Das Gericht sah ausgerechnet in der Widersprüchlichkeit der Aussagen den Beweis, dass die beiden sich nicht abgesprochen hätten und deshalb die Wahrheit sagen.

Kehlmann: Genau. Ich habe die Urteilsbegründung gelesen, es ist überhaupt nicht zu fassen. Es ist ein echtes Schandurteil.

Herr Scheuba, Sie widmen dem Hessenthaler-Prozess ein Kapitel in Ihrem Buch und zitieren aus Unternehmensdokumenten, die Ihnen zugespielt wurden. Da steckt viel Recherchearbeit dahinter. Wie viel Präzision braucht es für eine richtig gute Pointe?

Scheuba: Zuallererst muss mich eine Geschichte interessieren, ich muss das Gefühl haben, dass das mehr Leute wissen sollten. Da finden sich laufend zu wenig beachtete Sachen. Das ist ein Phänomen der an sich kleinen Medienszene in Österreich, aber auch ein ganz generelles Problem. Es passiert so wahnsinnig viel, dass auch gutwillige und idealistische Journalisten nicht mehr damit nachkommen, alles abzudecken. Zwangsläufig gehen Sachen dabei unter. Die reizen mich dann oft besonders. Ein Beispiel: Momentan ist unsere Gasabhängigkeit von Russland ein Riesenthema. Wie ist es denn dazu gekommen? Wer hat das damals in der OMV verantwortet, welche Rolle hat der umtriebige Investor Sigi Wolf gespielt, welche Rolle der ehemalige OMV-Chef Rainer Seele?

Haben Sie schon eine Antwort?

Scheuba: Im Fall von Seele ist die Putin-Unterwerfung so weit gegangen, dass er sogar Putins Lieblingsfußballklub eine 25-Millionen-Euro-Spende für "Nachwuchsförderung" geschenkt hat. Von unserem Geld natürlich.

Sie beschreiben die Zustände mit Neologismen wie "Damokles-Handy", "Meinungsdesigner" und "Kanzler-Culture". Reicht denn der Duden nicht aus, um Österreich beizukommen?

Scheuba: Der Journalist Paul Lendvai hat in einer Rede kürzlich das Wort "Zudeckungsjournalismus" verwendet, das ich entworfen haben dürfte. Wenn es gelingt, solche Vorgänge in einen Begriff zu gießen, freue ich mich schon sehr. Natürlich habe ich da auch meinen Spaß daran. Ich habe Lust an einer Pointe, das ist ja auch meine Aufgabe. Wenn das auf fruchtbaren Boden fällt und Leuten gefällt, umso besser. Sätze wie "Vergiss nicht, du hackelst für die ÖVP, du bist die Hure für die Reichen"(Thomas Schmid an einen Kabinettsmitarbeiter im Finanzministerium, 2018, Anm.) hätte ich mich aber selbst in einer satirischen Überhöhung nie zu schreiben getraut. Das ist definitiv zu platt als Pointe. Und dann liefert der Chat-Partner noch die fantastische Antwort "Danke, dass wir das so offen besprechen können"!

Kehlmann: Deine Stärke, Florian, ist, dass du nie wütend wirst. Die Haltung und die Stimme in deinem Podcast beispielsweise ist immer eine von heiterem Amüsement. Dadurch entsteht eine künstlerisch produktive Reibung zwischen einem Inhalt, der Zorn erzeugt, und einem Vortrag, der überhaupt nicht zornig ist. Und ich denke mir schon, dass es schwer ist, da nicht zornig zu werden.

Warum werden Sie nicht zornig, Herr Scheuba?

Scheuba: Vielleicht, weil Humor für mich so wie Musik ein Grundlebenselement ist. Den Humor zu verlieren wäre für mich, wie das Gehör zu verlieren. Bei Themen, die mich ärgern, ist der Humor einfach Schutz und Waffe gleichermaßen. Humor ist auch eine Form von Notwehr. Wenn ich diese Notwehrwaffe nicht mehr hätte, würde ich mich sehr geschwächt fühlen.

Herr Kehlmann, Sie haben den früheren österreichischen Kanzler Sebastian Kurz einmal das "größte politische Talent unserer Zeit" genannt.

Kehlmann: Sie müssen den zweiten Teil des Satzes aber auch zitieren, da meinte ich: "Schade, dass so jemand keine Prinzipien hat." Aber auch das mit dem Talent muss ich auf dem gegenwärtigen Wissensstand etwas modifizieren. Ich hätte mir diesen ganzen Blödsinn mit dem Beinschab-Österreich-Tool nicht träumen lassen. Ich verstehe noch nicht einmal, warum sie das ganze Theater gemacht haben. Die Idee, über gefälschte Umfragen in der Gratiszeitung Österreich an die Kanzlerschaft zu kommen, ist doch völlig absurd. Das wäre so, als wenn ich die Furche für eine gute Rezension bestechen wollte, um so an einen Literaturnobelpreis zu kommen. Es wäre illegal, aber vor allem so untauglich! Nein, wenn man sich ansieht, wie Sebastian Kurz sich bewegt hat, wie er aufgetreten ist, wie er immer wieder unter Druck nicht zusammengebrochen ist, wie gut er kommuniziert hat, dann muss man doch anerkennen, dass da ein echtes politisches Talent war. Kurz hat mich fasziniert, ja. Aber seine Leere und völlige Skrupellosigkeit haben es eben dann doch völlig ruiniert. So ein Talent war er dann eben doch nicht. Da wissen wir jetzt mehr.

Taugt er zur literarischen Figur?

Kehlmann: Für eine Hauptfigur ist er zu glatt. Menschliche Wahrhaftigkeit ist bei ihm nie sichtbar geworden. Sehen Sie sich im Vergleich dazu jemanden wie den deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen an. Auch das ist ein politischer Profi, aber man empfindet immer ein echtes menschliches Gegenüber. Und das macht Habeck dann letztlich auch zum größeren politischen Talent. Ich höre immer wieder Leute sagen: "Ich wähle nicht die Grünen, aber Habeck ist wirklich ehrlich, dem glaube ich." Können Sie sich diesen Satz über Kurz vorstellen? Wahrhaftigkeit gehört eben doch dazu, irgendeine Form von Tiefe. Dass sie bei Kurz so sehr gefehlt hat, macht ihn zu einer tauglichen literarischen Nebenfigur, aber als Hauptfigur disqualifiziert es ihn.

In Deutschland und in Österreich regieren die Grünen mit. In Deutschland seit langem wieder, in Österreich das erste Mal. Wo machen sie es besser?

Scheuba: Ich kann es nur für Österreich beantworten: Das Positive, das die Grünen in Österreich vollbracht haben, war das Zurückdrängen des Systems Pilnacek. Das ist für die österreichische Justiz eine enorme Befreiung. Ohne diesen Schritt wären wohl all die Geschichten, über die wir heute reden, wegadministriert worden wie damals die Eurofighter-Causa. Dass Alma Zadić im Justizministerium zumindest das ermöglicht hat - und es war ein schwieriger Kampf -, ist für mich der zentrale Punkt. Natürlich wäre mehr drin gewesen und ist auch noch mehr drin für die Unabhängigkeit der Justiz. Diese Leistung rechtfertigt für mich aber bis zu einem gewissen Grad die Arbeit der Grünen in der Regierung, die ja doch am Anfang sehr defensiv angelegt war.

Herr Scheuba, Herr Kehlmann, zum Schluss noch zurück zur Ukraine. Kannten Sie Wolodymyr Selenskyj vor dem Februar 2022?

Scheuba: Ich habe 2018 über ihn recherchiert. Damals hatten wir als "Staatskünstler" die Programmidee: Was würde passieren, wenn wir in die Politik gingen? Und da habe ich mich mit Selenskyj beschäftigt, der ja erst einen Präsidenten gespielt hat, bevor er selbst Präsident der Ukraine wurde. Mit den "Staatskünstlern" haben wir es dann nicht weiter verfolgt, weil der Ibiza-Skandal öffentlich wurde. Ich finde es interessant, dass Selenskyjs Erfahrung in der Showbranche bei manchen Kommentatoren jetzt so eine große Rolle spielt. Mir scheint das nicht relevant für die aktuelle Situation in der Ukraine zu sein. Diese Fixierung auf "den Comedian" empfinde ich eher als einen Putin-Propaganda-Spin. Im Sinne von: Dieser Mann kann keine seriöse Politik machen, er ist ein Gaukler. In der Lesart Moskaus ein "faschistischer Nazi-Antisemiten-Gaukler".

Kehlmann: Mir war Selenskyj sehr präsent, weil ich ja in den USA gelebt habe. Erinnern Sie sich an den berühmten Erpressungsanruf Donald Trumps bei Selenskyj am 25. Juli 2019? Der hat letztlich zum ersten Impeachment geführt. Mir ist damals aufgefallen, wie klug und schlitzohrig im guten Sinne Selenskyj Trump da vorgeführt hat. Er hatte ja nie im Sinn, eine unbegründete Untersuchung gegen Hunter Biden, den Sohn von Joe Biden, einzuleiten, obwohl Trump ihn zu erpressen versucht und zugesagte Waffenlieferungen eingefroren hat - wären übrigens die Javelin-Raketen, um die es damals ging, wirklich nicht geliefert worden, hätten die Russen jetzt Kiew eingenommen. Jedenfalls hat Selenskyj in der ganzen Sache sympathisch, geschickt und klug agiert, und seither hatte ich ihn auf dem Schirm. Im Gegensatz zu Sebastian Kurz wäre Wolodymyr Selenskyj natürlich eine große Romanfigur. Ein Comedian, der eine eher alberne, sehr breite, ein bisschen vulgäre Comedy-Show hat, dann halb zum Scherz zur Wahl antritt, schließlich Präsident wird. Und dann im Krieg zu einem großen Präsidenten - also zu jemandem, der dem historischen Moment, auf den er nicht vorbereitet war, plötzlich gewachsen ist. In einem Roman von mir würde er alles überleben und danach wieder schlechte Comedy machen. Aber es wäre nur ein guter Roman, wenn man es erfindet. Jetzt hat die Wirklichkeit uns Autoren diesen Stoff weggenommen. Der Krieg geht weiter. Die Geschehnisse werden sich in die Geschichte einschreiben. Die ukrainische Stadt Mariupol wird in der Topografie der verbrecherisch vernichteten Städte neben Coventry und Guernica stehen, jenen von der NS-Luftwaffe zerstörten Städten, deren Namen sprichwörtlich wurden.

in Falter 19/2022 vom 13.05.2022 (S. 14)


Peter Kern, geb. 1954 in Rodalben/Pfalz, Studium der Philosophie, Politik, Theologie in Frankfurt am Main, Redaktionssekretär beim Sozialistischen Büro, politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall, jetzt Leiter einer Schreibwerkstatt.

Posted by Wilfried Allé Thursday, May 19, 2022 10:16:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Putins Netz 

Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste

von Catherine Belton

Verlag: HarperCollins
ISBN: 9783749903283
Umfang: 704 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 07.02.20221
Format Hardcover
Ausgabe: 5. Auflage
Übersetzung: Elisabeth Schmalen, Johanna Wais
Preis: € 26,80

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Als Ende der 1980er-Jahre die Sowjetunion zusammen­brach, ahnte nie­mand, dass ein ehe­ma­liger KGB-Agent sich über Jahr­zehnte als russi­scher Prä­si­dent be­haup­ten würde. Doch ein Allein­herr­scher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich auf ein Netz­werk ehe­ma­li­ger sowje­ti­scher KGB-Agen­ten, dessen Ein­fluss weit über Russ­land hinaus­reicht.
Catherine Belton, ehemalige Moskau-Korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, hat mit zahl­rei­chen ehe­ma­li­gen Kreml-In­si­dern ge­spro­chen. Etwas, das bisher ein­ma­lig sein dürfte. Es sind Män­ner, deren Macht Putin zu groß wurde und die nun selbst vom Kreml »ge­jagt« wer­den.
Belton beleuchtet ein mafiöses Geflecht aus Kon­trol­le, Kor­rup­tion und Macht­be­sessen­heit, und das ge­fällt nicht allen Pro­ta­go­nis­ten. Vier Oli­gar­chen haben sie des­wegen wegen Ver­leumdung ver­klagt.
Ihr Buch liest sich in all seiner Kom­plexi­tät so span­nend wie ein Agenten­thriller, doch vor allem ent­hüllt es, wie das Sys­tem Putin uns alle mehr be­trifft, als uns lieb ist.
 

FALTER-Rezension
Putins Machtbasis: Geheimdienst, Kleptokratie

Die ehemalige Moskau-Korres­pondentin der Financial Times, Catherine Belton, re­kons­truiert den Auf­stieg Wladimir Putins

Wladimir Putin hat nicht wenige Sympa­thi­santen unter west­euro­päi­schen Lin­ken, trotz sei­ner Unter­stützung rechts­ex­tre­mer Par­teien. Sie sehen in ihm eine Bar­ri­ere ge­gen die gren­zen­lose Ex­pan­sion der Nato und der USA. Eine Ana­ly­se sei­nes Auf­stiegs unter der Schirm­herr­schaft des KGB vom un­be­deu­ten­den Agen­ten in Dresden über das Kabi­nett des Peters­bur­ger Re­form-Bür­ger­meis­ters bis zum Nach­fol­ger Boris Jelzins wirft ein neues Licht auf ihn.

Putin hat die chaotische neo­li­bera­le Trans­for­ma­tion der russi­schen Wirt­schaft ge­stoppt, die so­zia­le Gegen­sätze und eine ge­setz­lose Oli­gar­chie er­zeugt hatte. Er hat dieses Sys­tem aber nur um­ge­lei­tet, die Oli­gar­chen in sei­nen Dienst ge­zwun­gen und seine ei­ge­nen Leute be­rei­chert. Und er unter­wan­dert die libe­ralen Demo­kra­tien des Westens.

In ihrem sorgfältig recherchierten Buch zeigt die ehe­ma­li­ge Mos­kau-Korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, Catherine Belton, wie das alte KGB-Netz­werk durch Putin seine Macht­po­si­tion zu­rück­er­obert hat. Frü­her als andere hatte der Geheim­dienst den Zu­sammen­bruch der Sowjet­union kom­men sehen und Mil­liar­den aus dem Land ge­schafft sow­ie ein Netz­werk für die Zeit da­nach auf­ge­baut.

Detailliert zeichnet Belton nach, wie dieses Netz­werk die Macht zu­rück­ero­bert und sei­nen Ein­fluss auf Fi­nanz-und Macht­zen­tren in Lon­don, New York und auch Wien aus­ge­baut hat. Die Vor­gangs­weise war skru­pel­los: un­lieb­same Wirt­schafts­ak­teure wur­den aus dem Weg ge­räumt, Unter­nehmen ent­eig­net und wie­der unter die großen Staats­kon­zerne ge­zwun­gen. Namen aus der Peters­burger Unter­welt, derer sich der KGB schon zu Sowjet­zeiten be­dient hatte, tau­chen in den ak­tuel­len Fällen von Geld­wäsche, Kor­rup­tion und Mor­dan­schlä­gen ge­gen Kri­ti­ker im Exil wie­der auf. Auch Wien bildet eine Kon­stante im kor­rum­pie­ren­den Ein­fluss auf west­liche Demo­kra­tien. Man denke nur an die Rol­le eini­ger Ban­ken und Mit­tels­män­ner bei du­bio­sen Geld­trans­fers bis hin zu den russi­schen Ver­sorgungs­posten für ehe­ma­lige öster­rei­chi­sche Spitzen­po­li­ti­ker diver­ser Par­teien.

Ursprünglich, schreibt Belton, habe sie nur die Über­nahme der Wirt­schaft durch Putins frü­here KGB-Kol­legen doku­men­tieren wollen. Ihre Recher­chen hät­ten aber einen noch be­un­ruhi­gen­deren Hinter­grund auf­ge­deckt: "Die Über­nahme der Wirt­schaft - und der Jus­tiz und des po­li­ti­schen Sys­tems - durch die KGB-Kräfte führte zu ei­nem Re­gime, in dem die Dollar-Mil­li­arden, die Putins Kum­pa­nen zur Ver­fü­gung ste­hen, ak­tiv da­für ge­nützt wer­den, die Insti­tu­tio­nen und Demo­kra­tien des Wes­tens zu unter­gra­ben."Die alte KGB-Tak­tik, libe­rale Ge­sell­schaf­ten durch Des­in­for­ma­tion, Kor­rup­tion von Poli­ti­kern und Unter­stüt­zung radi­kaler Or­ga­ni­sa­tionen zu de­sta­bi­li­sieren, er­lebe unter Putin eine Neu­auf­lage. Was per­fekt zu sei­ner geo­po­li­ti­schen Stra­te­gie passt, die alten Ein­fluss­sphä­ren mit Ge­walt wieder­her­zu­stellen. Die eng­lische Aus­gabe des Buchs er­schien 2020 und wurde als eine der am bes­ten doku­men­tier­ten Ana­ly­sen des Sys­tems Putin ge­prie­sen.

hre Stärke ist zugleich ihre Schwäche: Belton hat für ihre Re­cher­che auch ehe­mals engste Ver­trau­te Putins inter­viewt. Sie haben pro­fun­des In­sider­wis­sen und sich zu Putin-Kri­ti­kern ge­wan­delt, ten­die­ren aber da­zu, ihre eigene Rolle zu be­schönigen. Selbst wenn man Beltons These einer per­fekt ge­plan­ten Zu­rück­er­obe­rung Russ­lands durch eine neue Klepto­kra­tie nicht teilt, bietet das Buch einen auf­schluss­rei­chen Ein­blick in die Macht­struk­turen unter Putin.

Franz Kössler in Falter 8/2022 vom 25.02.2022 (S. 22)
 

Putin wirklich verstehen

Ein Hooligan" sei er gewesen, erzählte Wladimir Putin in einem Inter­view vor mehr als 20 Jahren, auf seine Jugend­tage an­ge­spro­chen. Auf die un­gläu­bige Frage des Inter­viewers, ob er damit nicht ein wenig flun­kere, er­wi­derte Putin: "Wollen Sie mich be­lei­digen? Ich war ein echter Schläger."

Putin selbst ist immer wieder auf diese Geschichten zu­rück­ge­kom­men, hat die Straße "meine Uni­ver­si­tät" ge­nannt. Unter den vier Grund­sätzen, die er aus sei­ner Gangster­zeit mit­ge­nom­men habe, ist auch "Schluss Num­mer drei: Ich habe ge­lernt, dass man - egal ob ich im Recht war oder nicht -stark sein müsse. Ich musste in der Lage sein, da­gegen­zu­halten Schluss Nummer vier: Es gibt kei­nen Rück­zug, du musst bis zum Ende kämpfen. Letzt­end­lich war es das auch, das ich später im KGB ge­lernt habe, aber im Grunde wurde mir das schon viel früher bei­ge­bracht - in die­sen Kämp­fen als Junge."

Vielleicht gibt uns diese Geschichte einen Ein­blick in das Den­ken von Wladimir Putin, wie er "tickt". Viel­leicht aber auch nur, wie er ge­sehen wer­den will. Putin er­zählt Ge­schich­ten nicht ohne Ab­sicht, seit Be­ginn sei­nes Auf­stiegs bas­teln er, seine Entou­rage und seine Spin­dok­to­ren an seinem öffent­lichen Image.

Was aber sind seine ideo­lo­gi­schen An­schauungen? Wen schart er im inne­ren Macht­appa­rat um sich? Wer ist also dieser Putin? Was treibt ihn an?

Spulen wir zurück. Es ist der 31. Dezem­ber 1999. Der letzte Tag des Jahr­tausends. Boris Jelzin, der erste Prä­si­dent der Rus­si­schen Föde­ra­tion, tritt über­raschend zu­rück. Nie­mand hatte damit ge­rech­net. Aber Jelzin - und seine Entou­rage, be­kannt als "die Fami­lie" - ver­fol­gen einen Plan. Jelzin über­gibt die Prä­si­dent­schaft ver­fas­sungs­gemäß an den Minis­ter­prä­si­denten, an Wladimir Putin, der zu diesem Zeit­punkt noch keine fünf Monate als Minis­ter­prä­si­dent amtiert. Putin ist tat­säch­lich ein "Mann ohne Ge­sicht". Ein un­be­schrie­benes Blatt. Sie glau­ben, ihn kon­trol­lie­ren zu kön­nen.

Jelzins Umfragewerte liegen im Keller. Er war in den 80er-Jahren der Un­ge­stümste der Re­former in der KPdSU, war Mos­kauer Par­tei­chef, gilt als der Demo­krat unter den Spitzen­kom­mu­nis­ten. Als die alte Garde ge­gen Michail Gor­bat­schow und seine Öffnungs­poli­tik putscht, ist es Jelzin, der den Um­sturz zum Schei­tern bringt. Die Sowjet­union löst sich auf, auch an der Peri­pherie Russ­lands be­gin­nen Ab­spal­tungen. Es sind die Jahre des chao­ti­schen Zer­falls an den Rän­dern, aber auch im Inne­ren. Die Wirt­schafts­leis­tung fällt, einige wer­den schnell reich.

Putin, zuvor als KGB-Mann in Dresden, landet als stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­meis­ter in Sankt Peters­burg, sei­ner Heimat­stadt, wo er am Stadt­rand, in Tra­ban­ten­städten, in einer Arme-Leute-Ge­gend auf­ge­wachsen ist. Der Bür­ger­meis­ter, Putins Chef, ist da­mals Ana­toli Sobt­schak, ein ehe­ma­li­ger Rechts­pro­fes­sor, der An­führer der Demo­kra­ten, der be­rühm­tes­te rus­sische pro-west­liche Re­former.

Er ist eine strahlende Figur, doch kein be­son­ders guter Or­ga­ni­sator, aber auch ein Trick­ser, der sich als Li­be­raler gibt und hinten­rum mit den al­ten Macht­ha­bern pak­tiert. Da­für hat er Putin, sei­nen Stell­ver­tre­ter, zu­stän­dig für alles, wo­für Sobt­schak kein be­son­deres Ta­lent hat. Putin ist Sobt­schaks "Fixer", der, der die Dinge er­ledigt.

Putin tut sich mit der Mafia zusammen, die da­mals den Großen Hafen in Sankt Peters­burg in der Hand hat. Putin ist mit sei­nen KGB-Leu­ten ver­bun­den, nutzt sein Netz­werk, zu­gleich schließt er Bünd­nis­se mit dem or­gani­sier­ten Ver­bre­chen. Es wird ein Muster.

Als Sobtschak später abgewählt wird, wech­selt Putin nach Mos­kau in den Kreml, auf einen Or­gani­sations­posten im Prä­si­den­ten­stab. Dort steigt er schnell auf. "Er war folg­sam wie ein Hünd­chen", be­rich­tet Ser gei Pugat­schow, da­mals im Kreml eine große Num­mer, in ei­nem Ge­spräch mit der Au­to­rin Catherine Belton.

Putin rückt zum stellvertretenden Stabs­chef auf, da­nach zum Chef des In­lands­ge­heim­dienstes FSB, des Nach­folgers des KGB. Als er Ministerpräsident wird, übernimmt sein Kumpan Nikolai Patruschew seinen Posten. Mit Putin holen sich die alten KGB-Seilschaften die Macht. Aber noch gilt Putin als Demo­krat und Libe­ra­ler. Immer­hin kommt er aus Sobt­schaks Stall. Und Sobt­schak war der Poster­boy der Demo­kra­ten.

Jelzin macht Putin zu seinem Nach­folger, um den Demo­kra­ten die Macht zu ret­ten. Denn ohne wag­hal­si­ges Ma­nö­ver hät­ten, so die Be­fürch­tung, Leute wie KP-Chef Sjuga­now, der Mos­kauer Bür­ger­meis­ter Lusch­kow oder der alte KP-Hau­degen Prima­kow die bes­ten Chan­cen auf einen Sieg bei der Prä­si­dent­schafts­wahl ge­habt. Die Jelzin-Leute hatten Angst, dass dann das Rad zu­rück­ge­dreht würde. Es ist ein Trep­pen­witz der Ge­schich­te: Putin wur­de in­stal­liert, um die Li­be­ralen zu ret­ten.

Was Putin und seine KGB-Truppe auszeichnet, ist mehrer­lei: List, die Fähig­keit, lang­fris­tige Pläne zu ver­fol­gen, und aus­rei­chen­de Bru­ta­li­tät.

Putin legt in einer Fernsehansprache und einem großen Essay - bekannt unter dem Titel "Millen­nium Bot­schaft" - zum Zeit­punkt sei­ner Amts­über­nahme 1999 seine Sicht dar. Russ­land ist als Macht ab­ge­stie­gen, spielt nicht ein­mal mehr eine zweit­sondern eine dritt­ran­gi­ge Rol­le, die Ord­nung im Staat ist zer­fallen.

"Es wird nicht so bald geschehen - falls es über­haupt jemals ge­schieht -, dass Russl­and eine zweite Aus­gabe von bei­spiels­weise den USA oder Groß­bri­tan­nien wird, deren libe­ra­le Werte tiefe his­to­ri­sche Tra­di­tionen haben", schreibt er. "Für Rus­sen ist ein star­ker Staat keine Ab­nor­ma­li­tät, die man los­wer­den will. Im Gegen­teil, sie sehen ihn als Quelle und Ga­rant der Ord­nung an und als Ini­tia­tor und haupt­säch­liche Trieb­kraft für je­den Wan­del."

Bereits 1993 hatte Putin keinen Hehl aus seinen Auffassungen gemacht. Da­mals hat­te das Neue Deutsch­­land, die ehe­ma­lige Tages­zei­tung der DDR-Staats­par­tei SED, über eine öffent­liche De­batte Fol­gen­des zu be­rich­ten gewusst:

"Wladimir Putin hat vor deutschen Wirt­schafts­ver­tretern deut­lich ge­macht, dass eine Mili­tär­dik­tatur nach chile­nischem Vor­bild die für Russ­land wün­schens­werte Lö­sung der ge­gen­wär­ti­gen po­li­ti­schen Pro­ble­me wäre. Er, Putin, bil­lige an­ge­sichts des schwie­ri­gen pri­vat­wirt­schaft­lichen Weges even­tuelle Vor­be­rei­tun­gen Jelzins und des Mili­tärs zur Her­bei­füh­rung einer Dik­ta­tur nach Pinochet-Vor­bild aus­drück­lich."

Es ist ein Kreis von Hardlinern aus den Sicher­heits­diensten, allen voran aus Putins KGB-Seil­schaf­ten, der nach dem Amts­an­tritt Putins zur Jahr­tausend­wende vor 22 Jahren die Ge­schicke im Kreml be­stimmt und die Macht suk­zes­sive kon­so­li­diert. Und am Aus­gangs­punkt von all­dem steht Krieg. Mit dem Krieg ge­gen Tschet­sche­nien, der ab­trün­ni­gen Pro­vinz im Nord­kau­ka­sus, be­gann Putins Macht­spiel.

Bombenanschläge in mehreren Wohnhaus­anlagen in Moskau am Be­ginn sei­nes Auf­stiegs im Herbst 1999 wurden tschet­sche­nischen Ter­ro­risten an­ge­lastet, und es ist nie völ­lig auf­ge­klärt wor­den, ob diese An­schlä­ge nicht vom KGB ins­zeniert wor­den waren, um eine Inter­ven­tion in Tschet­schenien zu recht­fertigen. Jeden­falls er­laubte der Tschet­schenien­krieg Putin, sich als coura­gier­ten und ent­schlos­senen Kriegs­herrn mit volks­tüm­li­cher Sprache zu prä­sen­tieren. "Wir werden sie in ihren Scheiß­häusern aus­räu­chern", er­klärte er.

Tschetschenien wird, wie das einmal eine Journalistin for­mu­lierte, zu einem "Schlacht­haus, das 24 Stunden am Tag in Betrieb ist".

Die "Oligarchen", also jene Freibeuter, die die Jahre der chaoti­schen Pri­va­ti­sierung ge­nützt hat­ten, ent­mach­tet Putin, be­son­ders jene, die unter Ver­dacht stehen, sie könnten in die Poli­tik oder auch nur in die öffent­liche Mei­nung ein­grei­fen wollen -sie gehen ins Exil oder landen im Straf­lager.

Die anderen dürfen ihr Vermögen behalten, wenn sie sein Primat akzeptieren.

Die neuen "Oligarchen" sind eigentlich keine mehr, sondern KGB-Funk­tio­näre, die an die Spitze von Staats­be­trieben plat­ziert wer­den und dort Putins kor­ruptes Sys­tem ab­sichern. Sie üben nur den Job des Oli­gar­chen aus, was nicht heißt, dass sie nicht Mil­li­ar­den auf die eige­nen Kon­ten ver­schie­ben dür­fen.

Die pluralistische, offene Gesellschaft? Sie wird in einem schlei­chen­den Putsch ab­ge­würgt. Dissi­denten und Mit­wisser wer­den ver­gif­tet, Oppo­si­tio­nelle auf of­fener Straße er­schos­sen, wie Boris Nemzow oder die legen­däre Journa­listin Anna Polit­kows­kaja, die 2006 in ihrem Trep­pen­haus ab­ge­knallt wird.

Wer im "System Putin" heute wirklich die Macht hat, weiß nie­mand so genau. Sicher ist nur: Da ist Niko­lai Patru­schew, der Chef des Natio­nalen Sicher­heits­rates, ein KGB-Mann, der seit bald 30 Jahren an Putins Seite agiert; da ist Sergei Nary­schkin, der Chef des Aus­lands­geheim­diens­tes, der aber vor dem Ein­marsch in die Ukraine bei einer ins­ze­nier­ten öffent­lichen Sitzung des Natio­nalen Sicher­heits­rates vor lau­fen­den TV-Kame­ras selbst von Putin lächer­lich ge­macht wurde; da ist Sergei Shoigu, der Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter; da ist Igor Set­schin, der schon in Sankt Peters­burg als Putins Sekre­tär ar­bei­tete, mit ihm dann in Jelzins Präsi­dial­kabi­nett über­sie­delte und nun das Öl­kon­glo­merat Ros­neft lei­tet, das nach der Bünde­lung von eins­ti­gen Oli­gar­chen-Fir­men zu ei­nem staat­lichen Mega-Kon­zern wurde.

Da ist Gazprom-Chef Alexei Miller, auch er aus Jelzins Sankt Peters­burger Seil­schaft - als Chef des Hoch­see­hafens war er ge­wisser­maßen Ver­bindungs­mann zur or­gani­sier­ten Kri­mi­na­li­tät. Da ist Putins Sprecher Dimitrij Peskow, längst mehr als ein Presse­sekre­tär -seit 22 Jahren steht er schon dem Auto­kraten zur Seite.

Die meisten aus dieser Seilschaft stammen aus dem Sankt Peters­burger Klüngel und aus den Sicher­heits­appa­ra­ten. Sie se­hen sich als "Out­sider" am Kreml-Par­kett, sind Pro­vinz­ler, die Mos­kau "über­nehmen". Sie sind leise, ent­schlos­sene Macher, die "die Poli­ti­ker" ver­achten.

Die Führungsfiguren aus KGB-und Sicherheits­appa­raten, die mit Putin ge­mein­sam an die Macht kamen, sind all­gemein als die "Siloviki" be­kannt, was so viel heißt wie "die Harten", die "harten Männer".

Allesamt sind sie radikale Konservative mit Schlag­seite Rich­tung Fa­schis­mus, die Russ­land als anti­west­liche Macht sehen, das Land als ideo­lo­gi­schen Ge­gen­spie­ler der libe­ralen, plura­len Geistes­welt des Westens. Patru­schew ver­tritt die anti­west­lichen Ideen noch be­geis­terter und durch­ge­knallter, als das Putin tut. "Vater und Mutter wer­den im Westen in Eltern Nummer eins und Eltern Nummer zwei um­be­nannt", fan­ta­siert Patru­schew schon einmal, "Kinder dürfen sich ihr Ge­schlecht aus­suchen und in man­chen Ge­gen­den ist man schon so weit, dass die Ehe mit Tieren legali­siert wird."

Wie genau die Machtfäden in diesem Netz laufen, weiß nie­mand so recht. Gelegent­lich ist von einem "One-Boy-Net­work" im Kreml die Rede, also einem Beziehungs­ge­flecht, in dem Putin das allei­nige Zen­trum ist, mit Fä­den zu den an­deren, aber ohne be­last­bare Fäden zwi­schen den an­deren.

Dass Putin von jemandem aus dieser Macht­clique ge­stürzt wird, ist un­wahr­schein­lich. Noch un­wahr­schein­licher scheint ein Volks­auf­stand. Nicht ein­mal ein logi­scher Nach­fol­ger ist in Sicht -und das, ob­wohl Putin im Herbst 70 Jahre alt wird und zumin­dest äußer­lich ra­pi­de altert. Jeden­falls sieht er sicht­lich un­ge­sund aus.

"In Russlands Geschichte während des 20. Jahr­hunderts hat­ten wir die unter­schied­lichsten Peri­oden", hatte Boris Jelzin Mitte der 90er-Jahre in einem hell­sich­tigen Moment er­klärt. "Monarchis­mus, Totalitari­smus, Peres­troika, und, schließ­lich, den demo­kra­ti­schen Ent­wick­lungs­weg. Jede dieser Etap­pen", be­merkte Jelzin, "hatte ihre eigene Ideo­logie. [] Aber jetzt haben wir keine."

Vom ersten Tag der Herrschaft an konso­li­diert die Putin-Trup­pe nicht nur den Griff über das Land, sie ent­wickelt auch eine neue "Staats­ideo­lo­gie". Was Putin in sei­ner Millen­niums-Bot­schaft schon an­legte, wird im­mer mehr radi­kali­siert. Vier Kom­po­nen­ten hat diese Ideo­lo­gie: ers­tens die Idee von der "sou­veränen Demo­kra­tie", also einer ge­lenk­ten Schein­demo­kra­tie, in der ein star­ker Ein­ziger an der Spitze steht - der An­führer, Prä­si­dent, Zar.

Das zweite Element ist Patriotismus ver­bunden mit Volks­tüm­lich­keit. Das "Narod", ver­stan­den als "ein­faches Volk", mit sei­nem ge­sun­den Patrio­tis­mus.

Drittens: Territorium, das Reich, das Imperium des russi­schen Viel­völker­staates. 2005 be­zeich­net Putin den Zu­sammen­bruch der Sowjet­union als "die größte geo­po­li­ti­sche Katas­trophe" des 20. Jahr­hunderts. Min­des­tens Belarus, Geor­gien und vor allem die Ukraine werden als his­to­ri­scher Teil einer "Russkyj Mir", der "russi­schen Welt", ver­standen.

Das vierte Element dieser neuen imperialen Staatsidee ist ein Kon­ser­va­ti­vis­mus, der die Wer­te und die Spiri­tua­li­tät des "Narod" hoch­hält und eng mit der christ­lich­ortho­doxen Kir­che ver­bunden ist.

Und über all dem liegt, gewissermaßen als Guss, ein Gefühl der aggres­si­ven Ge­kränkt­heit. Putin, for­mu­liert der Slawist Riccardo Nicolosi, be­schreibt Russ­land als ein Volk der "Er­nied­rig­ten und Be­lei­dig­ten", er model­liere in seiner Rhe­torik Russ­land "als ein zu­tiefst ge­kränk­tes Land, das vom Westen wieder­holt be­leidigt und be­tro­gen worden sei".

2014, nach der Annexion der Krim, sagt Putin: "Wir wurden ein ums andere Mal be­trogen. Aber alles hat seine Grenzen."

Bei der Ausformulierung dieser Staatsphilosophie greift Putin auf reak­tio­näre Den­ker wie Iwan Iljin zu­rück, der in den 20er-Jahren von Lenin ins Exil ge­trie­ben und zu einem Bewun­derer Musso­linis und Hitlers wurde. "Putins Philo­soph eines russi­schen Fa­schis­mus", nennt ihn der His­to­ri­ker Timothy Snyder. Der Fa­schis­mus habe "ein ret­ten­des Über­maß an patrio­ti­scher Will­kür", attes­tiert Iljin -und er meint das po­si­tiv.

Je kleiner der Kreis einer verschworenen Truppe ist, deren Ideo­logie von der Vor­stel­lung ge­tra­gen ist, dass Russ­land vom Westen über­rumpelt, ge­fähr­det und im Inneren von Intri­ganten und Separa­ti­sten be­droht ist, umso größer kann auch die Paranoia sein, in die sich ein immer kleiner werden­des Küchen­kabi­nett selbst hinein­schraubt.

Dass Putin seit Jahren nur von Jasagern umgeben ist, neben seiner höf­lichen Seite auch eine sehr jäh­zor­nige Ader hat und die Speichel­leckerei ge­nießt, ist all­ge­mein be­kannt. "Irgend­wann stieg ihm das zu Kopf", meint Sergei Pugat­schow. Leute hiel­ten Toasts auf Putin mit Wen­dungen wie "du bist ein Geschenk Gottes", wundert sich Pugat­schow, "und er genoss das richtig­gehend".

Über Jahre hinweg gelingt es Putin und seiner Truppe, viele zu täu­schen und zu ver­wir­ren, da sie eine Art "post­moder­ne Dik­ta­tur" ent­wickeln. Sie ent­fachen einen Nebel, trom­meln eine Staats­ideo­logie, ver­sehen sie aber regel­mäßig mit einem Augen­zwinkern.

Eine Schlüsselrolle nimmt darin Wladislaw Surkow ein, ein ver­krach­ter Künstler und Theater­mann, aber auch ein genia­ler Krea­tiver, der als "Er­fin­der der russi­schen PR" und als "graue Emi­nenz" des Kremls be­zeich­net wurde. Sur­kow hört Punk­musik und Rap, schreibt Song­texte und model­liert das Image von Putin. Über lange Jahre ist er Vize­chef der Kreml-Ver­waltung und so etwas wie der oberste Spin­dok­tor, der ganz be­geis­tert ist von der Idee, man könne mit Spin­nen­netzen von Nar­ra­tiven die Öffent­lich­keit völlig mani­pu­lieren. "Ver­wir­ren ist das Ziel, Täu­schung ist Wahr­heit", schreibt er.

Er etabliert eine Wirklichkeit, in der sich niemand mehr aus­kennt, ist ein "Mario­net­ten­spieler", der das Land "aus der De­ka­denz Rich­tung Wahn­sinn treibt", so der bri­ti­sche TV-Jour­na­list Peter Pome­rant­sev, einer der besten Kenner dieses Sys­tems der Meinungs­mani­pu­lation: "Dies ist die Ge­sell­schaft, in der wir leben (eine Dikta­tur), aber wir be­trach­ten sie als eine Art Spiel."

Oppositionelle werden vergiftet und erschossen, der Anführer zu­gleich als "guter Dik­ta­tor" ins­ze­niert, die Des­po­tie senkt sich herab, und zu­gleich herrscht in der Kunst­welt ab­so­lute Frei­heit -solange nie­mandem auf die Zehen ge­tre­ten wird. Die Dik­ta­tur ist real, tut aber so, als wäre sie eine Show, eine Soap-Opera.

Über die Staatsmedien laufen nur mehr Fake News, bis ein­fach die to­tale Lüge herrscht, was zwar jeder weiß, aber nur zur Folge hat, dass jeder zynisch wird. Nichts ist ernst, am Ende aber doch töd­lich. Man redet den Men­schen ein, die Ukrainer er­morden sich ge­gen­seitig, und man inter­veniert, um ihnen Frie­den zu brin­gen. Zwei­fel säen, die Reali­tät als Simu­lakrum be­haup­ten, in der ja alles wahr sein kann, Lüge und Wahr­heit ein­fach nur gleich­wertige "Nar­rative".

Knapp vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe schlug die Nach­richt ein, Surkow, dieser wahr­schein­lich dämoni­schste Spin­doktor der Welt, sei von Putin unter Haus­arrest ge­stellt worden.

Putin spricht in einer Gossensprache, aber auch, um sich als "Normaler" zu positio­nieren, als harter Hund, als "einer von euch". Den Oli­gar­chen Oleg Deri­pas­ka nennt er schon ein­mal eine "Kaker­lake", er klopft Macho­sprüche, macht Ver­ge­walti­gungs-Witz­chen, Georgiens seiner­zeitigem Präsi­den­ten Michail Saakas­chwili droht er, er werde ihn "an den Eiern auf­hän­gen", und kri­ti­schen Jugend­lichen möge man "mit dem Knüp­pel eins über­ziehen", empfiehlt er.

Es ist stets spekulativ zu fragen, inwiefern die Struktur der Macht -also das "System", das eine Macht­clique eta­bliert -und die Per­sön­lich­keit, also indi­vi­duelle Charakter­züge des An­führers, auf­ein­ander ein­wir­ken. Offen­sicht­lich ist aber, wie per­fekt sie sich im Falle Putins er­gänzen. Putin ist routi­niert darin, eine freund­liche Miene auf­zu­setzen und zu­gleich Feinde zu ver­folgen. "Er ist ein klei­ner, rach­süch­ti­ger Mann", wie eine russi­sche Journa­lis­tin über ihn sagte.

Nur ganz selten blitzt das bei öffentlichen Auf­trit­ten auf, etwa bei Journalis­ten­fragen. Aber wenn, dann spürt man mit einem Mal den "un­ver­hoh­le­nen Hass" in Putin. Masha Gessen sagt: "Seine Freunde kannten ihn als jeman­den, der seinen Geg­nern fast die Augen aus­kratzte, wenn er wütend wurde."

Zahllose Episoden zeigen, mit welchem Vergnügen Putin "jeman­den vor Pub­li­kum demü­tigt", ohne die Stimme zu heben, wo­bei er eine kalte Ruhe aus­strahlt.

Ein Vertrauter aus jungen Tagen, dem Putin schon früh ent­hüllte, für den KGB zu ar­bei­ten, fragte sich immer wieder, was genau sein Be­kannter denn mache, was exakt seine Fähig­kei­ten seien. Irgend­wann merkte er, dass er nichts über Putin wusste. "Was kön­nen Sie?", fragte er Putin eines Tages. Der ant­wor­tete: "Ich bin ein Ex­perte für zwischen­mensch­liche Be­ziehungen."

Robert Misik in Falter 16/2022 vom 22.04.2022 (S. 11)

Posted by Wilfried Allé Sunday, May 1, 2022 11:31:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Putins Netz 

Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste

von Catherine Belton

ISBN: 9783749903283
Ausgabe: 1. Auflage
Erscheinungsdatum: 07.02.2022
Umfang: 704 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Format: Hardcover
Verlag: HarperCollins
Übersetzung: Elisabeth Schmalen, Johanna Wais
Preis: € 26,80
Lieferbar: ab April 2022

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Wem gehört Russland? – Über Putin und seine KGB-Seilschaften

»Ein herausragendes Buch über Putin und seine krimi­nel­len Kumpel. Lang er­war­tet und ab­so­lut le­sens­wert.«
The Sunday Times

Als Ende der 1980er-Jahre die Sowjetunion zu­sammen­brach, ahnte nie­mand, dass ein ehe­ma­liger KGB-Agent sich über Jahr­zehnte als russi­scher Prä­si­dent be­haup­ten würde. Doch ein Allein­herr­scher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich vor allem auf ein Netz­werk frü­herer KGB-Agen­ten, dessen Ein­fluss­nahme weit über Russ­land hinaus­reicht.
Catherine Belton, ehemalige Moskau­korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, hat mit zahl­rei­chen ehe­ma­li­gen Kreml-In­si­dern ge­spro­chen. Etwas, das bis­her ein­malig sein dürfte. Es sind Männer, deren Macht Putin zu groß wurde und die nun selbst vom Kreml »gejagt« werden.
Erbarmungslos beleuchtet sie ein mafiöses Geflecht aus Kon­trolle, Kor­rup­tion und Macht­be­sessen­heit, und das ge­fällt nicht allen Pro­ta­go­nisten.
Ihr Buch liest sich in all seiner Kom­plexi­tät so span­nend wie ein Agen­ten­thriller, doch vor allem ent­hüllt es, wie das Sys­tem Putin uns alle mehr be­trifft, als uns lieb ist. Span­nend, heraus­ra­gend, film­reif.

Nominiert als bestes Buch des Jahres von The Economist, Finan­cial Times, The New States­man und The Tele­graph
 
»Catherine Belton hat Männer zum Reden gebracht, bei denen man nicht un­be­dingt er­war­ten würde, dass sie reden wollen. Mit vie­len De­tails ent­wickelt sie ein leben­di­ges Bild der wirt­schaft­lichen und po­li­ti­schen Um­brüche, die Russ­land in den ver­gan­genen 30 Jahren er­lebt hat.«
Reinhard Veser, FAZ

»Dieses fesselnde, fundiert recher­chierte Buch ist wohl das Beste, das über Putin und die Men­schen um ihn herum ge­schrie­ben wurde. Viel­leicht so­gar das beste über das heu­ti­ge Russ­land.«
Peter Frankopan

»Sensationell ist ihr Einblick in die Struk­turen des KGB. Doku­men­tiert wird, wie sich die KGB-Führung be­reits zu Sowjet­zeiten auf das nächste Kapi­tel der russi­schen Ge­schich­te vor­be­rei­tete – basie­rend auf Ge­heim­dienst-Tra­di­tionen, die noch aus der Zaren­zeit stammten.«
John Kornblum, ehemaliger Botschafter der USA

»Schritt für Schritt seziert Belton Putins Auf­stieg und den Puti­nis­mus. Ihr Buch zeigt, wie Russ­lands Prä­si­dent in jeder Phase sei­ner Karri­ere die Metho­den, Kon­takte und Netz­werke des KGB in vollem Um­fang nutzte. Ihre Dar­stel­lung wird maß­gebend sein.«
 Anne Applebaum, The Atlantic

»Furchtlos und faszinierend. Das Buch liest sich stellen­weise wie ein John le Carré-Roman. Eine bahn­bre­chende und sorg­fäl­tig re­cher­chier­te Ana­to­mie des Putin-Re­gimes. Beltons Buch wirft ein Licht auf die Ge­fahren, die vom russi­schen Geld und Russ­lands Ein­fluss auf den Westen aus­gehen.«
Daniel Beer, The Guardian

»Bücher über das moderne Russland gibt es viele. Catherine Belton über­trifft sie alle. Ihr lang er­war­te­tes Buch ist das beste und wich­tig­ste über das heu­tige Russ­land.«
Edward Lucas, The Times 
 

FALTER-Rezension:

Putins Machtbasis: Geheimdienst, Kleptokratie

Die ehemalige Moskau-Korres­pon­dentin der Finan­cial Times, Catherine Belton, re­kons­truiert den Auf­stieg Wladimir Putins

Wladimir Putin hat nicht wenige Sympa­thi­santen unter west­eu­ro­päi­schen Linken, trotz seiner Unter­stüt­zung rechts­ex­tremer Par­teien. Sie sehen in ihm eine Bar­riere ge­gen die gren­zen­lose Ex­pan­sion der Nato und der USA. Eine Ana­ly­se seines Auf­stiegs unter der Schirm­herr­schaft des KGB vom un­be­deu­ten­den Agen­ten in Dres­den über das Kabi­nett des Peters­bur­ger Reform-Bür­ger­meis­ters bis zum Nach­fol­ger Boris Jelzins wirft ein neues Licht auf ihn.

Putin hat die chaotische neo­libe­rale Trans­for­ma­tion der russi­schen Wirt­schaft ge­stoppt, die so­zi­ale Gegen­sätze und eine gesetz­lose Oli­gar­chie er­zeugt hatte. Er hat dieses Sys­tem aber nur um­ge­lei­tet, die Oli­gar­chen in sei­nen Dienst ge­zwun­gen und seine eige­nen Leute be­rei­chert. Und er unter­wan­dert die libe­ralen Demo­kra­tien des Westens.

In ihrem sorgfältig recherchierten Buch zeigt die ehe­ma­li­ge Mos­kau-Korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, Catherine Belton, wie das alte KGB-Netz­werk durch Putin seine Macht­posi­tion zu­rück­er­obert hat. Frü­her als an­dere hatte der Geheim­dienst den Zu­sammen­bruch der Sowjet­union kom­men sehen und Mil­li­ar­den aus dem Land ge­schafft so­wie ein Netz­werk für die Zeit da­nach auf­ge­baut.

Detailliert zeichnet Belton nach, wie dieses Netz­werk die Macht zu­rück­er­obert und sei­nen Ein­fluss auf Fi­nanz-und Macht­zen­tren in Lon­don, New York und auch Wien aus­ge­baut hat. Die Vor­gangs­weise war skru­pel­los: un­lieb­same Wirt­schafts­ak­teure wur­den aus dem Weg ge­räumt, Unter­nehmen ent­eig­net und wie­der unter die großen Staats­kon­zerne ge­zwun­gen. Namen aus der Peters­bur­ger Unter­welt, derer sich der KGB schon zu Sowjet­zeiten be­dient hatte, tau­chen in den ak­tuel­len Fällen von Geld­wäsche, Kor­rup­tion und Mord­an­schlä­gen ge­gen Kri­ti­ker im Exil wie­der auf. Auch Wien bildet eine Kons­tante im kor­rum­pieren­den Ein­fluss auf west­liche Demo­kra­tien. Man denke nur an die Rolle eini­ger Ban­ken und Mittels­män­ner bei dubi­osen Geld­trans­fers bis hin zu den russi­schen Ver­sorgungs­posten für ehe­malige öster­rei­chi­sche Spitzen­poli­ti­ker diver­ser Par­teien.

Ursprünglich, schreibt Belton, habe sie nur die Über­nahme der Wirt­schaft durch Putins frü­here KGB-Kol­legen doku­men­tie­ren wollen. Ihre Recher­chen hätten aber einen noch be­un­ruhi­gen­deren Hinter­grund auf­ge­deckt: "Die Über­nahme der Wirt­schaft - und der Jus­tiz und des poli­ti­schen Sys­tems - durch die KGB-Kräfte führte zu einem Re­gime, in dem die Dollar-Mil­li­ar­den, die Putins Kum­panen zur Ver­fü­gung ste­hen, aktiv da­für ge­nützt wer­den, die Ins­ti­tu­tionen und Demo­kra­tien des Wes­tens zu unter­graben."

Die alte KGB-Taktik, liberale Gesellschaften durch Des­infor­mation, Korrup­tion von Poli­ti­kern und Unter­stüt­zung radi­ka­ler Or­ga­ni­sa­tionen zu de­stabili­sieren, er­lebe unter Putin eine Neu­auf­lage. Was perf­ekt zu sei­ner geo­po­li­ti­schen Stra­te­gie passt, die al­ten Ein­fluss­sphären mit Gewalt wieder­her­zu­stel­len. Die engli­sche Aus­gabe des Buchs er­schien 2020 und wurde als eine der am bes­ten doku­men­tier­ten Ana­ly­sen des Sys­tems Putin ge­priesen.

Ihre Stärke ist zugleich ihre Schwäche: Belton hat für ihre Re­cherche auch ehe­mals engste Ver­trau­te Putins inter­viewt. Sie haben pro­fundes In­sider­wissen und sich zu Putin-Kri­ti­kern ge­wan­delt, ten­dieren aber dazu, ihre eigene Rolle zu be­schönigen. Selbst wenn man Beltons These einer per­fekt ge­planten Zu­rück­er­obe­rung Russ­lands durch eine neue Klepto­kra­tie nicht teilt, bie­tet das Buch einen auf­schluss­rei­chen Ein­blick in die Macht­struk­turen unter Putin.

Franz Kössler in Falter 8/2022 vom 25.02.2022 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Sunday, February 27, 2022 4:11:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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